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PSYCHO/008: ... und tief ist sein Schein ( 8) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Karsten Lerche wurde an einem strahlenden Maimorgen in einem schäbigen Hinterzimmer des Hafenviertels geboren. Er war das erste Kind seiner jungen Mutter, einer Prostituierten, und seine Geburt hatte ihr so wenig Schmerzen bereitet, daß sie fortan jeder Schwangeren empfahl, nach dem Einsetzen der Wehen unbedingt ein paar Opiumjoints zu rauchen.

Sie hätte eine ganz abgefahrene Vision von einem weißen Elefanten gehabt, hatte sie damals mit seligem Lächeln der wenig beeindruckten Hebamme gestanden, der es ungewöhnlich schwerfiel, ihr das schmächtige Kind, das jedoch für ein Neugeborenes selten klar und ruhig dreinblickte, in die bleichen Arme zu legen.

Weil Vera Lerche gar nicht in Erwägung zog, ihr derzeit recht einträgliches Gewerbe aufzugeben, wuchs Karsten unter der Obhut von Tunten, ständig übermüdeten Stripperinnen und lebensklugen Barfrauen im Schummerlicht der Kneipen und verwahrlosten Absteigen des Viertels heran. Besonders Swetlana, eine große, stämmige Weißrussin, die tagsüber eine Gruppe Catcherinnen trainierte, nahm sich seiner an, wenn seine Mutter schlief oder anschaffen ging.

"Ihren Sohn hat Vera nicht von einem Kerl", pflegte sie mit ihrer dröhnenden Kommandostimme zu verkünden, "den hat sie sich mit einem Joint selbst gemacht. Kein Wunder also, wenn der Kleine von Geburt an stoned ist." Sie spielte damit auf Karstens Lächeln an, von dem sie ganz und gar bezaubert war, ohne zu verstehen, was es für ein kleines Kind in der Armut und dem Elend des Hafenviertels wohl zu lächeln gab. Karsten gegenüber konnte sie das Ausmaß ihrer Zuneigung nicht anders formulieren, als ihm gelegentlich mit ihrer großen kräftigen Hand über den Kopf zu fahren und zu sagen: "Wenn dir einer was will, Kleiner, dann brech ich dem jeden Knochen, so daß man ihn in einem Schuhkarton nach Hause schicken kann." Niemand zweifelte daran, daß es ihr völlig ernst damit war.

Obgleich Karsten sich auch als Zwölfjähriger noch nicht dazu überwinden konnte, in seinem Zimmer die Mücken totzuschlagen, hatte er, was andere anging, ein recht freimütiges Verhältnis zur Gewalt. Wenn ein besoffener Matrose mit einer zerschlagenen Bierflasche auf einen vermeintlichen Konkurrenten losging oder die Dealer an der Straßenecke ihre Stilette sprechen ließen, nahm er es mit demselben gelassenen Interesse hin, mit dem er auch die harte Arbeit der Catcherinnen beobachtete, die sich in ihrem muffigen Übungskeller unter Swetlanas wilden Flüchen gegenseitig keuchend auf die Matten knallten. Gerade diese seltsame Mischung aus dem Widerwillen, anderen Schmerzen zuzufügen und der Unfähigkeit zu verurteilen, wenn andere dies taten, trug Karsten den Ruf ein, psychisch nicht ganz normal zu sein. Was allerdings jene, die ihm nahestanden, keineswegs davon abhielt, weiterhin seiner unerklärlichen Anziehungskraft zu erliegen.

Auch als Karsten Lerche zwanzig Jahre alt war und wegen seiner oftmals seltsam anmutenden Äußerungen längst Preacher genannt wurde, hatte sein freundliches, zugewandtes Wesen noch keinerlei Schaden genommen. Im Gegenteil, seine einnehmende Art hatte noch an Wirksamkeit gewonnen. Es war mehr als nur Narrenfreiheit, daß Preacher sich Dinge erlauben konnte, die andere bestenfalls als Krüppel überlebt hätten.


*


Mit der Selbstverständlichkeit des Arglosen betrat Preacher das Stammlokal der "Luzifers Hammer", einer Motorradgang, die gegen Bares als Abrißunternehmen für Kneipen und Restaurants im Viertel fungierte, deren Besitzer der Meinung waren, schon genug Schutzgelder zu zahlen. War man nicht gerade Tourist in dieser Gegend, und solche sah man hier nur äußerst selten, dann war klar, daß man mit mehr als seiner Gesundheit spielte, wenn man als Nicht-Gangmitglied dieses Lokal betrat. Selbst wer Anschluß an die Gang suchte, mußte neben einigen anderen Bedingungen, die er zu erfüllen hatte, mindestens einen Totschlag glaubhaft vorweisen können, um überhaupt angehört zu werden.

Es war noch früher Abend und im Lokal hielten sich außer dem Wirt erst sieben oder acht Leute auf, als Preacher gemächlich zum Tresen schlenderte, sich auf einen Hocker setzte und von dem Wirt, der ihn nur finster anstarrte, ein Malzbier verlangte.

"Verpiß dich, du Spinner", fauchte der Wirt ihn an. "Wenn du unbedingt abkratzen willst, schmeiß dich draußen vor 'nen Laster, dann muß ich dein Gekröse hinterher nicht von den Wänden wischen."

Doch der Rote Ralle hatte Preacher bereits entdeckt und baute sich grinsend hinter ihm auf. "Ollie", sagte er tadelnd zu dem wohlbeleibten Wirt, "du willst uns doch nicht etwa den Spaß verderben. Gib dem Jungen mal was Anständiges zu Trinken, geht auf meine Rechnung." Er deutete auf eine der Flaschen, die hinter der Bar standen und legte Preacher dann den Arm um die Schulter, wobei deutlich sichtbar wurde, daß ihm an der linken Hand der Zeigefinger fehlte.

"Meine Mutti hat mir immer gesagt, ich soll nicht in der Nase bohren, aber ich hab nicht auf sie gehört", erklärte Ralle, dessen üppiges rotes Haar lang in den Nacken fiel, mit Blick auf seine verstümmelte Hand. "Na ja, irgendwie hat sie mir es dann doch abgewöhnt." Die anderen, die sich nach und nach um ihren Anführer geschart hatten, brachen in dröhnendes Gelächter aus.

Der Wirt stellte widerstrebend ein Wasserglas mit einer klaren Flüssigkeit vor Preacher hin. "Bei dem Spiritus kotzt der mir gleich alles voll", murmelte er mißgelaunt.

"Ollie, ich finde, du solltest endlich lernen, vorausschauender zu denken", erwiderte Ralle und klopfte Preacher kumpelhaft auf die Schulter. "Wir wollen doch schließlich nur, daß sein Kadaver nachher gut brennt."

"Der Typ schnallt nich, was los is", stellte Ripper, ein schmerbäuchiger Blonder ohne Schneidezähne, angesichts Preachers vollkommen entspannter Miene enttäuscht fest.

"Der merkt's schon noch früh genug", widersprach Tattoo, der für seine künstlerische Leidenschaft bekannt war, mit der er Leuten, die er nicht mochte, Muster in die Haut ritzte.

"Vielleicht sollten wir einmal nachsehen, ob seine Birne innen hohl ist", schlug ein anderer vor. "Wir könnten ihn dann als Stehlampe benutzen." Wieder ertönte gröhlendes Gelächter. Der Abend versprach amüsant zu werden. Nach und nach füllte sich das Lokal.

"Ich glaube", hub nun Ralle wieder an, "daß unser Freund hier sich gesagt hat, die da drinnen, das sind schlaue Jungs, da kann ich bestimmt was lernen. Und ich meine, recht hat er! Also wollen wir ihn nicht länger warten lassen." Er schaute grinsend in die Runde.

"Beginnen wir also mit Lektion A wie Arschgesicht, die den vielversprechenden Titel trägt: Der Gurgelpfeifer." Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung zog Ralle sein Messer aus dem Stiefel und setzte es Preacher an die Kehle. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Umstehenden. Doch Preachers Reaktion war enttäuschend. Er blieb so gelassen wie zuvor, obgleich Ralles rasiermesserscharfer Dolch seine Haut geritzt hatte und einige Tropfen Blut langsam in seinen Hemdkragen rannen. Ralle und seine Leute waren wider Willen beeindruckt.

"Töten", sagte Preacher in die plötzlich aufgekommene Stille hinein, "ist nicht dieses Sich-Ergehen in Unterscheidungen, dieses Sich-Ergehen in Gedankenbildern, dieses Sich-Ergehen in Lustempfindungen. Dein Messer wird mir die Kehle durchtrennen, das Leben wird aus mir entweichen, aber vom Töten hast du nichts begriffen."

"Beweis ihm doch das Gegenteil", forderte Ripper, der gleich den meisten anderen auf blutige Unterhaltung aus war. Aber Ralles Neugier war größer als sein Ärger darüber, daß der schmächtige Kerl sich scheinbar durch nichts beeindrucken ließ.

"Wenn du dich so gut auskennst", zog er das Messer von Preachers Kehle zurück, "dann darfst du mir jetzt ganz schnell verklickern, was ich deiner Meinung nach nicht kapiert hab'. Falls mir die Botschaft gefällt, ist dein Kursus für heute beendet. Wenn nicht, mußt du noch ein bißchen nachsitzen ..."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 25. März 1997

5. Januar 2007