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PSYCHO/027: ... und tief ist sein Schein (27) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola hatte zwei grauenvolle Wochen hinter sich. Das Wiederauftreten ihrer Krankheit war niederschmetternd für sie gewesen, aber die Tatsache, daß sie nun beinahe jeden Morgen feststellen mußte, sich im Schlaf beschmutzt zu haben, raubte ihr zunächst jeglichen Lebensmut. Dazu kam noch das unerträgliche Engegefühl, das sie in letzter Zeit plagte und sich zeitweilig bis zu einem diffusen, aber umso unangenehmeren Schmerzempfinden steigern konnte und sie selbst beim Fernsehen oder Lesen daran erinnerte, daß irgend etwas ganz und gar schief lief.

Eigentlich war Viola von Kindheit an daran gewöhnt, mit körperlichem Unbill so offensiv wie nur möglich umzugehen und sich nicht zu Hause zu vergraben. Doch eines hatte sie bisher davon abgehalten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen: Die Vorstellung, beim EEG im Labor mit Preacher allein zu sein, ihm möglicherweise in die Augen sehen zu müssen. Der Gedanke daran verursachte ihr eine derartige Beklommenheit, daß sie ihren Arbeitsantritt immer wieder hinausschob.

Schließlich war es einmal mehr ihre Mutter, die nach einem längeren Gespräch, bei dem Viola ihr die scheinbar grundlosen, seltsamen Empfindungen gegenüber einem der Patienten eingestand, einen einfachen Ausweg wußte. Nach einem vertraulichen Telefongespräch mit Dr. Beck, der für derartige Probleme sehr viel Verständnis zeigte, wurde Viola vorerst davon entlastet, die EEGs vom Patienten Karsten Lerche anzufertigen, und die Aufgabe vorübergehend einem jungen Assistenzarzt übertragen.

"Auch wenn es sich um bloße Projektion handelt, was Sie ja selbst bereits vermuten", hatte Dr. Beck tröstend zu Viola gesagt, "bekommen wir doch die Angelegenheit am leichtesten in den Griff, wenn Sie mit dem betreffenden Patienten eine Weile nicht konfrontiert werden. Schließlich sollen Sie sich körperlich erst einmal richtig erholen." Selbstverständlich wußte auch Dr. Beck nicht, weshalb Viola zwei Wochen lang der Arbeit ferngeblieben war.


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Die Einladung lag in Violas Briefkasten, als sie bereits wieder eine Arbeitswoche im Krankenhaus hinter sich hatte. Preacher war sie in dieser Zeit nicht ein einziges Mal begegnet, denn sie hatte sich darüber informiert, wann er zum EEG geholt wurde, und so war es ein leichtes für sie, einer Begegnung auszuweichen. Dr. Kalwin hatte man endlich als geheilt entlassen und aus diesem Anlaß lud er Viola zum Abendessen in das teuerste italienische Spezialitätenrestaurant am Orte ein.

Er freue sich sehr darauf, mit ihr ein paar Stunden zu verplaudern, hatte er neben ein paar anderen für ihn untypisch persönlichen Bemerkungen geschrieben, die Viola nach einigem Nachdenken dazu bewegten, die Einladung anzunehmen. Mit Dr. Kalwin schien tatsächlich eine Wandlung vor sich gegangen zu sein, so daß Viola trotz ihrer schlechten körperlichen Verfassung den ehrlichen Wunsch verspürte, ihn wiederzusehen.

Durch das, was er durchgemacht hatte, schien er ihr auf seltsame Weise nähergekommen zu sein. Er war gewiß nicht mehr der überhebliche, von seiner wie auch immer fantasierten Männlichkeit durchdrungene sieghafte Eroberer, sondern ein Mensch, der wußte, wie es sich anfühlt, schwach und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Und noch eines würde ihn die Verunstaltung seines Gesichtes durch den Ausschlag gelehrt haben: Wie sehr jener gewisse Blick schmerzen kann, der nichts anderes ausdrückt als Mitleid und Abscheu. Ohne sich darüber völlig im klaren zu sein, sah Viola in ihm eine Art Brücke zwischen ihrer nun wieder so harsch von der Normalität abgegrenzten Welt und jener gesellschaftlichen Bühne, auf der Empfindungen wie Unbeschwertheit, Sicherheit und Tatendrang selbstverständlich waren.


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Wie anders hätte dieser Abend verlaufen können, wenn sie wirklich gesund geworden wäre? Diese Frage drängte sich Viola immer wieder auf, als sie sich zum Ausgehen zurechtmachte. Ihr Kleid hatte sie so schlicht wie möglich gewählt, weil das noch am ehesten ihrer Stimmung entsprach. Doch als sie in den Spiegel blickte, schmeichelte das Ergebnis dennoch ihrer Eitelkeit. Trotz des Bewußtseins, eine attraktive Frau zu sein, wußte sie eines ganz genau: Die Nacht würde sie hier verbringen, in ihrem eigenen Zimmer, und allein. Statt sich nach bewundernden Blicken oder nach glaubwürdigen Komplimenten zu sehnen, würde sie im Stillen darauf hoffen, daß eine Situation entstand, in der es möglich sein würde, Dr. Kalwin gegenüber ihr gesundheitliches Problem zu erwähnen. Früher, als sie den Gedanken, eine nähere Beziehung zu ihm zu suchen, für weiblichen Masochismus gehalten hatte, war eine derartige Offenheit überflüssig gewesen, zumal sie geglaubt hatte, seine Einstellung zu kennen. Doch jetzt, nach seiner Krankheit, wollte sie gern wissen, woran sie bei ihm war.


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Nicht nur die Küche des Restaurants erwies sich als hervorragend, auch die gediegen-rustikale Ausstattung verströmte eine Atmosphäre, die jeden anspruchsvollen Gast zum Bleiben einladen mußte. Romantische Melodien bekannter italienischer Komponisten und die gedämpften Stimmen der durchweg elegant gekleideten Gäste an den Nachbartischen fügten sich für Viola zu einem Szenario, dessen elitäre Ausstrahlung ihr ein wenig das altvertraute Gefühl vermittelte, ein unbemerkter Fremdkörper zu sein. Dr. Kalwin hingegen schien vortrefflich in dieses Ambiente hineinzupassen. Entgegen ihrer ursprünglichen Erwartung hatte er als Nachwirkung seiner Krankheit nicht jene einfache Zugänglichkeit zurückbehalten, die sie bei ihrem Besuch in der Klinik zu sehen geglaubt hatte, sondern trotz seiner aufgeräumten Art nahm sie eine subtile Strenge an ihm wahr, die sie jedoch zunächst auf den Gewichtsverlust schob, den er ganz offensichtlich erlitten hatte. Er hatte ihr im Auto sogar schmunzelnd eingestanden, daß er in seine alten Anzüge erst wieder hineinwachsen müßte.

"Wie fühlt sich nun ein Arzt, nachdem er die Rolle des Patienten wieder abgestreift hat?" versuchte Viola nach einer angeregten und amüsanten Unterhaltung über die Vorzüge und Nachteile der italienischen Lebensart dem Gespräch eine ernsthaftere Richtung zu geben.

"Wie ein Phönix aus der Asche wäre wohl als Bild allzu abgedroschen und trifft den Kern Sache auch nicht", meinte Dr. Kalwin, während er nach einer passenderen Formulierung suchte. "Eher schon wie ein Falter, der sich endlich über all das Schlammig-Widerwärtige, Hilflos- Kriecherische, Primitiv-Kreatürliche seines Larvendaseins erhebt, um sich den Dingen des Lebens zuzuwenden, die aufwärtsstrebend und so klar und rein sind wie die Lüfte." Nach diesem für seine Sprechweise ungewohnt bildhaften Vortrag lehnte Dr. Kalwin sich zurück und prostete Viola zu, wie man eben jemandem zuprostet, dessen Zustimmung man sich sicher ist. Offensichtlich ahnte er nicht einmal, daß er gerade damit begonnen hatte, Viola eine Illusion zu zerstören, an der ihr mehr gelegen war, als sie sich eingestehen mochte.

"Sind Sie nicht der Ansicht, daß manche Krankheiten in gewisser Weise sogar das Leben bereichern können?" versuchte Viola, wenigstens noch ein Stückchen ihrer Traumwelt zu retten.

"Genau wie Hunger den Speiseplan dadurch bereichert, daß er irgendwann selbst einen angefaulten Kohlkopf zur Delikatesse werden läßt", zuckte Dr. Kalwin leichthin mit den Schultern. "Aber eine Frau wie Sie, Viola", bemerkte er dann, wobei er seinen Worten mit einem Augenzwinkern das Belehrende nahm, "sollte zumindest in ihrer Freizeit nicht so viel über Krankheiten sinnieren. Was meine letzte Episode diesbezüglich betrifft, so betrachte ich das Thema als glücklich abgeschlossen. Und wenn ich Ihnen heute abend gegenübersitze, kann ich meine Gedanken nur schwer in eine derart unerbauliche Richtung zwingen. Wie wäre es beispielsweise damit, wenn Sie mir erzählen, wie Sie sich Ihre Zukunft vorstellen? Ich glaube, entgegen der Gewohnheit Ihrer Geschlechtsgenossinnen haben Sie noch nicht sehr engagiert darüber nachgedacht, eine Familie zu gründen."

Viola fühlte sich auf einmal so ernüchtert, als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Glücklicherweise war sie sich dadurch wieder völlig im klaren darüber, daß es ihr Stationschef war, mit dem sie hier saß und mit dem sie irgendwie auskommen mußte, wenn ihr Arbeitsplatz ihr lieb war. Zum Glück blieb ihr eine direkte Erwiderung erspart, weil Dr. Kalwins Aufmerksamkeit auf den Nachbartisch gelenkt wurde.

Dort hatten sich einige Gäste erhoben, wobei sichtbar wurde, daß einer von ihnen auf einen Rollstuhl angewiesen war, den er nun mit großem Geschick zwischen den Tischen hindurchmanövrierte.

"Wo kann man eigentlich noch hingehen, ohne daß man durch solche Anblicke belästigt wird", kommentierte Dr. Kalwin unwillig das Geschehen. "Ich wäre auch nicht auf den Gedanken gekommen, mit meiner Gesichtsverzierung in einem Restaurant wie diesem hier in Erscheinung zu treten."

"Sie wußten aber, daß es sich in Ihrem Fall um eine vorübergehende Angelegenheit handelt", widersprach Viola ihm mit einer Mischung aus Enttäuschung und Empörung.

Und Dr. Kalwin sagte ihr unverblümt, was zu Hören sie schon die ganze Zeit befürchtet hatte: "Kaum etwas ist erbärmlicher als ein Kranker, der nicht einsehen will, daß die Welt nun einmal den Gesunden gehört und er hintenan zu stehen hat."

"Und das sagen ausgerechnet Sie, nachdem Sie wochenlang beinahe so hilflos wie ein Säugling auf die Unterstützung des Pflegepersonals angewiesen waren?"

"Selbstverständlich", bestätigte Dr. Kalwin mit Nachdruck. "Denn jetzt bin ich ja gesund. Und genau das wollte ich mit Ihnen feiern."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 19. Dezember 1997

16. März 2007