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PSYCHO/034: ... und tief ist sein Schein (34) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Man hatte Preacher nach der Behandlung vorläufig in ein Einzelzimmer verlegt. Sein Zustand war seitdem unverändert. Die Glieder schlaff wie die einer Puppe, lag er auf dem Bett, den unfokussierten Blick ins Weite gerichtet. Mit der Kontrolle über seine Körpermotorik hatte er auch die Fähigkeit zu sprechen eingebüßt. Bisher war es keinem der Ärzte oder Pfleger, die für ihn zuständig waren, gelungen, ihn zu irgendeiner Reaktion zu bewegen.

Zwei rote Male an den Schläfen markierten noch die Stellen, an denen der Strom in sein Gehirn eingedrungen war. Ansonsten hatte neben Dr. Kalwin auch Dr. Beck keine organischen Schäden als Folge der Behandlung bei ihm feststellen können. Doch das war nicht weiter von Bedeutung. Niemand konnte ausschließen, daß Preacher für den Rest seines Lebens in dem gegenwärtigen, wachkomaähnlichen Zustand bleiben würde.

Wie jeden Vormittag betrat Dr. Kalwin auch heute wieder das spärlich möblierte Krankenzimmer, um zu sehen, ob es Anzeichen einer Besserung von Preachers Zustand gab. Und wie jeden Tag, wenn er zur Visite in dieses Zimmer kam, fühlte er sich verkrampft und unbehaglich. Das lag nicht an dem wenig erbaulichen Anblick des Kranken, dem meist ein feiner Speichelfaden aus dem Mundwinkel rann und dessen ausdruckslose Gesichtszüge und ungewöhnlich flache Atmung ihn für den Arzt fast wie einen Toten erscheinen ließen. An solche Äußerlichkeiten war Dr. Kalwin gewöhnt und bei Preacher berührten sie ihn besonders wenig. Das Risiko, diesem Patienten durch seine Behandlung irreversible Schäden zuzufügen, war er bewußt eingegangen. Stillschweigend hatte er an ihm ein Experiment durchgeführt, das wegen seiner Gefährlichkeit niemals offiziell genehmigt worden wäre.

Daß er Preacher einmal um Hilfe gebeten hatte und auf verletzende Weise abgewiesen worden war, genügte ihm vollkommmen als Grund, diesen unliebsamen Zeugen seiner Schwäche zum Opfer seines Forschungsdranges zu machen. Selbst die Möglichkeit, daß Preacher das Bewußtsein niemals wiedererlangte, würde Dr. Kalwin nicht belasten. Die Wissenschaft forderte eben ihre Opfer und wer auf Station E angelangt war, konnte ohnehin nicht mehr als vollwertiger Mensch betrachtet werden.

Das Unbehagen, das Dr. Kalwin in diesem Raum stets überkam, gründete demnach auf etwas anderem. Vielleicht waren es sogar Preachers Augen. Sie verhinderten, daß er auch nur für einen kurzen Moment jene Genugtuung empfand, die ihm die Wehrlosigkeit seines Opfers verschaffen könnte. Sobald er in Preachers Augen sah, ahnte er, daß dieser Geist allen neurologischen Befunden zum Trotz nicht gebrochen war. Wie zwei dunkle Strudel schienen sie ihn jedesmal in eine Tiefe hinabziehen zu wollen, in der sein Verstand aufgelöst wurde wie ein Körnchen Salz.

Dr. Kalwin vermied es, in Preachers Augen zu sehen. Es nützte nichts, wenn er sich immer wieder in Erinnerung rief, daß er ihn gar nicht wahrnehmen konnte. Irgend etwas jenseits des Rationalen war in diesen Augen präsent, etwas, das keiner Worte und auch keiner Gedanken bedurfte, um unvermeidbar zu sein.

Zum ersten Mal, seit er Preacher in diesem Zustand daliegen sah, durchzuckte Dr. Kalwin der Gedanke, er habe Preacher entgegen allem Anschein nicht wirklich schaden können. Was er äußerlich bewirkt hatte, erschien ihm auf einmal unwesentlich. Und das Wesentliche, das er instinktiv zunichte machen wollte - auch um den Preis einer zerebralen Verwüstung -, war nach dem Eingriff eher stärker geworden, hatte sich auf sonderbare Weise konzentriert. Dr. Kalwin zweifelte in diesem Augenblich nicht daran, daß Preachers Blick, schlüge man ihm den Kopf ab, trotzdem derselbe bleiben würde: ungebrochen und abgrundtief. Über die eigenen abstrusen Gedanken den Kopf schüttelnd, verließ er schließlich das Krankenzimmer. Seiner sonst so lässig- souveränen Haltung haftete in diesem Augenblick etwas Fahriges, fast schon Desorientiertes an.


*


Viola hatte sich unter einem Vorwand zu Dr. Beck begeben, um von ihm zu erfahren, wie es um Preacher stand. Durch die Äußerungen von Kaminsky und seinem Kollegen war sie bereits auf das Schlimmste gefaßt und konnte daher Dr. Becks niederschmetternde Auskunft äußerlich ruhig zur Kenntnis nehmen.

"Mit jedem Tag, an dem sein Zustand sich nicht bessert, wird die Wahrscheinlichkeit geringer, daß es überhaupt noch zu einer Veränderung kommt", sagte ihr der junge Neurologe. "Wenn Sie mich fragen", fügte er mit einem für ihn ganz untypischen Zynismus hinzu, "bekommen wir von ihm keine Weisheiten mehr zu hören."

"Wird man Dr. Kalwin dafür zur Rechenschaft ziehen?" gab Viola sich sachlich.

"Ach was", winkte Dr. Beck ab, während er eine Computertomographie in Augenschein nahm. "Zum einen gibt es keine physisch nachweisbare Schädigung", er legte die Tomographie in die Mappe zurück, "und zum anderen hat sich nach diesem Patienten noch nie jemand erkundigt. Es wird also alles seinen gewohnten Gang gehen."

Dr. Beck warf einen flüchtigen Blick zur Uhr. "Da Dr. Kalwin bis heute nachmittag auf einer Tagung ist, muß ich seine Visite übernehmen. Ich bin daher leider etwas in Zeitnot", gestand er Viola beinah verlegen, schlug dann aber vor, daß sie ihn noch ein Stück begleiten könne. Nur zu gern ging Viola auf diesen Vorschlag ein. Während sie an der Seite von Dr. Beck den Flur entlangging, fragte sie ihn einige allgemeine Dinge über die Elektroschockbehandlung und stellte sich ihm gegenüber schwankend, ob man diese Methode verbessern oder verdammen sollte. Sie wußte, daß Dr. Beck Elektroschocks ablehnte, aber um seiner Karriere willen seine Meinung darüber weitgehend für sich behielt. Doch zu Violas Glück konnte er diesmal nicht widerstehen, ihr die Folgen einer solchen Behandlung veranschaulichen zu wollen. Als sie bei den Krankenzimmern mit den schweren Pflegefällen angelangt waren, blieb er vor der Tür stehen, hinter der sich Preachers Zimmer befand.

"Sie sollten es sich vielleicht einmal selbst ansehen", meinte er zögernd. "Der eigene Eindruck ist immer noch der nachhaltigste."

"Der Meinung bin ich auch", bestätigte Viola hastig. "Dann weiß man wenigstens, wovon man spricht."

Etwas beklommen folgte sie Dr. Beck in den hellen, kargen Raum. Der Eindruck einer zugleich sanften und undurchdringlichen Dichte ließ sie zunächst reglos verharren. Noch bevor sie durch Preachers Anblick verunsichert werden konnte, wußte sie, daß es Dr. Kalwin nicht gelungen war, seinen Geist zu brechen. Seine Präsenz stand für sie in diesem Moment völlig außer Frage und erfüllte sie mit soviel freudiger Erleichterung, daß sie Dr. Beck um ein Haar strahlend angelächelt hätte. Erst im letzten Augenblick besann sie sich darauf, wie abgebrüht sie dem Arzt dadurch vorgekommen wäre.

Auch Dr. Beck nahm unbewußt wahr, daß es in diesem Raum etwas Unumgängliches gab, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Anders als Viola reagierte er darauf, indem er unbehaglich die Schultern hochzog und nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

Erst nachdem er Preacher in die Augen geleuchtet hatte und sein Stetoskop nahm, um das Herz des Patienten abzuhören, konnte Viola Preachers Gesicht sehen. Es wirkte auf seltsame Weise identitätslos. Viola wurde sich auf einmal der Absurdität bewußt, daß normalerweise deutlich hervortretende Gesichtszüge eines Menschen als Zeichen für Mut und Entschlußkraft galten. Ihr wurde klar, daß solche markanten Linien nichts anderes als Verkrampfungen der Gesichtsmuskulatur, also Spuren von Einengung und verlorener Beweglichkeit waren. Vor gar nicht langer Zeit hätte auch sie Preachers Gesicht als erschreckend leer empfunden. Jetzt empfand sie es als in einem höchst lebendigen Sinne entpersönlicht.


*


Als Viola mit Dr. Beck das Zimmer verließ, deutete er ihr Schweigen falsch und sagte tröstend: "Kein schöner Anblick, ich weiß", um sogleich fortzufahren: "aber so kann das Ergebnis einer Elektroschockbehandlung aussehen. Vielleicht gelingt es Ihnen, Dr. Kalwin vom unverantwortbaren Risiko dieser Methode zu überzeugen."

"Weshalb mir?" entfuhr es Viola verwundert.

"Weil ich den Eindruck habe, daß er Sie ernst nimmt", erwiderte Dr. Beck einfach und fügte etwas leiser hinzu: "Was ich hinsichtlich meiner Person nicht gerade behaupten kann." Er lächelte kurz mit einem Anflug von Selbstironie, wünschte ihr einen guten Tag und war gleich darauf in seinem Dienstzimmer verschwunden.

Dr. Beck war demnach bereits aufgefallen, daß Dr. Kalwin sich ihr gegenüber ungewöhnlich respektvoll verhielt. Doch für wie lange? Bald würde sie zu seinem indirekten Antrag Stellung nehmen müssen, was selbstverständlich auf eine Ablehnung hinauslief. Und Ablehnungen konnte der selbstgefällige Stationschef schlecht vertragen.

Auch wenn Viola überzeugt war, daß ihre Verbindung zu Preacher letztlich nicht von räumlichen Entfernungen abhing, wollte sie ihm physisch so nah wie möglich sein. Doch wenn sie Dr. Kalwin erst einmal abgewiesen hatte, war sie für ihn nichts anderes als die unliebsame Erinnerung an eine Niederlage. Und er würde danach trachten, diese Erinnerung aus seinem Blickfeld zu entfernen.

Unwillkürlich mußte Viola daran denken, wie sie zum ersten Mal versucht hatte, sich Dr. Kalwins Interesse zu entziehen. Damals im Eiscafé hatten noch zwei scheußliche Rülpser genügt, seinen Eroberungseifer abzukühlen. Später hatte sie ihm gemeinsam mit ihrer Mutter die Heiratswütige vorgemimt und ihm die Jagd dadurch verleidet. Daß sein Interesse an ihr dann doch ernsthaft entbrannt war, hatte sie sich allein selbst zuzuschreiben. Und nun hätte sie viel darum gegeben, es auslöschen zu können, ein für alle Mal.


*


Daß Viola schließlich doch eine Lösung fand, war nicht ihr Verdienst. Und zunächst hatte sie der Vorschlag dermaßen schockiert, daß sie ihn rundheraus ablehnte. Doch schien es tatsächlich die einzige Möglichkeit zu sein, Dr. Kalwin eine intime Beziehung zu ihr endgültig zu verleiden, ohne seinen Groll zu erregen. Vielleicht würde er sich ihr gegenüber sogar schuldig fühlen.

Aber erst als sie sich vorstellte, wie Dr. Kalwin mit kaltem Blick einen Stromstoß nach dem anderen durch Preachers Körper schickte, war sie zornig genug, sich auf die häßliche und nicht minder riskante Inszenierung einzulassen. Denn ihr Verbündeter bei diesem Unterfangen hatte nichts zu verlieren und darüber hinaus eine boshafte Phantasie ...

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 25. Februar 1998

13. April 2007