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SCHADSTOFFE/057: Umweltchemikalien im Abwasser (Spiegel der Forschung Uni Gießen)


Spiegel der Forschung Nr. 1 - Mai/2011 Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen

Aus den Augen aus dem Sinn?
Umweltchemikalien im Abwasser

von Rolf-Alexander Düring, Marion Binder, Leonard Böhm, Michaela Busch, Christoph Hartwig und Sarah Mbaruk


Mit der Wasserspülung ab in den Kanal, aus den Augen aus dem Sinn. Die Kläranlage wird's schon richten, denkt man gerne. Ein Trugschluss, denn heute ist bekannt, dass insbesondere stabilere, persistente Chemikalien, wie Arznei- und Hygienemittel oder Kosmetika, die über die Kanalisation die Kläranlage erreichen, dort kaum oder gar nicht abgebaut werden. Mehr und mehr richtet sich das Augenmerk auf diese persistenten Verbindungen, die der Mensch "emittiert" und damit in die Umwelt entlässt. Dort entfalten diese so genannten "Umweltchemikalien" z. B. in den Oberflächengewässern Wirkungen, die für das jeweilige Ökosystem schädlich sein können. Eine mögliche direkte Gefahr für den Menschen, beispielsweise über den Gebrauch des Trinkwassers, wird kontrovers diskutiert. Vor dem Hintergrund der sehr geringen Konzentrationen dieser Stoffe ist aber derzeit nicht von einer akuten Belastung des Verbrauchers auszugehen.

Flußansicht mit Booten und dichtem Uferbewuchs - Foto: © Hiltrud Engels

Foto: © Hiltrud Engels

Um welche Stoffe, die über die Kanalisation zwar in die Kläranlage gelangen, dort aber nicht oder nur unzureichend abgebaut werden, handelt es sich denn? Hier kursieren verschiedene Begriffe: "Umweltchemikalien", "endokrin wirksame Stoffe", also Substanzen, die über das Hormonsystem Mensch und Tier und auch ihre Nachkommen schädigen können, "Xenoöstrogene" oder naturfremde Stoffe, die ähnlich wie das weibliche Sexualhormon wirken, oder auch "Pharmaceuticals and Personal Care Products" (PPCPs). All diesen Stoffen ist gemeinsam, dass der Mensch sie produziert und in die Umwelt bringt. Im Folgenden werden wir den Begriff "PPCPs" verwenden; dieser beinhaltet auch Umweltchemikalien, endokrin wirksame Stoffe und Xenoöstrogene.

Der Begriff PPCP bezieht sich auf Produkte, die vom Menschen für dessen Gesunderhaltung und Hygiene oder auch für kosmetische Zwecke eingesetzt werden. Leistungssteigernde und gesundheitsfördernde Stoffe in der Nutztierhaltung werden ebenfalls zu den PPCPs gezählt. Somit umfasst diese Stoffgruppe Tausende verschiedenster chemischer Substanzen aus Produkten des täglichen Gebrauchs. Darunter fallen verschreibungspflichtige und frei erhältliche Arzneimittel, Tierarzneimittel, Flammschutzmittel, Weichmacher aus Kunststoffen, UV-Filter aus Sonnenschutzmitteln oder Duftstoffe aus Kosmetika.

Die meisten dieser Wirkstoffe werden seit mehreren Jahrzehnten eingesetzt, sie wurden jedoch erst mit der Etablierung empfindlichster Nachweisverfahren in jüngerer Zeit für den Umweltanalytiker sichtbar. Die Fortschritte in diesen Technologien erlauben nun zu erforschen, welche Effekte in der Umwelt durch diese Substanzen hervorgerufen werden, bis hin zu den Auswirkungen auf den Menschen.


Woher kommen die PPCPs?

PPCPs treten in der Umwelt wahrscheinlich schon auf, seit der Mensch sie für die verschiedenen Anwendungen einsetzt. So werden z. B. Arzneimittel nicht vollständig vom Körper aufgenommen und metabolisiert; Anteile der Wirkstoffmenge werden wieder ausgeschieden und gelangen so in das Abwasser. Der Rückhalt dieser Stoffe in der Kläranlage ist häufig nur unvollständig, so dass sie mit dem Ablauf der Kläranlage in die Gewässersysteme eintreten.

Am Beispiel des mit bundesweit etwa 80 Tonnen jährlich verabreichten Wirkstoffs Carbamazepin zur Behandlung von Epilepsie soll hier das Ausmaß einer Belastung der Gewässer mit Arzneimitteln verdeutlicht werden: Für das Einzugsgebiet der Gießener Kläranlage haben wir ausgeschiedene Wirkstoffanteile einwohnerscharf kalkuliert. Hierbei stellte sich heraus, dass von der in einem bestimmten Zeitraum verschriebenen Menge des Carbamazepins nahezu 8% unverändert in die Kläranlage gelangen. Mit der Bestimmung der Wirkstoffgehalte an verschiedenen Prozessstufen der Kläranlage war es uns möglich, Eliminationsraten zu berechnen: Carbamazepin wurde in der Kläranlage kaum zurückgehalten, lediglich 9% der eingetragenen Arzneimittelmenge wurden eliminiert.

Neben der Ausscheidung ist jedoch auch die unsachgemäße Entsorgung von Medikamenten über die Toilette oder über den Abfluss von Waschbecken eine nennenswerte Ursache für erhöhte Konzentrationen im Abwasser. Nach einer Untersuchung des Frankfurter Instituts für sozial-ökonomische Forschung (ISOE) aus dem Jahr 2006 gelangen so etwa 16% (bei Tablettendarreichung) bzw. ca. 43% (bei flüssigen Arzneimitteln) der Medikamente direkt in die Kanalisation.

Aber auch die alltägliche Hygiene kann zu einer Belastung der Fließgewässer führen. Inhaltsstoffe von Reinigungsmitteln und Körperpflegeprodukten, wie die als Duftstoffe eingesetzten polyzyklischen Moschusverbindungen, gelangen über das häusliche Abwasser in Kläranlagen und Flüsse. Weitere Quellen für eine Umweltbelastung mit PPCPs können Abfalldeponien sein, die über ihr Sickerwasser Einträge in den Boden und in das Grundwasser verursachen können. Bei Deponien neueren Zuschnitts ist diese Gefahr aber eher als gering einzustufen, da diese über ein so genanntes "Multibarrierenkonzept" einen Kontakt des beseitigten Abfalls mit dem Grundwasser weitestgehend ausschließen.

Auch die Landwirtschaft ist eine Quelle für PPCPs: Tierarzneimittel, die über das Ausbringen der Gülle in den Boden gelangen, können von hier aus in den Wasserkreislauf eintreten. Je nach Persistenz dieser Tierarzneimittel können sich die Stoffe bei wiederholter Gülleausbringung auch im Boden anreichern.


Wie weist man PPCPs nach?

Da nahezu alle Substanzen aus der Gruppe der PPCPs im Gewässer in sehr geringen Konzentrationen vorliegen (ng/L-Bereich), können sie erst in den letzten Jahren dank des technologischen Fortschritts chemisch-analytisch sicher nachgewiesen und quantifiziert werden. Eine analytische Herausforderung ist nach wie vor darin zu sehen, dass die Substanzen, nach denen man sucht, bekannt sein müssen. So muss die verwendete Methode spezifisch auf die zu untersuchenden Stoffe angepasst und optimiert sein. Ein generelles Screening ist zwar denkbar, wird in der Umweltanalytik allerdings kaum eingesetzt, da der Aufwand extrem groß und die Aussagekraft der erhaltenen Daten zumeist gering ist.

Die Methode der Wahl ist, sich auf eine Reihe von Substanzen zu konzentrieren, bei denen eine besondere Umweltrelevanz theoretisch gegeben ist. Die Umweltbedeutung wird aufgrund der Verkaufszahlen und des Verhaltens (z. B. der Langlebigkeit) der Stoffe charakterisiert. Mit diesen Stoffdaten lassen sich erwartete Konzentrationen in der Umwelt berechnen (PEC: predicted environmental concentrations), ferner lässt sich ihre Umweltrelevanz im Rahmen einer Risikoabschätzung bewerten. Neue Erkenntnisse zum Verbleib und zu den Wirkungen sowie zu veränderten Verkaufszahlen sorgen für eine ständige Neubewertung dieser prioritären Substanzen. Eine Festlegung auf solche Substanzen kann studienbezogen vorgenommen werden, die EU-Gesetzgebung weist in der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie prioritäre Substanzen aber auch offiziell aus. Hier findet in der Regel eine Beschränkung auf Substanzen statt, die schon länger im Fokus der Diskussion stehen. Über einen Abgleich mit Referenzsubstanzen der ausgewählten Stoffe kann schließlich die quantitative Bestimmung des Vorkommens in der Umwelt vollzogen werden.

Erheblichen Einfluss auf das später gemessene Ergebnis hat der Prozess der Probenahme. Um die PPCP-Konzentrationen in der Umwelt zu ermitteln, müssen zunächst repräsentative Proben entnommen werden, die den Zustand des untersuchten Systems möglichst gut widerspiegeln. Bei Fließgewässern wird eine räumlich repräsentative Probenahme z. B. durch unterschiedliche Strömungsverhältnisse in Ufernähe und Flussmitte erschwert. Der zeitlichen Repräsentativität der Probenahme kann man durch verschiedene Strategien gerecht werden, bei denen auch das entnommene Probenvolumen eine große Rolle spielt.

Die einfachste Möglichkeit ist dabei die Entnahme einer einmaligen Stichprobe, deren Aussagekraft allerdings nur zufällig ist, da Konzentrationsschwankungen im Zeitverlauf nicht erfasst werden. Mit einer steigenden Anzahl geeigneter Stichproben kann man sich dem Ziel einer realistischen Abbildung des zu untersuchenden Systems jedoch nähern, die Probenahme kann dann z. B. in festen zeitlichen Intervallen erfolgen. Um jede Konzentrationsschwankung am Ort der Probenahme zu erfassen, ist jedoch eine kontinuierliche Probenahme notwendig. Sind die Volumenströme nicht konstant, wie z. B. am Kläranlagenablauf, empfiehlt es sich, das entnommene Probenvolumen proportional zur Abflussmenge zu wählen.

Abb. 1: Ibuprofen-Konzentrationen im Abwasser einer Klinik im Tagesverlauf - © Rolf-Alexander Düring et al.

Abb. 1: Ibuprofen-Konzentrationen im Abwasser einer Klinik im Tagesverlauf.
© Rolf-Alexander Düring et al.

Abbildung 1 zeigt den Tagesgang der Konzentration des Schmerzmittels Ibuprofen im Abwasser einer Klinik und verdeutlicht anhand der Konzentrationsschwankungen die Notwendigkeit repräsentativer Probenahmesysteme. In unserer Arbeitsgruppe wird an der praktischen Umsetzung von Probenahmestrategien gearbeitet, indem Systeme entwickelt werden, die kontinuierlich dem aktuellen Durchfluss entsprechend kleinste Anteile an Probe entnehmen und die Möglichkeit bieten sollen, erste Aufbereitungsschritte direkt vor Ort zu leisten.

Eine weitere Möglichkeit, Fehler und Ungenauigkeiten der Probenahme zu vermeiden, ist über verschiedene Verfahren der passiven Probenahme gegeben: Hier wird ein in eine durchlässige Membran eingebetteter Sammler in das zu untersuchende Gewässer eingebracht und dort für einen definierten Zeitraum belassen. Mit dieser Methode lässt sich auch die passive Aufnahme von Schadstoffen in aquatische Organismen simulieren. Die dann als Biomimetika bezeichneten Systeme tragen dem Sachverhalt Rechnung, dass nicht allein Wirkung und Konzentration eines Schadstoffs über seine Gefährlichkeit entscheiden, sondern vor allem seine Verfügbarkeit für die Organismen. Zielsubstanzen für eine passive Aufnahme sind vor allem lipophile Substanzen, also Substanzen mit einer Affinität zur Anreicherung im Fettgewebe, wie z. B. das als Weichmacher in Kunststoffen eingesetzte Phthalat DEHP.

Charakteristisch für diese Stoffe ist, dass sie in Wechselwirkung mit organischen Substanzen, wie z. B. Huminstoffen, treten, die sich im Wasser befinden. Diese Huminstoffe sind riesige Makromoleküle, die aus Abbauprozessen von pflanzlichem und tierischem Material stammen. Die Bindung der lipophilen Stoffe an diese organische Substanz ermöglicht u. a. den Ferntransport wasserunlöslicher und somit eigentlich immobiler Substanzen, kann aber auch die Verfügbarkeit von Schadstoffen für aquatische Organismen reduzieren.

Abb. 2: Konzentrationen des Weichmachers DEHP in Abhängigkeit des Gehalts an organischer Substanz - © Rolf-Alexander Düring et al.

Abb. 2: Konzentrationen des Weichmachers DEHP in Abhängigkeit des Gehalts an organischer Substanz (TOC: Total Organic Carbon).
© Rolf-Alexander Düring et al.

Die unterschiedliche Verfügbarkeit von PPCPs in Gewässern wird von uns über ein Mikroextraktionssystem (SPME: solid-phase microextraction) ermittelt. Mit diesem System sind wir in der Lage, von den Stoffkonzentrationen im Wasser den frei gelösten Anteil der Ziel-Substanzen zu ermitteln. Abbildung 2 zeigt, dass mit zunehmendem Gehalt an organischer Substanz der Anteil des frei gelösten, endokrin wirksamen DEHPs und damit dessen Bioverfügbarkeit sinkt. Dieser Aspekt ist ökotoxikologisch von größter Bedeutung und sollte bei der Berechnung von Anreicherungsfaktoren der PPCPs z. B. in Fischen berücksichtigt werden.

Nach der Probenahme ist in der Regel eine Aufarbeitung der Proben im Labor notwendig: Meistens ist eine Aufkonzentrierung der Analyten nötig, um eine sichere Quantifizierung zu ermöglichen. Zu diesem Zweck kommt bei uns die SPE (solid phase extraction) zum Einsatz, bei der die Wasserprobe über ein unpolares Sorbens geführt wird. Die Analyten bleiben auf diesem zurück und können später mit einer geringen Menge Lösungsmittel wieder gelöst und dann analysiert werden. Mit dieser Methode sind sehr hohe Aufkonzentrierungen möglich.

Während der Lagerzeit und dem Transport ins Labor und der meist notwendigen Filtration kann sich die Probe jedoch verändern. Um dies zu vermeiden, sind wir im Rahmen des LOEWE-Schwerpunkts "AmbiProbe" (LOEWE: Hessische Landesoffensive zur Entwicklung wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz) beteiligt, neue Methoden und Instrumente zur hochauflösenden massenspektrometrischen vor-Ort-Analytik zu entwickeln und anzuwenden. Neben der Nutzung von Insekten als hochempfindliche Biosensoren in der Umwelt bearbeiten wir hier zusammen mit den Projektpartnern die Entwicklung und Erprobung einer on-site-Probenaufbereitung zur direkten, massenspektrometrischen vor-Ort-Analytik.

Die Analyse der Extrakte läuft je nach Substanz und Konzentrationsbereich über die im Interdisziplinären Forschungszentrum für biowissenschaftliche Grundlagen der Umweltsicherung (IFZ) der Universität Gießen verfügbare instrumentelle Ausstattung (HPLC-DAD, GC-MS, HPLC-TOF-MS). Auch hier ist jeweils eine Anpassung der Untersuchungsmethodik an die nachzuweisende Substanz und die Probenzusammensetzung notwendig.


Welche Wirkungen haben die PPCPs in der Umwelt?

Das Massensterben von Geiern in Asien aufgrund von Sekundärvergiftungen mit Diclofenac - einem anderen gebräuchlichen Schmerzmittel - ist im Jahre 2004 beschrieben worden und gilt als eindrucksvolles Beispiel einer Umwelt-"Nebenwirkung" von Arzneimitteln. Die Todesursache der Aasfresser war nicht unmittelbar ersichtlich: Die Geier vergifteten sich massenhaft, da sie die Kadaver von Rindern fraßen, die mit dem Arzneimittel behandelt worden waren. Mit diesem Beispiel wurde erstmals gezeigt, dass ein Arzneimittel schwere ökologische Schäden in einer ganzen Region auslösen kann. Es zeigte sich hierbei auch, dass sich die Stoffe in der Nahrungskette persistent verhalten und dass die Effekte bei verschiedenen Spezies höchst unterschiedlich sein können.

Ein bekanntes Beispiel für Effekte in der aquatischen Umwelt liefert die Regenbogenforelle. Hier wurden Veränderungen in den Nieren, den Kiemen und der Leber der Fische bei Spuren von 5 µg des Schmerzmittels Diclofenac je Liter Wasser beobachtet. Hierbei handelt es sich um eine realistische Konzentration, wie sie in der Umwelt tatsächlich vorkommt.

Im Zuge der im Jahre 2007 in Kraft getretenen EU-Richtlinie zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien (REACH: Registration, Evaluation, Authorisation, and Restriction of Chemicals) gewinnen Tests zur Prüfung der (öko-)toxikologischen Wirkung von Chemikalien an Bedeutung: Chemikalien, deren Produktionsmenge bestimmte Grenzen überschreitet, müssen bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt geprüft werden. Hierzu bedarf es verschiedener standardisierter und repräsentativer Testverfahren. Einige dieser Verfahren sind etabliert und geben Anhaltspunkte über die Wirkungen der Chemikalien in der Umwelt. Werden hierbei erhebliche negative Effekte beobachtet, dann kann dies zu Einschränkungen der Verwendung oder gar zum Verbot der Substanz führen. Die Zulassung von Arzneimitteln bleibt jedoch von REACH unberührt, so dass hier eventuell auftretende negative Effekte keine Auswirkungen auf die Zulassung als Arzneimittel haben. Zusätzlich beschränken sich die Methoden bisher in der Regel auf die Auswertung von Effekten, die anhand einer Organismenart (Spezies) beobachtet wurden, außerdem werden Wirkungen der in der Realität vorkommenden Mixtur an Umweltchemikalien so noch nicht beurteilt. Gehen wir davon aus, dass momentan über 3.000 verschiedene Wirkstoffe in Humanpharmazeutika verwendet werden, erscheint die Untersuchung von Kombinationswirkungen dieser in die Umwelt emittierten Substanzen dringend notwendig.

In Zusammenarbeit mit dem Institut für Gewässerschutz Mesocosm GmbH in Homberg (Ohm) wurden in diesem noch wenig beachteten Forschungsgebiet zwei Masterarbeiten durchgeführt: Am Beispiel der Wasserminze, die hier als Versuchspflanze zur Ermittlung des Biomassezuwachses diente, wurde die Kombinationswirkung der drei Arzneimittel Carbamazepin, Ibuprofen und Diclofenac ermittelt. Die positiven Effekte bei niedrigen Konzentrationen von Ibuprofen und Diclofenac wurden durch den negativen Effekt des Carbamazepin überlagert. Auch bei höheren Konzentrationen dominiert der Einfluss des Carbamazepins; eine additive Wirkung der drei Agenzien konnte nicht gesichert werden.

Neben diesen Pflanzentests sollte ein Experiment mit dem etablierten Tiermodell der Zuckmückenlarve Aufschluss über die Mischtoxizität der Arzneimittel geben. Hier war im Kombinationsversuch eine deutliche Verstärkung der Effekte im Vergleich zur Einzelsubstanztoxizität zu erkennen (siehe Abbildung 3).

Abb. 3: Mischtoxizität der Pharmazeutika Ibuprofen, Diclofenac und Carbamazepin (CBZ) getestet an der Zuckmückenlarve - © Rolf-Alexander Düring et al.

Abb. 3: Mischtoxizität der Pharmazeutika Ibuprofen, Diclofenac und Carbamazepin (CBZ) getestet an der Zuckmückenlarve.
© Rolf-Alexander Düring et al.

Was können wir tun?

Die Entfernung der PPCPs im Rahmen der Abwasserbehandlung ("End-of-Pipe-Lösung") ist von Bedeutung, da eine deutliche Eintragsverminderung insbesondere in Bezug auf Arzneimittel kaum möglich ist. Der therapeutische Nutzen der Medikamente steht im Vordergrund und wird gegenüber einer etwaigen negativen Umweltwirkung den Ausschlag hinsichtlich der Anwendungs-/Verordnungsmengen geben. Somit ist auch in Zukunft davon auszugehen, dass Medikamente und deren Transformationsprodukte in das Abwasser gelangen.

Aufgrund der zum Teil geringen biologischen Abbaubarkeit der PPCPs müssen zur Entfernung weitergehende Verfahren eingesetzt werden. Aus unserer Sicht viel versprechende Verfahren sind die AOP (Advanced Oxidation Processes), deren Wirksamkeit für etliche Substanzklassen nachgewiesen wurde. Wir beschäftigen uns mit dem Verfahren der UV-Oxidation, bei welchem dem zu behandelnden Abwasser ein Oxidationsmittel, z. B. H2O2 oder Ozon, zugesetzt wird, das mittels UV-Strahlung zur verstärkten Bildung von Radikalen angeregt wird. Das dabei hauptsächlich produzierte OH-Radikal ist ein sehr starkes Oxidationsmittel.

Um die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion mit einem zu entfernenden Arzneimittelwirkstoff, und damit die Effektivität des Verfahrens zu erhöhen, müssen vorher möglichst viele Konkurrenzmoleküle, wie Radikalfänger und andere oxidierbare Substanzen, entfernt werden. Hierfür können Verfahren, wie die biologische Reinigung mit trägerfixierter Biomasse, eingesetzt werden. Dieses Verfahren haben wir in Kooperation mit der Firma EMW-Filtertechnik und der Fachhochschule Gießen-Friedberg am Evangelischen Krankenhaus in Gießen getestet.

Aufgrund des hohen Volumenstromes kommunaler Kläranlagen (z. B. in der Kläranlage Gießen: ca. 600 L/s) findet man an deren Ablauf in der Regel geringe Konzentrationen der PPCPs. Um eine nennenswerte Arzneimittelmenge zu entfernen, wäre also die Behandlung einer sehr großen Abwassermenge notwendig. Gerade bei den weitergehenden Verfahren zur Abwasserbehandlung, wie der UV-Oxidation, aber auch bei der Behandlung mit Aktivkohle, ist dabei ein unverhältnismäßig hoher Energieaufwand nötig. Erheblich effektiver lassen sich bekannte Punktquellen, wie z. B. Krankenhausabwasser - insbesondere aus Spezialkliniken mit einem besonderen Wirkstoffspektrum - behandeln. Die hier eingesetzten und ausgeschiedenen Medikamente werden nur zu einem geringen Teil durch unbelastetes Wasser aus Küche, Wäscherei und Leitungswasser verdünnt. Außerdem fehlen dem Klinikabwasser weiter verdünnendes Regenwasser und sonstige Abwässer mit einer geringen Wirkstoffbelastung. Dadurch liegen die Arzneimittelkonzentrationen im Klinikabwasser um den Faktor 100 bis 1000 über denen im kommunalen Abwasser.

Im Rahmen der biologischen Reinigung mit trägerfixierter Biomasse, dem von uns am Klinikstandort geprüften Verfahren, wird den Mikroorganismen ein poröses Trägermaterial aus PU-Schaum zur Verfügung gestellt, das sie in Form von Biofilmen besiedeln. Somit bleiben sie auch bei Abzug von Überschussschlamm im System und können ein hohes Alter erreichen und sich an die sie umgebenden Bedingungen anpassen; der Abbau auch stabilerer Stoffe ist damit denkbar.

Die Biofilme auf den Aufwuchskörpern im Klinikabwasser wurden von uns hinsichtlich ihrer Morphologie (Abbildung 4) und der Anreicherung bestimmter Stoffe untersucht.

4 Bilder zeigen: Ausgeprägtes Vorkommen von Vorticella spp. im Biofilm auf PU-Schaum-Trägermaterial/Mikrobiellen Bewuchs auf PU-Schaum-Träger /Stäbchenförmige Bakterien auf PU-Schaum-Untergrund/Vorticella spp. angeheftet auf PU-Träger - © Gertrud Engels 4 Bilder zeigen: Ausgeprägtes Vorkommen von Vorticella spp. im Biofilm auf PU-Schaum-Trägermaterial/Mikrobiellen Bewuchs auf PU-Schaum-Träger /Stäbchenförmige Bakterien auf PU-Schaum-Untergrund/Vorticella spp. angeheftet auf PU-Träger - © Gertrud Engels 4 Bilder zeigen: Ausgeprägtes Vorkommen von Vorticella spp. im Biofilm auf PU-Schaum-Trägermaterial/Mikrobiellen Bewuchs auf PU-Schaum-Träger /Stäbchenförmige Bakterien auf PU-Schaum-Untergrund/Vorticella spp. angeheftet auf PU-Träger - © Gertrud Engels 4 Bilder zeigen: Ausgeprägtes Vorkommen von Vorticella spp. im Biofilm auf PU-Schaum-Trägermaterial/Mikrobiellen Bewuchs auf PU-Schaum-Träger /Stäbchenförmige Bakterien auf PU-Schaum-Untergrund/Vorticella spp. angeheftet auf PU-Träger - © Gertrud Engels

Abb. 4a: Ausgeprägtes Vorkommen von Vorticella spp. im Biofilm auf PU-Schaum-Trägermaterial
4b: Mikrobieller Bewuchs auf PU-Schaum-Träger
4c: Stäbchenförmige Bakterien auf PU-Schaum-Untergrund (Filamentöse Strukturen = Exopolymere Substanzen nach der Probenvorbereitung für das Raster-Elektronenmikroskop)
4d: Vorticella spp. angeheftet auf PU-Träger
© Gertrud Engels

Abbildung 5 zeigt die Konzentrationen des in vielen Röntgenkontrastmitteln enthaltenen Elements Barium (Ba) und des in Reinigungsmitteln enthalten Elements Bor (B) vor und nach der biologischen Behandlung des Klinikabwassers. Deutlich zu sehen ist die Abnahme der Bariumkonzentration, die aus einer Anreicherung im Biofilm resultiert. Bor hingegen wird von der biologischen Klärung kaum zurückgehalten, reichert sich also nicht im Biofilm an und gelangt somit mit dem Kläranlagenablauf in die Fließgewässer.

Abb. 5: Konzentrationen der Elemente Barium (Ba) und Bor (B) im Krankenhausabwasser im Wochenverlauf, vor der Behandlung und danach - © Rolf-Alexander Düring et al.

Abb. 5: Konzentrationen der Elemente Barium (Ba) und Bor (B) im Krankenhausabwasser im Wochenverlauf. Vor der Behandlung (gefüllte Symbole) und danach (ungefüllte Symbole). © Rolf-Alexander Düring et al.


Ausblick

Chemikalien des täglichen Gebrauchs belasten mehr und mehr die Wasserqualität, auch vor dem Hintergrund demografischer Veränderungen. Somit wird die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Trinkwasserversorgung zukünftig zu einer der großen Herausforderungen. Heute werden erste Risiken erkannt, die vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt waren. Der Nachweis von immer mehr Stoffen in immer geringeren Spuren im Wasser gelingt mit fortschreitender Entwicklung einer hoch sensitiven Analytik. Dieser pure Nachweis erlaubt jedoch noch keine Aussage zur tatsächlichen Wirkung der Stoffkonzentrationen in unserer Umwelt.

Bei der Vielfalt an Stoffen scheint eine rein nachsorgende Gewässerreinhaltung ein schier aussichtsloses Unterfangen zu sein. Möglichst auf der Ebene der Gewässereinzugsgebiete gilt es, wie es die Europäische Wasserrahmenrichtlinie auch prinzipiell vorschlägt, Managementkonzepte zu entwickeln, die sich auf den sicheren Nachweis der Stoffe mit einer Risikoabschätzung stützen. Dies setzt voraus, dass Bewertungsverfahren auch für Mischungen von Schadstoffen etabliert werden. Neue toxikologische Testverfahren, die unter Vermeidung unnötiger Tierversuche hohe Durchsätze erlauben, sind hier genauso gefordert wie die Fortentwicklung der analytischen Verfahren, die ein möglichst repräsentatives Abbild der Situation im Wassereinzugsgebiet zeichnen können sollen. Um ein ganzheitliches Management zu verwirklichen, ist jeder Einzelne zur Mitarbeit aufgerufen. So sollte man sich folgende Fragen stellen: Mit welchen Stoffen umgebe ich mich alltäglich? Was emittiere ich? Kann ich durch mein Verhalten helfen, die Situation zu verbessern?

Mit dieser Form der Bewusstseinsbildung und Verhaltensänderung wäre dann schon ein großer Schritt in Richtung einer langfristig qualitativ hochwertigen Gewässerqualität mit nachhaltiger Trinkwasserversorgung getan.


DIE AUTOREN

Foto: Grupenbild der Autor(inn)en - © Rolf-Alexander Düring et al.

Foto: © Rolf-Alexander Düring et al.

Rolf-Alexander Düring, Jahrgang 1964, Studium der Agrarwissenschaften und Umweltsicherung in Bonn und Gießen, Promotion 1996 am Institut für Phytopathologie und Angewandte Zoologie, 2003 Habilitation am Institut für Landschaftsökologie und Ressourcenmanagement, Gießen. 2004 bis 2008 Hochschuldozent für Umweltchemie und Ressourcenmanagement.

Seit 2008 Akademischer Rat und Laborleiter am Institut für Bodenkunde und Bodenerhaltung. Arbeitsgebiete: Schadstoffverhalten und ihre Analytik in Böden und Gewässern.

Marion Binder, Jahrgang 1984, Studium der Agrarwissenschaften und Umweltmanagement bis 2008 (BSc), im Anschluss Studium des Umwelt- und Ressourcenmanagements bis 2010 (MSc). Thema der Masterarbeit "Kombinationsbelastung der drei Pharmazeutika Carbamazepin, Diclofenac und Ibuprofen am Beispiel der Wasserminze (Mentha aquatica)". 2009 bis 2010 studentische Hilfskraft in der AG Düring.

Leonard Böhm, Jahrgang 1981, Studium der Agrarwissenschaften und Umweltmanagement bis 2008 (BSc), im Anschluss Studium des Umwelt- und Ressourcenmanagements bis 2010 (MSc). Thema der Masterarbeit: "Analytische Eignung der SPME für Tests auf Biokonzentration". 2007 bis 2010 studentische Hilfskraft in der AG Düring. Seit 2011 Doktorand im Institut für Bodenkunde und Bodenerhaltung.

Michaela Busch, Jahrgang 1981, Studium der Agrarwissenschaften und des Umweltmanagements bis 2007 (BSc), an schließend Studium des Umwelt- und Ressourcenmanagements bis 2010 (MSc). Thema der Masterarbeit: "Mischtoxizität der drei Arzneimittelwirkstoffe Carbamazepin, Diclofenac und Ibuprofen am Beispiel der Zuckmückenlarve Chironomus riparius". Seit Juli 2010 im Environmental Modelling der Bayer CropScience AG tätig.

Christoph Hartwig, Jahrgang 1982, Studium der Umwelt- und Hygienetechnik bis 2008 (Dipl.-Ing. (FH)). Thema der Diplomarbeit: "Entfernung von Umweltchemikalien aus Urin". Von 2008 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Landschaftsökologie und Ressourcenmanagement, seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bodenkunde und Bodenerhaltung.

Sarah Mbaruk, Jahrgang 1981, Studium der Ökotrophologie bis 2007 (BSc), im Anschluss Studium des Umwelt- und Ressourcenmanagements bis 2010 (MSc). Thema der Masterarbeit: "Biologische Behandlung von Krankenhausabwasser - Charakterisierung trägerfixierter Biomasse aus einem Schwebebettreaktor". Seit September 2010 wissenschaftliche Hilfskraft in der Stabsabteilung Forschung der Universität Gießen.


LITERATUR

Daughton CG, Ternes TA (1999): Pharmaceuticals and personal care products in the environment: Agents of subtle change? Environmental Health Perspectives 107: 907-938.

Kolpin DW, Furlong ET, Meyer MT, Thurman EM, Zaugg SD, Barber LB, Buxton HT (2002): Pharmaceuticals, hormones, and other organic wastewater contaminants in US streams, 1999-2000: A national reconnaissance. Environmental Science & Technology 36: 1202-1211.

Ternes TA, Joss A, Siegrist H (2004): Scrutinizing pharmaceuticals and personal care products in wastewater treatment. Environmental Science & Technology 38: 392A-399A.

Green RE, Newton I, Shultz S, Cunningham AA, Gilbert M, Pain DJ, Prakash V (2004): Diclofenac poisoning as a cause of vulture population declines across the Indian subcontinent. Journal of applied Ecology 41: 793-800.

Kümmerer K (2008): Pharmaceuticals in the Environment: Sources, Fate, Effects and Risks. 3. erweiterte Auflage 2008. Springer, Berlin.


KONTAKT

Priv.-Doz. Dr. Rolf-Alexander Düring
Justus-Liebig-Universität Gießen
Institut für Bodenkunde und Bodenerhaltung
Heinrich-Buff-Ring 26, 35392 Gießen
Telefon: 0641 99-37104
rolf-alexander.duering@umwelt.uni-giessen.de


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1 - Mai/2011, S. 4-11
Wissenschaftsmagazin der Justus- Liebig-Universität Gießen, 28. Jahrgang
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Redaktion: Christel Lauterbach, Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Tel.: 0641/99-12040, Fax: 0641/99-12049
E-Mail: christel.lauterbach@uni-giessen.de
Internet: http://www.uni-giessen.de/spiegel-der-forschung


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2011