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BERICHT/081: Die Gäste der Wüste - bei nomadisierenden Familien der Westsahara (KRITISCHE Ökologie)


KRITISCHE Ökologie - Zeitschrift für Umwelt und Entwicklung
Nr. 72 Ausgabe 24 [1] - Sommer 2009

Die Gäste der Wüste
Besuch bei nomadisierenden Familien in den befreiten Gebieten der Westsahara

Von Judit Smajdli


Wir fahren durch eine weite, grenzenlose Ebene. Nichts weist darauf hin, dass wir uns entlang der politischen Grenzlinie zwischen Mauretanien und den befreiten Gebieten der Westsahara bewegen. Hier und da tauchen lediglich einige niedrige Büsche und vereinzelt stachelige Akazien auf. Die wenigen Pflanzen, die trotz ausbleibenden Regens, Wind und Wetter in dieser Region standhalten können, bieten die Hauptnahrungsquelle für die umherstreuenden Dromedare. Diese in den Wüsten Nordafrikas üblichen einhöckerigen Kamele [1], kommen seit vielen Jahren ausschließlich in domestizierter Form vor. Auch die Tiere, die unsere Geländewagen in sicherem Abstand passieren, sind Eigentum der Einheimischen. Trotzdem begegnen wir den Kamelen in kleinen, eher losen Gruppen, frei herumwandernd, ohne dass wir lange Zeit einen einzigen zugehörigen Hirten erblicken. Die Dromedare scheinen das Leben von wilden Tieren zu leben, werden aber dennoch von Hirten überwacht, die ihre Wanderungen verfolgen und steuern.


Die Fähigkeit der Nomaden ihre zahlreichen Tiere, wie einzelne Personen zu unterscheiden und ihre jeweiligen Eigenschaften zu kennen ist für das ungeübte Auge faszinierend. Zugleich staunt man über den ausgeprägten Orientierungssinn vieler Sahrauis. Eine Gabe, die überlebenswichtig sein kann in dieser Region. Als wir schließlich zwei Hirten in der Ferne erblicken, sind sie gerade dabei ihre Teekochstelle mit Sand zu bedecken. Unser Toyota kommt neben ihnen zum Stehen, es wird zu der langen, sahrauischen Begrüßungsformel angesetzt und das Feuer erneut entfacht. Sogleich gießt einer der beiden Männer die letzten Reste Kamelmilch aus einem gelben Kanister. Er vermischt die Milch mit Wasser und reichlich Zucker aus einem großen Plastiksack. Der so genannte zrig gehört gewöhnliche zu jedem Willkommensgruß. Eigentlich sind wir alle Reisende, wir mit unseren Geländefahrzeugen, die jungen Hirten auf ihren Kamelen. Doch in dem Moment, in dem wir an ihrem Rastplatz halten, begrüßen sie uns als Gäste der Wüste.


Eine kurze Reise, zahlreiche Erfahrungen

Neun Tage verbrachten wir in den befreiten Gebieten der Westsahara und legten hunderte von Kilometern zurück. Wir sahen archäologische Stätten, bestaunten Steingravuren und Felsmalereien. Abbildungen von Giraffen, Nashörnern und Straußen zeugen von den ehemaligen Bewohnern dieses Landstriches. Zugleich begegneten wir auch vielen Überbleibseln aus den Zeiten des Krieges zwischen Marokko und der FRENTE POLISARIO [2] (1975-1991); Reste von Raketen oder verbrannte Geländewagen, die in der inzwischen ruhig gewordenen Wüste den Elementen Sonne, Wind und Sand ausgesetzt sind.

Unsere Reise führte durch eine unerwartet abwechslungsreiche Landschaft. Obwohl man sich unter der Sahara zumeist eine mit gelben Sanddünen übersäte Region vorstellt, bewegten wir uns in Wirklichkeit zwischen trostloser Kieswüste und grün sprießenden Gebieten, überquerten blühende wadis [3] und salzige, unfruchtbare Regionen, fuhren entlang Bergketten aus unterschiedlichstem Gestein und kamen sogar an violetten Hängen vorbei, die in einem Meer von farbenprächtigen Strandfliedern schwammen.

Die Landschaft dieses Teils der Westsahara verändert sich nicht nur mit den gefahrenen Kilometern. Die ausschlaggebenden Veränderungen diktiert der Regen. Eine blühende Landschaft kann sich innerhalb von ein - zwei Jahren oder selbst innerhalb weniger Monate, in eine ausgedörrte Ebene verwandeln. Sobald jedoch eine regenreiche Periode folgt, sprießt erneut eine einladende Frühlingslandschaft. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um mehr über diese nur marginal erforschte Wüstenregion zu lernen. Vor allem um die Formen von Leben zu studieren, die sich in dieser wechselhaften Region ausgebildet haben. Und tatsächlich beheimatet das Gebiet auch eine ungeahnte Vielfalt an Lebewesen. Bei genauer Betrachtung erkennt man seltene Pflanzen und begegnet auch zahlreichen Tieren. Sie alle haben sich in vielfältiger Form ihrer Umwelt angepasst. Doch der vorliegende Artikel befasst sich mit den Lebensformen eines anderen Bewohners dieses Landstriches, des Menschen.

Die Fragen, die sich europäische Stadtbewohner zu den menschlichen Lebensgewohnheiten in der Wüste stellen, sind unendlich. Wie ernährt man sich, wie wohnt man, woher bekommt man Trinkwasser, wie werden Krankheiten geheilt, wie reinigt man sich, wie erhalten Kinder ihre Schulbildung? All diese Alltagspraktiken müssen anders bewältigt werden als man es etwa in Deutschland gewohnt ist. Wird man als Fremder schließlich in einem Nomadenzelt gastfreundlich empfangen und eingeladen sich auszuruhen, oder gar die Nacht zu verbringen, sehnt man sich umso mehr nach Antworten. Auch die Gastrolle wird von Kultur zu Kultur unterschiedlich definiert und selbst die bescheidene Intention nicht unangenehm aufzufallen, erfordert grundlegende Kenntnisse von lokalen Verhaltenskodizes. Glücklicherweise werden Freundlichkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und Höflichkeit überall honoriert. Doch welche Begrüßung ist angebracht? Wie verhält man sich gegenüber einzelnen Familienmitgliedern, Kindern, Frauen und Männern sowie älteren Menschen? Wie zeigt man Dankbarkeit oder Ehrfurcht? Wohin setzt man sich als Gast in einer hayma? [4] Wie verhält man sich beim Essen? Sind bestimmte Gesprächsthemen tabuisiert? Wo kann man in der Wüste seine alltäglichen Waschrituale verrichten; seine Zähne putzen, sich rasieren oder seine Notdurft verrichten?


Nomadismus in Zeiten von Krieg und Flucht

Die heutige Westsahara ist ein geteiltes Land. Ein 2700 km [5] langer militärisch bewachter Wall aus Sand und Erde zieht sich durch die ehemalige spanische Kolonie im Nordwesten des afrikanischen Kontinents und spaltet das Land in zwei ungleiche Gebiete. Die so genannte Schandmauer stellt die Grenze dar, zwischen einem rohstoffreichen "besetzen Territorium" im Westen [6], das marokkanischer Administration unterliegt und einem dünneren Streifen "befreiten Territorium" im Osten.

Letzteres unterliegt der Kontrolle der POLISARIO. Dabei handelt es sich um eine Wüstenlandschaft, welche erst bei ausreichend Regen zu blühen beginnt. Sobald die einzelnen Landstriche jedoch durch Regen befeuchtet wurden, locken die schnell florierenden Gebiete umherziehende Nomaden und ihre Ziegen- und Kamelherden, bieten ihnen Nahrung, Wasser und spenden wertvollen Schatten.

Seit je her folgen die sahrauischen und mauretanischen Nomaden, die sich in diesen Gebieten bewegen, den Wolken und dem Regen. In Symbiose mit der sesshaften Bevölkerung vermochten sie so bis in die Kolonialzeit hinein die weiten Flächen wirtschaftlich nachhaltig zu nutzen. Mit dem Krieg zwischen der POLISARIO und Marokko erfuhren die gewohnten Lebensumstände der Nomaden grundlegende Veränderungen und ihre Zahl nahm rapide ab. Sahrauische Männer zogen in den Krieg, Frauen flohen mit ihren Kindern sowie den Alten und Kranken nach Algerien, wo sie die bis heute bestehenden Flüchtlingslager errichteten. Hinter der schützenden Grenze Algeriens, nahe der Stadt Tindouf in einer sehr regenarmen und unwirtlichen Region, siedelte sich schließlich auch die Exilrepublik der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) an, die am 27. Februar 1976 ausgerufen wurde.

Der Bau der Mauer (1981-1987), dessen Umland stark vermint ist [7], stellte eine wichtige Wende dar, im Kräfteverhältnis des Krieges zwischen der POLISARIO und der marokkanischen Besatzungsmacht. 1991 wurde der UN-Friedensvertrag von beiden Parteien unterschrieben. Seit vielen Jahren gilt das befreite Territorium als friedlich. Doch wie jede neue Grenzziehung, die sich mitten durch nomadische Gebiete zieht, hat auch diese Mauer die gewohnte Mobilität und die geschaffenen Überlebensstrukturen der Einwohner stark geschädigt, zum Teil sogar für immer zerstört. Nur ein Bruchteil der Sahrauis blieb oder kehrte in die befreiten Gebiete zurück. Sie blieben in den Lagern in der stetigen Hoffnung bald in ihre Häuser und Geburtsorte heimkehren zu können. Die Vereinten Nationen versprachen die Durchführung des Referendums (das ihnen rechtlich zusteht [8]) und etablierten bereits 1991 die MINURSO [9]. Tatsächlich wurde den Sahrauis jedoch bis heute verweigert, über ihre Unabhängigkeit abzustimmen. Und so warten die Flüchtlinge in den Lagern in Algerien. Sie sitzen zwar nicht mehr auf gepackten Koffern und die algerischen Lager sind zur Heimat ihrer Kinder geworden - trotzdem warten sie ohne Ausnahme auf ihre Rückkehr.


Das befreite Territorium

In den befreiten Gebieten fehlt es an Infrastruktur. Die Verbindung zu den größeren Städten im Westen des Landes wurde durch die Mauer unterbrochen. Die Symbiose zwischen Nornaden und der sesshaften Bevölkerung konnte nicht aufrechterhalten werden. Anders als in den Lagern, existieren keine Schulen und auch keine flächendeckende gesundheitliche Versorgung. Es gibt keine asphaltierten Straßen. Man bewegt sich auf mal mehr, mal weniger sichtbaren Pisten. Zum Teil verlassen wir diese Pisten und fahren querfeldein, auf der Suche nach einer anderen "befahrenen Strecke" die irgendwo in der Ebene parallel verlaufen soll.

Unser Fahrer Taowalo wurde uns von der POLISARIO zur Verfügung gestellt. Gerne weist er auf seine Professionalität und seine langjährigen Erfahrungen als Führer und Fahrer hin. Und tatsächlich steuert Taowalo den Geländewagen sicher an spitzen Steinen vorbei und fängt die Unebenheiten des Grundes geschickt ab. Dank ihm beenden wir die lange, holperige Fahrt ohne Rückenschmerzen. Er orientiert sich an den Bergformen, die sich schwach am Horizont abbilden und an den sich abwechselnden Flusstälern, die wir passieren. Doch an Tagen mit starkem Wüstennebel oder Sandstürmen irren wir schließlich doch lange in der Ebene herum, müssen sogar mitten im weißen, dunstigen Nichts unser Zelt aufschlagen. Am nächsten Morgen orientieren sich unsere Fahrer erneut an für uns nicht ersichtlichen Anhaltspunkten und schlagen entschlossen eine Richtung ein.

Unser zweiter Begleitwagen hatte weniger Glück. Immer wieder mussten wir halten und einen Tee trinken, während Mehdi, der zweite Fahrer, im Handumdrehen den wüstenuntauglichen Reifen des Nissans wechselte. Beschlossen wir schließlich die Pause zugleich zum Mittagessen zu nutzen, tauschte er in Eile nicht nur den Reifen, sondern flickte sogleich den Geplatzten. Neben den beiden Geländewagen, die uns transportierten, vervollständigte ein offener Lastwagen unsere kleine Karawane. Er beförderte mehrere Dieselfässer und über hundert Liter Trinkwasser, Nahrung und unsere Zelte. Außerdem reisten noch einige Personen aus dem Lager oben auf der Fracht der Ladefläche. Wir ließen sie nach und nach bei Familienangehörigen oder Bekannten in der befreiten Zone zurück.

Die meisten Familien, die wir auf unserer Reise trafen kamen aus den Flüchtlingslagern. Nach ausreichenden Regenfällen, wie auch vor unserer Ankunft im Zemmour, einer nördlichen Region des befreiten Territoriums, machen sich seit einigen Jahren immer mehr Familien in den Lagern auf den Weg, um ein paar Monate in den kurzzeitig fruchtbaren Gegenden zu verbringen. Sie packen ihre Zelte und ihre Habseligkeiten sowie ausreichend Proviant und fahren los, fast wie in den Urlaub. Diese Familien besitzen in der Regel keine Kamele mehr. Sie hüten Ziegen, die sie von Nomaden vor Ort kaufen und ernähren sich hauptsächlich von Milch und Fleisch der Tiere sowie Produkten, die sie aus den Lagern mit sich führen. Im Reisegepäck befinden sich inzwischen auch technische Neuheiten wie etwa Solarplatten, mit denen mitten in der Wüste für elektrisches Licht gesorgt wird und die Akkus des Taschenradios oder des Satellitentelefons aufgeladen werden können. Mit Nachschub an Nahrung und Brennstoff versorgen sich viele aus den Flüchtlingslagern, von denen sich die Familien oft hunderte von Kilometern entfernen. Die Weide ist trotz Regen spärlich, so dass die Zelte wie kleine weiße Punkte weit verstreut in der Ebene liegen. Spätestens bei einsetzender Trockenheit kehren sie zusammen mit den Tieren in die Lager zurück.

Parallel zu den beschriebenen Tendenzen kann man jedoch auch die Entstehung von kleinen Siedlungen aus Lehm- und Metallhütten in den befreiten Gebieten beobachten, wie etwa von Buer Tirisit, wo wir selbst für Brennstoffnachschub sorgten oder in Tifariti wo sich ein Krankenhaus befindet und der Bau eines Bildungszentrums geplant wird. Diese Orte haben sich zu Handelszentren für die Menschen in den befreiten Gebieten entwickelt. Wir hatten das Glück einige nomadische Familien zu besuchen, die mit ihren Kamelherden in dem befreiten Territorium leben. Auch viele ihrer Verwandten wohnen in den Flüchtlingslagern. Nach dem Regen kommen sie mit den Kindern abwechselnd zu Besuch um ebenfalls einige Monate mit den Kamelen herumzuziehen und reichlich Milch zu trinken.


Das Leben in der Wüste

Alle von uns aufgesuchten Familien bewegen sich mit Geländewagen durch die Wüste. Mit besonderer Vorliebe nutzen sie alte Land Rover, deren robuste Bestandteile nicht so anfällig sind gegen Hitze und Sand, wie die Mehrheit der mechanischen und elektrischen Geräte. Auf der Suche nach einer bestimmten Familie, die in einer Region vermutet wird, hält man zunächst nach Menschen Ausschau. Die nomadischen Familien haben einen erstaunlich guten Überblick über ihre sich kilometerweit erstreckende, mobile Nachbarschaft und geben Auskunft darüber welche Pisten man in welche Himmelsrichtung einzuschlagen hat, welchem wadi man folgen sollte und hinter dem wievielten Berg man schließlich die besagte Familie antreffen wird. Selbst bei einem kurzen Halt vor einer Gruppe von Zelten um nach dem Weg zu Fragen wird stets ein Gefäß mit erfrischendem zrig an den Wagen gebracht und es werden Höflichkeiten ausgetauscht.

Zumeist trifft man 2 bis 4 Zelte nah bei einander an, die eine Einheit bilden. Manchmal liegt die nächste kleine Zeltgruppe von nahen Verwandten nur 15 bis 20 m weiter, aber trotzdem in einem gewissen Abstand. Die großen haymas sind sehr geräumig und man kann in ihrem Inneren aufrecht stehen. Sie sind viereckig, mit einem oder zwei Zeltpfosten in der Mitte, die die Dachplane spitz zulaufend stützen. Früher nutzte man aus Kamelhaaren gewebte Stoffbahnen, um die Zeltplanen der so genannten "Schwarzhaarzelte" herzustellen. Heute nähen die Frauen leichtere, mechanisch hergestellte Baumwollstoffe zusammen, wodurch die Zelte nicht nur leichter transportierbar, sondern auch heller und geräumiger sind. Dabei werden zum Teil die unterschiedlichsten Stoffreste zu einem Zelt verarbeitet, was zu farbenfrohen Resultaten führen kann. Allerdings kann die Allwettertauglichkeit dieser selbst genähten Stoffzelte nicht mit den traditionellen Schwarzhaarzelten mithalten.

Kleinere, flache Zelte, die mahmals, dienen als Küche und zur Lagerung der Kleidung und sonstiger Utensilien der Familie. Die größeren, spitzen haymas werden als Wohn-, Ess- und Schlafzimmer verwendet. Der Boden ist mit Teppichen ausgelegt und häufig befinden sich außer dem unverzichtbaren Teeset und einigen Kissen, um sich beim sitzen und liegen zu stützen, keine weiteren Gegenstände in dem Zelt. Die meisten besitzen Öffnungen in alle vier Himmelsrichtungen und häufig können auch die Seitenwände etwas angehoben werden, was für einen angenehmen Luftzug sorgt. Die Zelte werden mit viel Geschick und Routine in kurzer Zeit auf- und abgebaut. Für den Transport werden sie zusammengerollt.

Die Begrüßungsformeln der Sahrauis sind sehr förmlich und erfordern Geduld. Immer wieder fragt man nach dem Wohlergehen der Anwesenden sowie ihrer einzelnen Familienmitgliedern und dankt Gott für seine Güte und seinen Schutz. Es ist fast ein meditatives Begrüßungsritual, ohne viel Gestik, Mimik oder Emotionen. Die einzelnen Geschlechter geben sich nur untereinander die Hand, wobei nach der leichten Berührung der Hände diese zur Brust geführt werden. Das Verhalten von sahrauischen Frauen und Männern untereinander, wird durch zahlreiche Normen geregelt. So gebührt den Schwiegereltern und Onkeln sowie dem eigenen Vater besonderer Respekt. Von jungen Frauen wird erwartet in Anwesenheit dieser Respektpersonen besonders bescheiden und fleißig zu erscheinen; sie sollten sich z.B. nicht schminken, laut reden, tanzen oder Musik hören. Es ist empfehlenswert persönliche und intime Fragen in Anwesenheit beider Geschlechter zu vermeiden sowie Männer nicht über die Freizeitbeschäftigungen oder gar das Liebesleben ihrer weiblichen Verwandten zu befragen.

Die Sahrauis gelten dennoch keineswegs als prüde. Sie machen gerne mal "unanständige" Witze und Anspielungen und amüsieren sich auch mal über das Liebesleben anderer. Trotzdem werden bestimmte Tabus strikt eingehalten und Anspielungen nicht wahllos ausgetauscht. Frauen und Männer haben auch deshalb gerne ihren eigenen Bereich, wo viele moralische Schranken aufgehoben werden, und es ist üblich, dass man als Frau zu einem anderen Zelt geführt wird als die Männer. In einer reinen Frauenrunde wird man entsprechend ganz ungezwungen mit einer Reihe von persönlichen Fragen konfrontiert, etwa nach dem eigenen Ehemann oder Freund, Kinder und Familie. Auch essen Frauen und Männer bei genug Anwesenden getrennt von einander. Ausländerinnen und Ausländer werden jedoch von vielen Verhaltensregeln wohlwollend entbunden und einer europäischen Frau strecken etliche Männer ihre Hände zum Gruß entgegen sowie auch viele junge sahrauische Frauen ausländische Männer mit Händedruck begrüßen.

Die Sahrauis sind Muslime und die melhfe, das aus einer bunten Stoffbahn bestehende Frauengewand, in das sich alle sahrauische Frauen ohne Ausnahme kleiden, bedeckt auch ihre Haare. Doch die farbenfrohen, leichten melhfes stehen in Kontrast zu anderen islamischen Verschleierungen des weiblichen Körpers, wie etwa der burqa [10]. Vielmehr dient der sahrauische Körperschleier dem Schutz vor Hitze, Sonneneinstrahlung und Sand. Unter der melhfe wird zum Beispiel oft ein ärmelloses Oberteil getragen, so dass die nackten Arme bei bestimmten Tätigkeiten zum Vorschein kommen. Die Männer tragen westliche Kleidung. Alte Männer, vor allem ehemalige Würdenträger, sieht man zwar auch heute noch im Alltag in der traditionellen derraa [11]. Die jüngeren Generationen ziehen sie jedoch nur noch zu festlichen Anlässen an.

Unter Sahrauis ist es Brauch, dass man seine Gäste reichlich beschenkt und als weiblicher Gast wird man immer wieder in eine neue melhfe gekleidet. Entsprechend ist es eine schöne Geste Geschenke für die Gastgeber bei sich zu tragen. Doch das Schenken nimmt andere Formen an als man es in Europa gewohnt ist. Es entfallen die langen Danksagungen und Lobeshymnen auf die erhaltenen Gegenstände. Die Sahrauis nehmen Geschenke eher gleichgültig entgegen und legen sie schnell beiseite. Diese, für uns etwas überraschende Verhaltensform, strahlt Würde und Stolz aus und wird Anbetracht der auf Reziprozität basierenden Verwandtschaftsverhältnissen etwas verständlicher. Geben und Nehmen sind natürliche Vorgänge und bedürfen somit keinerlei Dramatik, wie wir sie in Europa gewohnt sind.

In dem Zelt kann man sich ohne Bedenken frei einen Platz wählen, um es sich auf dem Boden bequem zu machen. Eine Person nimmt zumeist gleich hinter der handlichen Feuerstelle namens megmar Platz und übernimmt die Zubereitung des Tees. Diese kann bis zu mehrere Stunden in Anspruch nehmen, also sollte man sich eine bequeme Position aussuchen. Viele Sahrauis setzten sich mit gekreuzten Beinen oder legen sich seitlich hin und stützen sich dabei auf einem Kissen. Entscheidet man sich in Anbetracht der Hitze im Laufe des Tages ein Nickerchen zu halten, wird das nicht als taktlos empfunden, sondern eher wohlwollend befürwortet. Schweigen ist ebenso wenig unhöflich, da eine rege Unterhaltung nicht immer das Ziel des Beisammenseins darstellt. Das Essen nimmt man in Gruppen zu sich. Bis zu etwa sieben Personen essen dabei aus einer großen, runden Emaille- oder Plastikplatte, üblicherweise gefüllt mit Couscous, Reis oder Nudeln sowie Fleisch und Gemüse oder Thunfisch aus der Dose. Als besondere Gäste werden wir immer wieder ausschließlich mit frischem Brot und reichlich Fleisch bewirtet, was sich langfristig belastend auf unsere Mägen auswirkte. Fleisch gilt jedoch als prestigeträchtiges Nahrungsmittel. Die Gerichte werden in einem robusten Topf namens marhen zubereitet und über der offenen Feuerstelle gekocht. Das Brot wird auf heißer Kohle und Asche im Sand gebacken, bedeckt durch einen Metallbehälter. Butter stellt man mithilfe der sekwa her, einem Ledersack aus Ziegenleder indem die Milch hin und her geschwenkt wird bis sich die Butter absetzt.

Wasser ist für viele Familien schwer zu beschaffen. Sie müssen häufig weite Strecken zurücklegen bis zum nächsten Brunnen. Das Wasser muss anschließend zum Trinken, Kochen, Spülen, Waschen und für die Reinigung der gesamten Familie ausreichen. Entsprechend behutsam wird es verwendet. Zum Händewaschen verwendet man farbenfrohe Plastikkannen und einen entsprechenden Eimer, ein Art mobiles Waschbecken. Mit Hilfe einer weiteren Person, die das Wasser gießt, können so Hände, Gesicht, Füße oder auch Haare über dem Plastikbecken gewaschen werden.

Die Sahrauis verwenden satt Zahnbürsten und Zahnpaste die dünnen Äste des Baumes atil [12]. Kaut man auf den als mswak bezeichneten Ästen, werden sie faserig und dienen der Zahnhygiene ähnlich der Zahnbürste. Zugleich beschränkt sich das Zähneputzen bei den Sahrauis nicht auf zweimal am Tag sondern ist eine gängige Praxis. Bei allen möglichen Anlässen und zu jeder Tageszeit trifft man Sahrauis mit dem mswak im Mund an. Zum Zähneputzen nach europäischem Gebrauch, sollte man ebenfalls das erwähnten Plastikbecken benutzen, oder sich einige Schritte von den Zelten entfernen. Auch wenn man seine Notdurft verrichten möchte, sollte man einen kleinen Spaziergang einplanen. In der Regel visiert man dabei einige Büsche, Bäume oder größere Steine an, hinter denen man sich vor der Sicht anderer schützt. Steht man in der Wüste auf einer ebenen Fläche ohne Erhebungen, entfernt man sich soweit von anderen Menschen, wie es die eigene Schamgrenze diktiert. Das kann schon eine Weile dauern.

Die Sahrauis unterschieden nicht zwischen einer Tages- und Nachtkleidung. Sie legen sich abends in ihren Kleidern schlafen und tauschen sie im Laufe des Tages. Es ist entspannter, wenn man solche Praktiken ebenfalls übernimmt, da in der Regel keine Räumlichkeiten vorhanden sind, die sich eignen, um sich vor dem Schlafengehen umzuziehen. Kinder und Erwachsene schlafen zusammen im selben Zelt. In manchen Fällen wird ein Tuch inmitten der hayma gespannt um einen Teil für die Frauen abzutrennen. Es ist nicht überraschend, wenn man als europäischer Stadtbewohner in einem sahrauischen Zelt die eigene Privatsphäre als eingeengt empfindet. Im Gegenzug dazu lassen die Weite der Landschaft sowie Alltagpflichten wie das Hüten der Ziegen die Isolation erkennen, die die hier lebenden Sahrauis erfahren. Während die älteren Menschen gerne die Flüchtlingslager verlassen um in den befreiten Gebieten zu leben, drängt es viele Jugendliche zurück zu ihren Freunden und Aktivitäten, die sie in den Lagern gewöhnt sind. Während der Monate, die Kinder und Jugendliche in den befreiten Gebieten verbringen, fehlen sie vom Schulunterricht.

Die Kinder der nomadischen Familie wachsen in der befreiten Zone auf. Im Falle einer der besuchten Familien werden sie in der hayma von einem männlichen Familienmitglied im Koran unterrichtet. Der Unterricht beinhaltet das Übertragen von Koranversen mit Tinte und Feder auf eine Holztafel. Manche Nomadenkinder besuchen später die weiterführende Schule in den Flüchtlingslagern oder in verschiedenen Provinzen Algeriens.


Kulturen im Wandel

Als die sahrauische Kulturministerin Hadija 2008 Deutschland besuchte und an einer Podiumsdiskussion zum Thema Westsahara in Würzburg teilnahm, äußerte sie ihre Bedenken betreffend der Zusammensetzung der internationalen Hilfsleistungen. Sie sprach jedoch nicht von der einseitigen internationalen Nahrungshilfe, den Mängeln bei der medizinischen Versorgung oder den Schwierigkeiten bei Entwicklungsprojekten, die die Abhängigkeit der Bevölkerung weiter vergrößern. Ganz im Gegenteil wies sie daraufhin, dass neben den Investition in Ernährung, medizinischen Verpflegung und Ausbildung ein Aspekt unverzeihlich vernachlässigt wurde: die sahrauische Kultur.

Unsere Reisegruppe setzte sich aus fünf deutschen Teilnehmern zusammen, zwei Zoologen, zwei Ethnologen und einem Zivildienstleistenden. Begleitet wurden wir von einem seit vielen Jahren in Leipzig lebenden Sahraui sowie Mitarbeitern des sahrauischen Ministeriums für Jugend und Sport, unseren Fahrern und zwei jungen sahrauischen Helfern. Mehrere unserer Begleiter waren noch nie zuvor in den befreiten Gebieten gewesen. Auch für sie barg unsere Reise viele neue Erfahrungen, die sie ohne die entsprechenden Mittel, nicht hätten machen können. Einige von ihnen ritten zusammen mit uns zum ersten Mal auf einem Dromedar. Andere wiederum hatten nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder die Möglichkeit dazu. Kulturen sind sich wandelnde Phänomene. Bedingt durch die Umstände ist die sahrauische Kultur besonders sensibel gegenüber Wandlungsprozessen. Während sich viele Bräuche in den Flüchtlingslagern von nomadischen Lebensformen ableiten lassen, wachsen sahrauische Kinder heute mit sehr wenig Bezug zu den ehemaligen Lebensumständen und dafür mit ganz neuen Einflüssen auf. Viele von ihnen lernen die Westsahara nicht kennen. Ihr Weltbild basiert auf ihren Erfahrungen in den Flüchtlingslagern, in Europa sowie in anderen arabischen Ländern oder in Kuba, je nachdem wo sie eine Ausbildung absolvieren. Der Verlust von wertvollen Kenntnissen und kulturellen Werten, die bei einer Rückkehr in die Westsahara von Nutzen sein können, kann durch diese Umstände beschleunigt werden. Unser Ziel ist es zusammen mit der sahrauischen Bevölkerung vorhandenes Wissen über das Leben und Überleben in der Westsahara zu sammeln und als Kulturerbe für die Zukunft und für die kommenden Generationen zu bewahren. Für junge Sahrauis sollen Möglichkeiten geschaffen werden, sich mit ihrer Kultur auseinander zu setzen. Der natürliche kulturelle Wandel birgt neue Praktiken und wirkt sich oft bereichernd aus, doch zugleich kann er auch Schätze der oralen Kultur, wie Gedichte, Redewendungen und Zungenbrecher sowie der materiellen Kultur, wie etwa Webkünste, Kenntnisse der Lederverarbeitung oder Praktiken der Kamelzucht und vieles mehr innerhalb kurzer Zeit für immer in Vergessenheit geraten lassen.


Anmerkungen

[1] Dromedare werden im Folgenden, wie in der Umgangssprache üblich, auch als Kamele bezeichnet. In der Region kommen nur Dromedare vor.

[2] Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Rio de Oro - militärische und politische Organisation der Sahrauis.

[3] "Trockenfluss" - ein Fluss, der nur zeitweise auch Wasser führt.

[4] Sahrauische Bezeichnung für spitzzulaufende Zelte.

[5] www.wikipedia.de, Stichwort: "Wall (Western Sahara)" gesichtet am 3.5.09 - Längenangaben weichen je nach Literatur stark ab (1200-2725 km).

[6] Besetzte Teile der Westsahara sind ausgesprochen reich an Ressourcen: Fisch (die 1.062 km lange Atlantikküste gehört zu den ergiebigsten Fischfanggebieten der Welt), große Phosphatvorräte, Eisenerz, Titaniumoxid, Vanadium, Eisen, Erdöl- und Erdgas
(http://www.geza.at/uploads/media/Politischer_Hintergrund_Westsahara_als_Infoblatt.pdf
- gesichtet am 5.5.09)

[7] für mehr Informationen:
http://www.icbl.org/lm/country/western_sahara - gesichtet am 5.5.09

[8] Vgl. Resolution 1514 (XV): "Declaration on granting independence to colonial countries and people" (United Nation, General Assembly, Official Records, Fifteenth Session, Supplement No. 16, pp. 66-67.
http://daccessdds.un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NRO/152/88/IMG/NR015288.pdf?OpenElement
veröffentlicht auf www.un.org/depts/dpi/decolonization/main - gesichtet am 5.5.09)

[9] United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara
(www.un.org/Depts/dpko/missions/Minuso)

[10] Weibliches Kleidungsstück zur vollständigen Verschleierung des Körpers, getragen z.B. in Afghanistan und Pakistan.

[11] Männliches Obergewand, zumeist aus weißem oder blauen Stoff, an der Halsöffnung mit Stickereien verziert.

[12] Maerua crassifolia - BARRERA MARTINEZ et al. 2007: Sahara Occidental - Plantas y Usos. Madrid.


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Quelle:
Kritische Ökologie, Nr. 72 Ausgabe 24 [1] Sommer 2009, S. 16 - 25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2009