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NACHLESE/004: Bagger fressen Erde auf - Interview mit Mathias Berndt aus Atterwasch (SB)


Interview mit Pfarrer Mathias Berndt am 14. Juni 2012 in Atterwasch

Der Interviewte sitzt am Tisch und greift zur Tasse - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mathias Berndt
Foto: © 2012 by Schattenblick

Pflanze ich noch einen jungen Apfelbaum in den Garten? Wie oft werde ich seine Früchte ernten können? Renoviere ich mein Haus oder lohnt sich das nicht mehr? Gehe ich, bevor man mich vertreibt oder bleibe ich um jeden Preis? Derlei Fragen haben existenziellen Charakter und für Menschen in Proschim, Welzow, Kerkwitz, Atterwasch, Grabko und Schleife sind sie alltägliche Begleiter. Mit der kraftzehrenden Präsenz dieser Fragen leben sie seit Jahren. Unter ihren Häusern, Dörfern und Arbeitsplätzen liegt mehr oder weniger tief in der Erde Braunkohle. Deshalb geht es um Kohle. Die ganze Zeit. Das Energieunternehmen Vattenfall will diese Braunkohle zu Strom und Geld machen, so wie andernorts und andere vorher auch schon. In 80 Jahren sind allein in der Lausitz 136 Orte ganz oder teilweise von der Landkarte verschwunden, haben mehr als 30 000 Menschen ihre Heimat verloren.

In und um Schleife in Sachsen sind es 1500 Menschen, die ihre Häuser räumen und neue beziehen sollen, um für den Tagebau Nochten Platz zu machen. Ende März 2012 hat Vattenfall mit Flatterband bereits all jene Grundstücke eingegrenzt, auf denen die Menschen aus Schleife, Mühlrose, Rhone und Mulkwitz in absehbarer Zukunft ein neues Zuhause finden sollen. Nur anhand von Karten und Zeichnungen könne sich kaum jemand sein neues Haus und Heimatdorf vorstellen, hieß es aus Organisationskreisen bei Vattenfall und Stadtverwaltung. Im sächsischen Schleife laufen die Vorbereitungen für die Umsiedlung auf Hochtouren, auch wenn eine bergrechtliche Genehmigung für die Erschließung des Kohlefelds noch aussteht.

Gleiche Bedrohungslage, anderer Planungsstand im brandenburgischen Proschim. Dieser Ort und ein Stadtteil von Welzow sollen für die Erweiterung des Tagebaus Welzow-Süd und die Überführung in den sogenannten Teilabschnitt II abgebaggert werden. Das Braunkohlenplanverfahren läuft, die Planungsunterlagen lagen bereits öffentlich aus. Fast 4000 Einwendungen aus ganz Deutschland sind bei der Planungsbehörde eingegangen. Nach den Vorstellungen der Landesregierung soll das Planverfahren 2015 abgeschlossen sein. Dann könnte Vattenfall die bergrechtliche Genehmigung beantragen. Bekommt das Energieunternehmen sie, müssen 1200 Menschen aus Proschim und Welzow spätestens in zehn bis zwölf Jahren ihren Wohn- und Arbeitsplatz, ihren Lebensmittelpunkt, ihre Heimat verlassen haben, damit die Braunkohlebagger den brennbaren Bodenschatz aus der Erde wühlen können, während Werte jenseits wirtschaftlicher Kalkulation in die Grube fallen. Auch politische Logik befindet sich im freien Fall. Für den fossilen Brennstoff Braunkohle sollen auch regenerative Energieträger geopfert werden. Mehrere Windräder, Dutzende Solarmodule und eine Biogasanlage in Proschim würden mitten in der ausgerufenen Energiewende abgebaggert.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 18. September 2007 haben die Landesregierung Brandenburg und Vattenfall angekündigt, den Tagebau Jänschwalde-Nord aufschließen zu wollen. Damit haben Sie den Alltag von rund 900 Menschen, deren Adresse die Orte Atterwasch, Kerkwitz oder Grabko enthält, maßgeblich verändert. Noch liegt kein Planentwurf vor - anders als in Proschim und Welzow hat die brandenburgische Landesregierung bisher noch keinen Braunkohlenplan erlassen. An den Absichten von Vattenfall aber besteht kein Zweifel, das Unternehmen hat erste Unterlagen für das Planverfahren eingereicht. Die von der Devastierung (Vertreibung und Abbaggerung) bedrohten Menschen leben seit fünf Jahren und auf unbestimmte Zeit mit der Angst, daß auch ihre Dörfer über den Tagebaurand stürzen.

Blick von der Terrasse über den Garten des Pfarrhauses - Foto: © 2012 by Schattenblick Tagebau und Braunkohlekraftwerk Jänschwalde - Foto: © 2012 by Schattenblick

links: Garten-Gegenwart in Atterwasch ...
rechts: ... Wüsten-Zukunft gleichen Orts?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Noch wächst im Garten von Seelsorger Mathias Berndt in Atterwasch satt grünes Gras, noch blickt man auf eine baumreiche Landschaft. Seit 35 Jahren lebt er in diesem Dorf in der Lausitz. Er hat hier lange als Gemeindepfarrer gearbeitet. Jetzt ist er als Seelsorger für Bergbaubetroffene tätig und selbst einer von ihnen. Die Bank, der Garten, das Haus, die Kirche - all das soll der Braunkohlebagger fressen und nur Schutt, Abraum, unfruchtbare Erde zurücklassen!? Über diese düstere Aussicht, den Kampf dagegen und den Balanceakt zwischen aktivem Protest und gewissenhafter Seelsorge hat Mathias Berndt in einem Schattenblick-Interview gesprochen.


Schattenblick: Schleife, Proschim, Atterwasch, Kerkwitz, Grabko - das sind schätzungsweise 3000 bis 4000 Menschen, die alle vor den gleichen existenziellen Nöten stehen. Oder sehen Sie, bezogen auf Ihre Arbeit, Unterschiede von Ort zu Ort?

Mathias Berndt: Ich hatte gerade erst gestern den Generalsuperintendenten bei mir und da haben wir genau über den Unterschied zwischen Proschim, also Tagebau Welzow II, und unsere Situation gesprochen. Wir versuchen, den Tagebau zu verhindern. In Welzow oder, noch konkreter, in Schleife dreht es sich darum, die Menschen zu begleiten, wenn sie umsiedeln müssen. Das ist etwas völlig anderes, obwohl es innerhalb des Prozesses auf einer Linie liegt. In dem Gespräch drehte es sich darum, wie ein Seelsorger mit den Menschen umgeht, welche Impulse er setzt, und da habe ich nochmals deutlich gemacht, daß Antje Schröcke, die in Schleife als Seelsorgerin fungiert, eine andere Aufgabe hat als ich. Sie hat die Umsiedlung zu begleiten. Ich habe die Menschen zu begleiten, die versuchen, eine Umsiedlung zu verhindern. Daher sind das hier ganz andere Schwerpunkte als dort.

SB: Die Proschimer - zumindest Teile der Proschimer - wollen den Tagebau ja auch noch verhindern ...

MB: Sie wollen ihn noch verhindern, ja. Da gibt es im Moment diesen Streit, daß Vattenfall sagt: Wir machen eine Weiterführung des Tagebaus Welzow. Eine Weiterführung ist aber nicht genehmigt und deshalb gibt es eigentlich keine Weiterführung, sondern es geht um einen Neuaufschluß, der dann in eine Weiterführung münden würde. Diesen Neuaufschluß kann man vielleicht noch verhindern. Wir sind in einer ähnlichen Situation. Der Tagebau Jänschwalde läuft. Der neue Tagebau Jänschwalde-Nord soll genehmigt werden. Vattenfall hat das beantragt und sagt: Wenn er genehmigt wird, dann ist es eine Weiterführung des Tagebaus Jänschwalde. Wobei das Verfahren in Welzow II natürlich bedeutend weiter ist. Wir haben da noch bessere Karten, sag' ich einfach mal.

SB: Ist es so, daß Sie für Proschim auch mitspielen und mitmischen, um einmal im "Kartenbild" zu bleiben - kämpft man gemeinsam, obwohl man unterschiedlich betroffen ist?

MB: Wir kämpfen insofern gemeinsam, als daß wir uns austauschen. Wir besuchen uns auch gegenseitig. Bei Demos beispielsweise unterstützen wir uns, aber gekämpft wird vor Ort, das ist schon so. Ich gehe jetzt von mir als Seelsorger aus, nicht von der Strategie des Widerstandes, und da liegen die Aufgaben vor Ort bei den Menschen, die jetzt in meinem Bereich betroffen sind, und der Schwenk nach Proschim oder Welzow rüber ist solidarische, brüderliche Hilfe. Das unterscheidet sich inhaltlich schon. Die seelsorgerische Begleitung in Proschim wird von Hans-Christoph Schütt gemacht. Der hat aber noch ein ganzes Pfarramt an der Backe. Was sich für mich durch meine neue Anstellung ja günstiger zeigt.

SB: Wie verhält sich das damit? Sie sind bei der Kirchenverwaltung jetzt ausschließlich für die Betroffenen des Bergbaus zuständig?

MB: Bis vor einem Jahr war ich Gemeindepfarrer in Atterwasch, Guben und Umgebung. Ich bin jetzt aus dem Gemeindepfarramt raus und habe eine kreiskirchliche Anstellung für die Seelsorge an Bergbaubetroffenen. Wobei ich nicht von Vattenfall bezahlt werde. Frau Schröcke in Schleife wird als Seelsorgerin von Vattenfall finanziert. Ich werde von der Landeskirche und vom Kirchenkreis finanziert, und es gibt auch keine Refinanzierung oder sonst etwas. Ich bin da völlig unabhängig.

Turm der Atterwascher Kirche - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Kirche als Stütze für Bergbaubetroffene
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Bergbaubetroffene - sind das ausschließlich Menschen, die von der Umsiedlung bedroht sind, oder sind das auch Menschen, die im Bergbau arbeiten?

MB: In meiner Gemeinde habe ich beides. Es kommt sogar noch eine dritte Gruppe dazu. Das eine sind diejenigen, die im Bergbau bei Vattenfall arbeiten. Ich habe in meiner Klientel keinen Menschen, der direkt in der Grube arbeitet. Diese Menschen sagen, auch weil sie mich kennen: Wir wollen nicht, daß ihr abgebaggert werdet, aber wir wollen natürlich möglichst bis zur Rente unsere Arbeit behalten und möchten nicht von heute auf morgen auf die Straße gesetzt werden. Das ist eine Sache, die wir als Widerstandsbewegung auch unterstützen. Für uns heißt es ja nicht: Raus aus der Kohle, morgen ist Schluß! Sondern es ist ein Auslaufmodell und das läuft darauf hinaus, daß der Einsatz von Braunkohle für die Energiegewinnung langsam zurückgefahren wird und die Erneuerbaren langsam hochgefahren werden. Mit allen Problemen, die damit zusammenhängen. Das würde bedeuten, daß noch ungefähr 30 Jahre lang Braunkohle abgebaut wird. Denen, die jetzt bei Vattenfall arbeiten und von der Kohle abhängig sind, kann man in die Hand versprechen, wir tun nichts dafür, daß ihr euren Arbeitsplatz verliert. Da tun andere etwas dafür. Arbeitsplätze werden ja immerfort abgebaut, auch bei Vattenfall. Das liegt aber an anderen, innerbetrieblichen Strukturen.

Die zweiten Betroffenen des Bergbaus sind die, die abgebaggert werden sollen, also aus Kerkwitz, Atterwasch, Grabko. Die haben die Schwierigkeit, mit einem Recht zu argumentieren, das es nicht gibt, nämlich dem Recht auf Heimat. Die Frage ist ja auch: Was ist Heimat eigentlich? Ich bin gebürtiger Berliner und bezeichne das hier als meine Heimat. Ist das richtig oder falsch? Habe ich ein Recht hierzubleiben oder habe ich das nicht? Das ist die Frage, die sich vor allen Dingen für die - wie ich immer sage - Eingeborenen stellt, die hier ihre Eltern, Voreltern usw. zum Teil 300 Jahre weit zurückverfolgen können und sagen: Das ist meine Scholle! Das ist meine Heimat, mein Elternhaus und ich kämpfe dafür, mein Elternhaus, meine Heimat zu erhalten! Zur Heimat gehört ja noch viel mehr, dazu gehört die Natur, die Umgebung und alles andere. Wenn man das Elternhaus stehen läßt und ringsum Wüste schafft, dann ist es auch keine Heimat mehr, obwohl das Haus noch steht.

Darum argumentieren wir auch mit einem Begriff, der zweifelhaft ist, nämlich mit dem Begriff "Vertreibung". Meine Eltern stammen aus Breslau, sie sind vertrieben worden nach dem Krieg, beziehungsweise sie durften nicht mehr zurück in ihre Heimat. Sie hatten aber noch die Möglichkeit, sich mit uns Kindern zusammen anzugucken, wo sie mal gewohnt haben. Vertreibung hat immer mit Unrecht zu tun. In einer kriegerischen Situation gab es Unrecht auf beiden Seiten. Ein Unrecht wiegt das andere nicht auf, aber man hat zurecht sehr geklagt darüber, daß so viele Menschen ihre Heimat verlassen mußten und aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

In der DDR durfte man das nicht laut sagen, inzwischen darf man es wieder. Wir haben keinen Krieg, wir haben keine Notlage, wir haben nicht mal eine Energienotlage, sondern wir sind Energieexporteur und trotzdem soll eine Umsiedlung stattfinden. Wir empfinden das als eine Vertreibung und fragen, womit rechtfertigt die Politik, Rahmenrichtlinien zu schaffen, daß von der wirtschaftlichen Seite so etwas möglich ist. Außerdem muß man wissen, daß diese ganze Umsiedlungsgeschichte auf Nazi-Recht zurückgeht. Das wurde wegen der kriegswichtigen Rohstoffe noch mal verstärkt, damit die Umsiedlungen so "leicht" funktionieren. Da dreht es sich dann auch um die moralisch-rechtliche Frage, ob ein Gesetz, das die Nationalsozialisten für den Krieg gemacht haben, wirklich heute, 2012, noch in diesem Umfang gültig sein kann oder ob hier nicht eine Novellierung dieses Bergbaugesetzes schon längst, längst nötig gewesen wäre. Das ist jedenfalls unsere Meinung.

Mathias Berndt am Tisch sitzend - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Wir empfinden das als eine Vertreibung und fragen, womit rechtfertigt die Politik, Rahmenrichtlinien zu schaffen, daß von der wirtschaftlichen Seite so etwas möglich ist.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die dritte Gruppe, das sind die Randbetroffenen. Es gibt da tatsächlich einen Streit zwischen den Menschen hier in unserer Gegend, der sich um die Frage dreht, was schlimmer ist, am Rand stehen zu bleiben oder abgebaggert zu werden. Nicht wenige von den Randbetroffenen sagen, wenn der Bergbau kommt, dann möchten wir bitte auch umgesiedelt werden. Sie fordern eine rechtliche Gleichstellung, obwohl die juristisch nicht möglich ist. Sie wollen zumindest die moralische Gleichstellung, um sagen zu können: Wenn der Tagebau an unserem Haus vorbeifährt und hinterher noch hundert Jahre Wüste ist, dann möchten wir die gleiche Möglichkeit finanziert haben wie diejenigen, die abgerissen werden und keine Alternative haben. Das sind die drei unterschiedlichen Gruppen, die ich als Seelsorger begleite.

SB: Das Recht auf Eigentum und Besitz ist zwar grundgesetzlich verbürgt, aber dem Gemeinwohl untergeordnet. Dem Gemeinwohl wird im Grundgesetz ein höherer Wert beigemessen als dem persönlichen Hab und Gut. Sprechen Sie mit der Gesetzgebung aus der Nazivergangenheit auch diesen Teil des Grundgesetzes an?

MB: Das ist nicht allein auf die nationalsozialistische Vergangenheit zurückzuführen, sondern das ist ein Abwägungsprozeß, der davon ausgeht, daß es immer auch Verlierer gibt. Jemand muß etwas um einer gemeinschaftlichen Sache willen aufgeben. Nehmen wir zum Beispiel die Familie. Wenn man Kinder hat, dann ist das auf der einen Seite wunderschön, bedeutet aber auf der anderen Seite, daß man ein Stückchen seiner Freiheit abgibt. Die meisten Eltern tun das gerne für ihre Kinder, aber Fakt ist: Die gemeinsame Aufgabe hat Priorität und ich muß persönlich zurückstecken.

Worauf ich beim Bergbaugesetz anspiele, ist vor allen Dingen, daß es sich hier um ein Gesetz mit einer klaren Intention handelt. Es dreht sich nicht um das Gemeinwohl, obwohl die Nationalsozialisten das so bezeichnet haben, sondern es geht um Okkupation und Kriegführung - dafür wurde dieses Gesetz gemacht. Das würde ich nicht mit Gemeinwohl und Eigennutz gleichsetzen.

SB: Ich komme nochmal zurück auf Ihre Arbeit als Seelsorger. Sie haben mit Sicherheit mit Leuten gesprochen, die umgesiedelt wurden ...

MB: Ja, in Horno.

SB: Wie sehen die Menschen, die in "Neu-Horno" angesiedelt wurden, das - konnte das, was sie vorher vielleicht als Heimat empfunden haben, ersetzt werden? Kann das überhaupt durch neue Häuser, schicke Straßen und eine wunderbare Infrastruktur in neuen Zusammenhängen ersetzt werden?

MB: Das ist immer eine Einstellungsfrage. Wenn jemand sagt, ich möchte mir gern ein neues Haus bauen, ich bleibe sowieso nicht hier wohnen, ich überlege mir, wo ich das mache, und dann kommt Vattenfall mit der Zusage, das neue Haus zu finanzieren, dann wird derjenige natürlich ganz begeistert sein. Ganz klar. In Horno haben sich die Menschen bis zum Schluß gewehrt, bis keine Möglichkeit mehr offen war. Dann wurde der Umsiedlungsprozeß in Gang gesetzt, die Menschen haben ihre alten Häuser verloren, haben moderne Häuser gekriegt. Es sieht aus wie eine neue Vorstadtsiedlung, die es ja auch ist, trägt nur noch den Namen Horno, mit aus der Erde gestampfter Infrastruktur, aber nichts Gewachsenem. Die Hornoer selber sagen: Wir sind umgesiedelt worden, aber die Seele ist nicht mitgekommen.

Es ist ein anderes Leben und vor allen Dingen für diejenigen, die die Umsiedlung nicht wollten, die in ihrem Dorf wohnen bleiben wollten. Wobei man der Fairness halber sagen muß, es gibt immer solche und solche. Es gibt auch in unseren Dörfern Leute, die entweder diese Heimatverbundenheit nicht haben, aus welchem Grund auch immer, oder die vor 20 Jahren hier neu gebaut haben und sagen: Okay jetzt sollen wir ein neues Haus kriegen, das wieder nach den modernsten Standards gebaut wird, cash auf die Hand und weg sind wir! Die gibt es und die sind auch nicht böse! Was passiert - das ist eben das schlimme -, daß der Streit, der Neid, die Mißgunst unter den Leuten mächtig steigt.

Menschenleere Straße in Horno - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Es sieht aus wie eine neue Vorstadtsiedlung, die es ja auch ist, trägt nur noch den Namen Horno, mit aus der Erde gestampfter Infrastruktur, aber nichts Gewachsenem.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Was ist mir die Heimat wert? Mehr als Hof und Garten? Weniger als ein neues Haus? Das sind Fragen, die sich Menschen in dieser Region gezwungenermaßen stellen. Als Seelsorger erleben Sie sicher solche Gewinn-Verlust-Rechnungen im Kleinen. Der Protest gegen das Abbaggern der Dörfer, den sie auch mitorganisieren, richtet sich genau gegen dieses Prinzip von Gewinn und Verlust im Großen. Vattenfall wird ja vorgeworfen, sämtliche Tagebaupläne in Brandenburg und Sachsen auf möglichst hohen Profit und möglichst geringen Verlust ausgerichtet zu haben. Unter diesem Gesichtspunkt - wie geht das für Sie zusammen, Seelsorge und Protest?

MB: Gewinn und Verlust - das sagt etwas über unser Denken heutzutage. Unser Denken ist einfach geprägt durch die Frage der Wirtschaftlichkeit. Hier, gerade bei der Seelsorge, dreht es sich nicht um eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Im Bilde gesprochen, es gibt hier Menschen, die sagen: Das schönste, was mir passieren kann ist ein Urlaub in der Antarktis, wo ich keinen Menschen treffe und mit einem Paddelboot durchs Eis fahre. Solche Leute haben wir hier. Die anderen sagen: Das wäre für mich das Grausamste, was mir passieren kann. Beide haben recht! Jeder hat sich seinen Lebensstil, sein Lebensziel gesucht und unter Umständen findet er es auch. Seelsorgerliche Begleitung heißt neben der religiösen Frage, auch das seelische Gleichgewicht zu betrachten, und als Außenstehender, der ich in dem Moment bin, heißt es immer auch, auf die Defizite zu gucken, die durch mein positives Handeln entstehen. Banal gesagt, wenn ich etwas tue, muß ich etwas anderes sein lassen. Diese Negativseite muß auch immer mit betrachtet werden, um das seelische Gleichgewicht des Menschen zu erhalten oder um Fehlern vorzubeugen.

Insofern ist meine Aufgabe nicht, etwas voranzutreiben, wenn ich seelsorgerliche Begleitung mache, sondern den Menschen, so wie er ist, selbst wenn er eine Meinung vertritt, die ich nicht teile und die meiner Meinung sogar konträr gegenübersteht, so zu begleiten, daß er im Gleichgewicht bleiben kann. So sehe ich meine Aufgabe und da habe ich natürlich ein ganz großes Pfund - was viele Leute hier in Ostdeutschland eben nicht mehr haben - und das ist die ganze Frage des Glaubens und der Religiosität. Das ist einfach etwas, was Halt gibt, was den Menschen befestigt und gerade in der Situation der Entwurzelung oder der angekündigten Entwurzelung eine große Rolle spielt. Das heißt nun nicht, daß ich immerfort missioniere. Das heißt nicht, daß alle Menschen, die mit mir reden, Christen werden, aber das ist ein Pfund, das ich immer wieder in die Gespräche mit reinbringe.

SB: Werden Sie angesichts dieser sehr materiellen Gewalten - als solche würde ich das Abbaggern von Dörfern und die Zwangsumsiedlung von 900 Menschen bezeichnen - manchmal gefragt, ob sie Zweifel haben oder ob Sie in bestimmten Situationen an der höheren Fügung des Ganzen zweifeln?

MB: Die Frage ist natürlich, was die höhere Fügung nun ist. Wenn ich mir das in der Bibel angucke, dann gibt es da genügend Geschichten von Menschen, die an einem Platz ihre Heimat, ihr Zuhause gefunden haben, in denen Gott ihnen sagt: Pack Deine Zelte ein und geh in eine ungewisse Zukunft! Es wäre für mich, in der religiösen Dimension, auch Mißbrauch, wenn ich sagen würde, Gott wolle, daß wir hier stehen bleiben - so wie im ersten Weltkrieg auf dem Koppelschloß zu lesen: "Gott mit uns". Ich denke, so einfach geht es nicht. Aber wenn ich, und das kommt ja gelegentlich vor, mit Leuten zu reden habe, die in der Politik Einfluß haben, dann sage ich ihnen, daß es darauf ankommt, daß der Abwägungsprozeß zwischen dem, was ich einem anderen als Leid zufüge, um meine Ziele zu erreichen - und meine Ziele heißt jetzt wirtschaftliche Ziele getarnt als Gemeinwohl -, in einem moralisch vertretbarem Interesse oder einem moralisch vertretbarem Gleichgewicht ist. Ich werfe der Politik heutzutage auch vom religiösen Standpunkt aus vor, daß sie Rahmenrichtlinien schafft, die gegen ihre Bürger gerichtet sind, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Und daß sich in Zeiten des Neoliberalismus - auch wenn die FDP in Brandenburg nicht an der Regierung ist - Tendenzen einschleichen oder befördert werden, die für mein Dafürhalten vom moralischen Standpunkt absolut nicht vertretbar sind.

Meine Arbeit, mein Reden, mein Versuch, andere Menschen zu begleiten oder ihnen meinen Standpunkt klar zu machen, geht jetzt nicht dahin zu sagen: Die bösen Vattenfaller! Oder: Die böse Wirtschaft! Vattenfall ist hier angetreten und hat die LAUBAG (Anm. d. SB-Red.: Lausitzer Braunkohle AG) abgelöst. Da wußten wir noch nicht, daß wir irgendwann mal betroffen sein würden und da hat keiner gesagt: Die sind böse! Vattenfall hat gesagt: Wir wollen Kohle abbauen und Kohle machen. Das wußten wir von vornherein. Welche Mittel sie dabei anwenden, ist noch mal die nächste Frage. Das Pendant zur Wirtschaft sollte aber die Politik sein, die sagt, für das Gemeinwohl - und jetzt kommen wir auf das Grundgesetz zurück - ist es nötig, auch Opfer zu bringen und diese Opfer sind zulässig und diese sind es nicht. Politik müßte meiner Ansicht nach Rahmenrichtlinien schaffen, um die Bürger zu schützen.

SB: Mal angenommen, alle denkbaren Register des Protestes sind gezogen, alle politischen Wege gegangen, alle juristischen Möglichkeiten ausgereizt und es bleibt nichts weiter übrig, als tatsächlich gehen zu müssen. Was können Sie den Menschen, damit sie das von Ihnen beschriebene und angestrebte Gleichgewicht halten, mit an die Hand, auf den Weg geben?

MB: Was kann man ihnen mit auf den Weg, an die Hand geben? Ich denke, man muß hier zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden. Wenn es nötig ist, aus welchem Grund auch immer einen Menschen bei einem Umzug zu begleiten - ich meine jetzt nicht den Umzug auf den Friedhof, sondern innerhalb des Lebens -, dann kann ich ihn von meinem Glauben her begleiten, mit der Zusage und der Gewißheit, daß Gott mit ihm geht. Wenn ich aber nach der Ursache frage - und an dieser Stelle stehen wir im Moment -, dann kann ich ihn eben nicht begleiten, indem ich sage: Gott geht mit dir, es ist völlig wurscht, wo du wohnst, es ist völlig egal, ob das Recht oder Unrecht ist. An dieser Stelle habe ich eine andere Aufgabe.

Das ist auch der Unterschied zwischen der Seelsorge in Schleife und der Seelsorge hier bei mir. Ich bin im Moment noch an der Stelle, wo wir versuchen, eben all diese Mittel auszuschöpfen, um den Umzug und diesen Vernichtungsprozeß der Kulturlandschaft zu verhindern. Ich stehe nicht an einer anderen Stelle und ich wußte, als ich vor 35 Jahren hierherging, daß hier Kohlevorranggebiet ist. Das ist so etwas, wie in der biblischen Geschichte vom barmherzigen Samariter, daß mir Menschen, die unter die Räuber geraten sind, vor die Füße geworfen werden. Ja, und ich habe nun die Möglichkeit, vorbeizugehen und zu sagen: "Hallo, umsiedeln!" Oder ich habe die Möglichkeit zu sagen: Diesen Menschen in der konkreten Situation muß geholfen werden. Und das mache ich! Es klingt vielleicht ein bißchen pathetisch, aber in dieser Situation ist das meine mir von Gott zugewiesene Aufgabe, mich um diese Menschen zu kümmern. Punkt! Aus! Von daher spekuliere ich jetzt auch nicht darüber, was würde ich denn in 20 Jahren oder in 10 Jahren machen.

2015 sollte ursprünglich der Kabinettsbeschluß kommen, dann wird das Ja oder Nein wahrscheinlich 2016 oder 2017 getroffen, wie auch immer. Ich spekuliere jetzt nicht darüber, was passiert, wenn das Kabinett für oder gegen den Tagebau stimmt, und frage nicht, wie ich mich am besten verhalte, damit ich am meisten Geld rauskriege, wenn er kommt. Das sind Spekulationen, an denen ich mich nicht beteilige.

Protest-Transparent an der Atterwascher Kirche - Foto: © 2012 by Schattenblick

Plakativer Protest als Prophezeiung?
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Draußen vor ihrer Kirche hängt ein großes Transparent. Darauf wird mit den Worten "Atterwasch bleibt - 1284 bis 2044" die 750-Jahrfeier des Ortes angekündigt. Ist das Hoffen, Beten oder ist das Prophezeiung?

MB: Das Plakat ist entstanden, nachdem im Jahr 2007 angekündigt wurde, der neue Tagebau soll hierherkommen. 2008 habe ich das machen lassen. 1994 hatten wir die 700-Jahrfeier von Atterwasch groß gefeiert und da hat natürlich keiner daran gedacht, daß wir mal abgebaggert werden sollen. Das traf uns wie ein Schlag. Für mich war das ein Hoffnungszeichen auf der einen Seite, das sagt: Liebe Leute, es gibt Entwicklungen, die zwar wirtschaftlich gedacht werden können, die zwar bestimmten Vereinigungen wie Betrieben auch einen Profit bringen, aber die schlicht und einfach nicht gedacht werden sollten. Deshalb haben wir überlegt, wie wir das Plakat gestalten und gesagt, wir setzen ein ganz klares Zeichen: Die 750-Jahrfeier findet statt! Das ist die eine Seite, das ist ein Hoffen.

Die zweite Seite ist ein Beten, ja, auch das! Es ist so eine Art öffentliches Gebet, das da hängt. In unregelmäßigen Abständen machen wir in unseren beiden Kirchen in Kerkwitz und Atterwasch auch Gottesdienste für den Erhalt der Schöpfung, um auch im Gebet, in der geschwisterlichen Gemeinschaft innerhalb der Kirche oder profan gesagt um in der Solidarität miteinander, uns gegenseitig zu bestärken, daß die Erhaltung der Schöpfung etwas ist, was ein Auftrag an uns ist. Da öffnet sich wieder eine Schere! Gott hat den Menschen die Erde gegeben, um sie zu bebauen und zu bewahren. Das mit dem Bebauen klappt ganz gut, denn damit kann man Geld verdienen. Das Bewahren fällt hinten runter, damit kann man eben nicht so gut Geld verdienen und da ich mein Geld sowieso schon kriege, brauche ich das auch nicht. Aber dieser Teil des Bewahrens gehört als Korrektiv zum Bebauen mit dazu. Nicht, daß ich jetzt sage, der liebe Gott will, daß wir stehen bleiben. Aber ich sage, der liebe Gott will, daß wir beim Bebauen der Schöpfung nicht vergessen, daß wir die Bewahrung als ein wichtiges Element und ein wichtiges Korrektiv mit einbeziehen müssen. Insofern ist es auch ein Beten. Was war das dritte, was Sie gesagt haben?

SB: Ist es eine Prophezeiung?

MB: Eine Prophezeiung. Nein, als Prophet fühle ich mich nicht. Da müßte irgendetwas passieren, was mir bisher noch nicht passiert ist. Und es könnte ja auch sein, daß diese Prophezeiung dann, wenn das wirklich so ein göttlicher Schub ist, der da irgendwie auf einen kommt, heißt: Der Tagebau kommt. Was mache ich denn dann? Also, daher bin ich ganz froh, daß ich kein Prophet bin und nicht weiß, was da passiert.

SB: Es gab für den Tagebau Jänschwalde-Nord wie für Welzow-Süd auch schon zu DDR-Zeiten Erweiterungspläne. Das Abbaggern der Dörfer war schon geplant. Das heißt, das faktische Bedrohungspotential ist eigentlich ein Bekanntes. Gibt es eine Veränderung?

MB: Ja, es gibt eine Veränderung. Die DDR-Pläne sahen vor, daß wir hier Braunkohlevorranggebiet sind, und da sollte Atterwasch zur Hälfte abgebaggert werden. Die andere Hälfte sollte stehenbleiben. Die Pläne, die Vattenfall uns vorgelegt hat, sind noch ein bißchen schärfer. Mit der Bedrohung leben, haben wir in der DDR erlebt, allerdings unter ganz anderen Umständen. Wenn jemand laut gesagt hat, daß er der Meinung ist, es sollte nicht passieren, dann war das eine staatsfeindliche Äußerung. Auf diese staatsfeindliche Äußerung wurde gesagt: Du schädigst damit die Wirtschaft. Du schädigst damit die Eigenständigkeit, den Lauf des Sozialismus und den hält ja weder Ochs noch Esel auf, wie Erich (Anm. d. SB-Red.: Honecker) gesagt hat. Das heißt, du bist als Staatsfeind abgewandert.

Es gibt genügend, gerade unter uns Pfarrersleuten, die in DDR-Zeiten unter dieser Bedrohung eingesperrt zu werden, gelebt haben. Heutzutage sieht das anders aus. Da wird gesagt, wir wollen ein bürgerschaftliches Engagement in unserer Gesellschaft, welches produktiv und kreativ mitwirkt an der ganzen Geschichte. Da frage ich mich dann allerdings: Wollt ihr das wirklich? Also, heute wird keiner mehr eingesperrt, wenn er sagt: Ich will den Tagebau nicht oder ich halte diese Wirtschaftspolitik für verkehrt oder sonst irgendetwas. Aber ob ein Mitwirkungsrecht der Bürger wirklich gewünscht ist oder ob es nicht ein Feigenblatt ist? Da tendiere ich mehr dazu, hinter der heutigen Politik das zweite zu vermuten. Ob sich das um den Flughafen BBI (Anm. d. SB-Red.: Berlin-Brandenburg-International) handelt oder um Stuttgart 21 oder um die Kohle oder um CCS oder um irgendwas anderes, spielt keine Geige.

Blick vom Garten des Pfarrhauses auf Gebiet, das den Plänen zufolge nicht mehr abgebaggert werden soll - Foto: © 2012 by Schattenblick

Keinen sicheren Boden unter den Füßen. Pastor Berndt und SB-Redakteur stehen da, wo Braunkohle gefördert werden soll.
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Vom 11. bis zum 19. August 2012 findet zum zweiten Mal das Lausitzer Klimacamp in Jänschwalde statt. Werden Sie dabei sein und sich am Klimacamp beteiligen?

MB: Ja, klar! Im letzten Jahr war ich im Urlaub, als das Klimacamp stattfand, von daher habe ich mich da nicht sehen lassen, war aber in der Vorbereitung mit dabei.

SB: Im Klimacamp geht es ja nicht nur darum, die Braunkohlebagger zu stoppen. Was bedeutet Ihnen diese Form der Auseinandersetzung?

MB: Es bedeutet, neben dem Gefühl der Gemeinschaft, der Solidarität miteinander, daß man ganz andere Impulse kriegt. Es kommen Menschen von außen, die Sichtweisen reinbringen, die man selber hier noch gar nicht gehabt hat. Ich denke an einen Schweizer mit seinen Kreiselkrafträdern, die er machen wollte. Ob das Spinnereien sind oder nicht, mag dahingestellt sein, aber es ist einfach wichtig, Bestärkung und Anregung im Kreise von Gleichgesinnten zu kriegen. Vergleichbar, mit einem Gemeindefest, das wir machen. Einfach das Leben in der Gemeinschaft, die Lebensfreude, Ideen sprudeln lassen, auch ein bißchen rumspinnen, auch ein Bier oder einen Kaffee zusammen trinken - das gehört alles zusammen.

SB: Herr Berndt, vielen Dank für das ausführliche Gespräch!

1. Juli 2012