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INTERVIEW/224: Brokdorf, Memorial und Mahnung - Tradition ruft in die Gegenwart ...    Hartwig Zillmer im Gespräch (SB)


1986 nach dem Tschernobyl-GAU angefahren und immer noch strahlend

4. Protest- und Kulturmeile am AKW Brokdorf am 24. April 2016


Am 25. Oktober 1976 hatte die Landesregierung Schleswig-Holstein eine Teilerrichtungsgenehmigung für das AKW Brokdorf ausgesprochen und unmittelbar darauf mit dem Ausbau des Geländes zur Atomfestung begonnen. Am 30. Oktober 1976 wurde der von 2000 Polizisten und Werkschützern bewachte Bauplatz an der Elbe von Atomkraftgegnern besetzt. In der darauffolgenden Nacht wurden die Demonstrantinnen und Demonstranten von der Polizei geräumt, was aufgrund der dabei eingesetzten Reiterstaffeln, Hunde, Knüppel und chemischen Kampfstoffe wie der sogenannten Chemischen Keule zu zum Teil schweren Verletzungen unter ihnen führte. In einer ersten Stellungnahme versuchte die Landesregierung, den Widerstand zu spalten, indem sie eine radikale Minderheit für die Besetzung des Baugeländes verantwortlich machte.

Schon am 13. November 1976 wurde erneut versucht, das Baugelände zu erstürmen. Inzwischen hatte der Staat erheblich aufgerüstet. Die Wassergräben um die Atomfestung waren auf bis zu acht Meter verbreitert und eine von mehreren Reihen NATO-Draht geschützte Mauer mit Stahlgitterzaun errichtet worden. Dahinter waren 5000 Beamte der Polizei und des BGS sowie Werkschützer verschanzt, die mit Wasserwerfern, Reizgas und Knüppeln jeden Versuch vereitelten, auf das Gelände zu gelangen. Das an eine mittelalterliche Schlacht um die Eroberung einer Festung gemahnende Szenario wurde ständig von Hubschraubern überflogen, die Rauch- und Tränengasbomben auf die Demonstrantinnen und Demonstranten abwarfen. Der Atomstaat zeigte seine Zähne, was rund 700 Verletzte auf der Seite der Akw-Gegner zur Folge hatte.

Der Bauplatz soll wieder zur Wiese werden, war das erklärte Anliegen der Bürgerinitiative Umweltschutz Unterelbe (BUU). In ihrem Selbstverständnis waren nicht die Demonstrantinnen und Demonstranten gewalttätig, sondern der Staat und die Atomindustrie, die das AKW gegen den Willen der in der Wilster Marsch und im weiteren Umkreis lebenden Bevölkerung errichten wollten. Um die nächste große Demonstration, die für den 19. Februar 1977 geplant war, zu schwächen, wurde in Politik und Medien Stimmung für eine Form der Bürgerbeteiligung gemacht, bei der Einwände gegen den Bau des Akw angehört werden sollten, während der aktivere Teil des Widerstands zugleich als entschieden gewalttätig kriminalisiert wurde.

Dennoch konnte nicht verhindert werden, daß am 19. Februar über 30.000 Aktivistinnen und Aktivisten zum Baugelände in der Wilster Marsch marschierten, obwohl diese Demonstration vom zuständigen Landrat verboten worden war. Selbst viele jener ebenfalls 30.000 Menschen, um die das Massenpotential einer möglichen Besetzung des Baugeländes durch den Aufruf, sich an einer parallel stattfindenden Kundgebung in Itzehoe zu beteiligen, verringert worden war, brachen im Anschluß zu Fuß und im Auto nach Brokdorf auf, wohin die meisten Bürgerinitiativen mobilisiert hatten. Zuständig für die Spaltung des Widerstands waren vor allem Politiker der SPD und Jusos, aber auch Funktionäre der DKP, die ohnehin das Problem hatte, die zivile Nutzung der Atomenergie in der sozialistischen Staatenwelt zu rechtfertigen und sie nur unter kapitalistischen Bedingungen abzulehnen.

Der Widerstand gegen das AKW Brokdorf war auch ein Aktionsfeld der damals starken radikalen Linken Hamburgs, die die ökologischen Gründe für den Kampf gegen den Bau von Atomkraftwerken durch politische Motive antikapitalistischer und antiimperialistischer Art ergänzte. Zudem zeichneten sich die K-Gruppen und Autonomen im Vorfeld von Demonstrationen wie bei Versuchen, den Bauzaun zu durchbrechen, durch einen hohen Organisationsgrad aus. Militanz gegen Sachen war zwar umstritten, aber auch deshalb nicht gänzlich tabu, weil die schwerwiegenden Folgen der zivilen Nutzung der Atomenergie für die weltweite atomare Aufrüstung, den Ausbau des staatlichen Repressionsapparats, die Konzentration des Kapitals in monopolistischen Großkonzernen und die imperialistische Einflußnahme auf Länder des Südens wie etwa die Unterstützung des rassistischen Apartheid-Regimes in Südafrika weiteren Teilen der Bevölkerung bekannt waren.

Auch durch weitere Proteste wie jene Demonstration, zu der am 28. Februar 1981 100.000 Menschen in die Wilster Marsch aufbrachen, konnte die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf nicht verhindert werden. Am 8. Oktober 1986 wurde das Kraftwerk angefahren und ging damit nur sechs Monate nach dem GAU von Tschernobyl am 26. April 1986 ans Netz. Man hätte diese Weltpremiere auch als eine besonders zynische Form der Provokation eines Widerstands bezeichnen können, der seinen Zenit bereits überschritten hatte, auch wenn es in Reaktion auf Tschernobyl noch zu einer großen Demonstration in Brokdorf kam.

Nicht umsonst machten sich schon zu dieser Zeit einige in der Anti-AKW-Bewegung groß gewordene Politiker auf, für das Ihrige zu sorgen und die Seiten zu wechseln. Ist ein ehemaliges KBW-Mitglied wie Winfried Kretschmann heute als Chef einer Koalitionsregierung aus Grünen und CDU einem transnationalen Akteur wie Daimler-Benz verpflichtet, zu dessen Geschäftsbereichen auch der Bau von Kraftwerksturbinen und Kriegswaffen gehört, dann ist das nur ein Beispiel dafür, daß zwischen dem ökologischen Aktivismus der 1970er Jahre, dessen Radikalität durch Tschernobyl und Fukushima im Nachhinein legitimiert wurde, und der heutigen Umweltpolitik der aus der Anti-AKW-Bewegung hervorgegangenen Grünen Welten liegen.

In Brokdorf traf der Schattenblick mit Hartwig Zillmer einen Aktivisten aus jener Zeit, der nicht vergessen hat, wo er herkommt, wie auch sein Engagement gegen den Bau neuer AKWs in Polen zeigt.


Im Gespräch - Foto: © 2016 by Schattenblick

Hartwig Zillmer
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Sie sind heute mit dieser lila Fahne nach Brokdorf gekommen. Welche Bewandtnis hat es damit?

Hartwig Zillmer (HZ): Die Fahne mit der Aufschrift "Kein AKW in Brokdorf und auch nicht anderswo" geht auf eine Initiative von Referendarinnen und Referendaren in der Hamburger Schulbehörde aus den 70er Jahren zurück. Die Sammelfahne stand für unseren gemeinsamen Protest. Auf diese Weise hatten wir unseren Beitrag für die Anti-AKW-Demonstrationen geleistet. Weil ich am längsten im Schuldienst war, trug ich die Fahne vor uns her, war sozusagen der Beauftragte für die Standarte. Auch als wir mit unseren Kindern und Nachbarkindern ins Wendland gingen, war die Sammelfahne immer mit dabei. Zweimal kam die Polizei und wollte die Fahne einziehen, aber das hatten wir zu verhindern gewußt.

SB: Waren Sie auf allen vier hier aufgeführten Brokdorf-Demonstrationen dabei?

HZ: Ja, von 1976 bis 1981, wobei die von 1981 die größte und leider auch die militanteste war, weil Bundesgrenzschutz und Polizei die Notstandsgesetze zur Anwendung brachten. Das führte zu großen Verwerfungen und Radikalisierungen und auf politischer Ebene zu einem kurzfristigen Moratorium. Ich komme aus Hamburg und war damals Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern. Schon seinerzeit hatten wir mit einer Revision des Physikunterrichts begonnen, daß nicht nur Atomenergie gelehrt werden durfte, sondern auch regenerative Energien, Geothermie und sonstige Energieformen. Jedes große Unglück bringt natürlich auch einen richtigen Schub an Informationen, und so lernten wir als Lehrer nach Tschernobyl 1986 das erste Mal, wie man Strahlen mißt. Dabei kam uns zupaß, daß wir in den Schulen immer Zugriff auf Meßgeräte hatten. Ich bin mit einer Polin verheiratet, und wenn wir nach Polen fuhren, habe ich das Meßgerät immer mitgenommen und nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl in den südlichen Landesteilen Messungen vorgenommen.

SB: Wie haben Sie sich damals auf die Demonstrationen vorbereitet?

HZ: Hier in Brokdorf ging es natürlich darum, mit starkem Polizeiaufgebot Massenmobilisierungen zu verhindern, die immer wieder neue Kreativitätsformen hervorgebracht hatten. So hatten wir uns im Fachbereich Sport in Hamburg auf einer Wiese in Allermöhe auf die Demos vorbereitet, indem wir das Ankerschwingen lernten. Das führte dazu, daß in den Schiffszubehörläden in Hamburg kaum noch kleine oder mittelgroße Anker zu haben waren. Jedenfalls konnten wir die Anker auf 20 bis 25 Meter präzise werfen. Das war genau die Distanz, die wir brauchten, um an die damals noch nicht so stark wie heute befestigten Zäune heranzukommen. Aus dieser Entfernung mußte der Anker im Zaun festhaken. Am Anker waren 50 Meter Seil befestigt, und wenn dann hundert Leute daran zogen, hat das kein Zaun ausgehalten.

SB: Die damaligen Aktionen waren offensichtlich ziemlich gut organisiert. Ich erinnere mich noch an Trupps von Aktivisten mit Motoradhelmen, die gemeinsam ein dickes Tau trugen und auf dem Marsch nach Brokdorf regelrechte Seilschaften bildeten.

HZ: Das ist faszinierend, wie das damals gelaufen ist. Die Bildung von Kleingruppen war auch eine Schutzmaßnahme. Wir hatten immer eine Telefonnummer parat, um bei Festnahmen gegebenenfalls darauf zurückzukommen. Heute würde man sagen, es war ein faszinierendes Schwarmverhalten. Man hätte nicht sagen können, wo die Aktionen herkommen, mal links oder rechts herum. Dahinter standen Erfahrungswerte und spontane Reaktionen. Allerdings hat man dann im Laufe der Zeit gemerkt, daß sich auch eine kleine militante Minderheit entwickelte, und das wurde dann doch unangenehm.

SB: Die Frage, wie man die Militanz von damals heute bewerten soll, ist sicherlich schwer zu beantworten. Aus der Rückschau läßt sich jedoch sagen, daß der Atomausstieg zu einem Gutteil von der Anti-AKW-Bewegung erkämpft wurde. Glauben Sie, daß es ohne die Entschiedenheit der damaligen Aktivistinnen und Aktivisten so weit gekommen wäre?

HZ: Ich glaube nicht. Ich habe damals auch eine Militanz erfahren, die ich vorher so gar nicht kannte. Wenn man Ja zum Widerstand sagt, muß man auch die Frage nach den Mitteln stellen, die man dann einsetzt. Ich möchte diesen Punkt an einem Beispiel verdeutlichen. Ich war jetzt eine Woche lang in Nordpolen und habe dort mit Bewohnern aus fünf Orten, die im Widerstand gegen Regierungspläne zum Bau eines AKWs organisiert sind, gesprochen. Mit Hilfe von Geldern aus der Stiftung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit haben wir den Film von Antje Hubert "Das Ding am Deich" an diesen fünf Orten mit polnischer Untertitelung gezeigt. Die Menschen waren erschüttert, weil sie begriffen haben, daß die Originaltöne von Stoltenberg und den anderen Lügenbaronen von damals eins zu eins kompatibel sind mit den Argumenten der polnischen Regierung heute. Die Leute sagten, dies mache ihnen Angst, weil sie wissen, daß auch sie so militant sein können wie die Aktivisten im Film, und jetzt gelernt haben, was es für Deutschland bedeutet hat, eine solche Erfahrung gemacht zu haben. Ich konnte den Polen aber erklären, daß aus der Widerständigkeit auch viel Kreatives und Neues erwachsen kann.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

Eine umfassende Dokumentation mit zahlreichen Originaldokumenten des Widerstandes gegen den Bau des AKW Brokdorf bietet die Webseite "Materialien zur Analyse von Opposition" (MAO) unter dem Stichwort "AKW Brokdorf"

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23. Mai 2016


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