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INTERVIEW/213: Profit aus Zerstörungskraft - die Faust des Bösen ...    Jonathan Frerichs im Gespräch (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Jonathan Frerichs über seine Arbeit für den World Council of Churches, die Methode der "Stereo-Fürbitte" und sein Einsatz für die Abschaffung von Atomwaffen


Es sei ihm eine Ehre, als erster US-Außenminister das Friedensgedenkmuseum in Hiroshima zu besuchen, schrieb John Kerry am Montag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Kerry war das bislang ranghöchste Regierungsmitglied der Vereinigten Staaten, das diese Gedenkstätte aufgesucht hat. Allerdings hatte es bereits im Vorwege von offizieller Seite geheißen, daß eine Entschuldigung für den Atombombenabwurf der USA am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima von dem Außenminister nicht zu erwarten sei. [1]


Blick über die nahezu restlos zerstörte Stadt - Foto: US-Regierung, bearbeitet von User:W.wolny, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Auswirkungen des Atombombenabwurfs am 6. August 1945 auf Hiroshima. Die Bombe ließ keinen Stein auf dem anderen, und die Einwohner der Stadt sind zu Zehntausenden verdampft, verschmort oder auf andere furchtbare Weise umgekommen.
Blick vom Dach des noch im gleichen Jahr aufgebauten Krankenhauses des Rotes Kreuzes in nordwestliche Richtung.
Foto: US-Regierung, bearbeitet von User:W.wolny, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Es hätte indes dieser Bestätigung nicht bedurft, um festzustellen, daß die US-Regierung heute genauso wie vor über 70 Jahren den Einsatz von Atomwaffen für gerechtfertigt hält. Die atomaren Massenvernichtungswaffen werden gegebenenfalls wieder eingesetzt, sollte sich Washington nach Abwägen des Für und Widers einen ausreichend großen Vorteil davon versprechen. Noch heute herrscht unter US-Militärs und -Politikern die Ansicht vor, daß die beiden Atombombenabwürfe notwendige Maßnahmen waren, um Frieden zu schaffen und noch mehr Leid zu vermeiden.

Kerry war zum G7-Außenministertreffen nach Hiroshima gereist. Dort hatte ihm sein japanischer Amtskollege Fumio Kishida unter anderem eine Kopie des Briefs von US-Präsident Abraham Lincoln an den 14. Tokugawa Shogun Iemochi aus dem Jahre 1861, in dem die Rückkehr eines US-Botschafters nach Japan angekündigt wird, überreicht. Dieses Geschenk ist als deutliches Bekenntnis Japans zur Allianz mit den USA zu sehen, wenn man bedenkt, daß es damals erst sieben Jahre zurücklag, daß US-Admiral Perry mit Hilfe einer Kriegsflotte die Öffnung Japans für den Westen erzwungen hatte.

US-Außenminister Kerry bedankte sich bei seinem Gastgeber für das Geschenk, betonte seinerseits die Stärke des amerikanisch-japanischen Bündnisses und sagte: "Ich freue mich, im Verlauf dieses Tages gemeinsam mit Fumio und unseren anderen Ministern den Friedensgedenkpark zu besuchen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem hoffentlich der Welt die Bedeutung von Frieden und die Wichtigkeit von starken Verbündeten, die zusammenarbeiten, um die Welt sicherer zu machen, klar wird. Auch hoffe ich, daß wir letztendlich fähig sein werden, die Massenvernichtungswaffen aus der Welt zu schaffen." [2]

Unausgesprochen hat Kerry damit gesagt: Erst wenn alle anderen Staaten keine Atomwaffen mehr haben, fühlen wir uns sicher; bis dahin sehen wir uns jedoch gezwungen, sie zu behalten. So sind es stets jene Staaten, die selber keine Atomwaffen besitzen, die deren Abschaffung fordern. Unterstützung erhalten sie dabei von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie zum Beispiel dem IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die deutsche Sektion heißt IPPNW Deutschland - Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V.). Auf dem internationalen IPPNW-Kongreß "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl", der vom 26. bis 28. Februar 2016 in Berlin stattfand, zeigte sich, daß diese Organisation bei weitem nicht die einzige ist, die sowohl die militärische als auch die zivile Nutzung der atomaren Spaltung ablehnt, sondern daß auch andere darin ein Schwert mit zwei Schneiden erkennen.

Ein entschiedener Gegner der Atomspaltungstechnologie ist Jonathan Frerichs, ehemaliger Leiter des Programms für Frieden und Abrüstung beim World Council of Churches (Weltkirchenrat) und ihr heutiger Berater in internationalen Angelegenheiten. Er ist Mitglied der Evangelical Lutheran Church in America und Vertreter von Pax Christi International bei den Vereinten Nationen in Genf.


Frerichs beim Vortrag - Foto: IPPNW, freigegeben als CC BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/] via Flickr

Jonathan Frerichs, 26. Februar 2016
Foto: IPPNW, freigegeben als CC BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/] via Flickr

Am Eröffnungstag des IPPNW-Kongresses hielt Frerichs einen Vortrag zum Thema "Anniversaries of hope". Darin berichtete er unter anderem von einer Pilgerreise, die sieben Kirchenführer im August 2015 nach Hiroshima und Nagasaki, zum 70. Jahrestag der Atombombenabwürfe, gemacht haben. Zwei der Mitglieder der Delegation kamen aus Ländern, die Atomwaffen besitzen - USA und Pakistan - und fünf aus Ländern, die unter dem nuklearen Abwehrschirm leben: Deutschland, Norwegen, Niederlande, Südkorea und Japan. Wäre das ein Film, sagte Frerichs bei der Präsentation einiger Bilder seiner Reise, handelte er von einer Gruppe von Kirchenführern, die in einem Verbrechen ermitteln und die Spur in ihre jeweiligen Länder zurückverfolgen, wo die Regierungen daran arbeiten, das gleiche Verbrechen erneut zu begehen ...

Das Verbrechen bestand in dem Abwurf einer Atombombe auf Hiroshima, wo ca. 80.000 Menschen schlagartig und noch einmal die gleiche Anzahl binnen eines Jahres starben, und einer auf Nagasaki, wo 22.000 Einwohner sofort und weitere vermutlich 90.000 innerhalb der nächsten vier Monate verendeten.

Die Kirchendelegation hat in Tokio bei dem für Abrüstungsfragen zuständigen Regierungsmitglied im japanischen Außenministerium vorgesprochen und ihm drei Fragen gestellt, ähnlich denen, die auch den eigenen Regierungen im Anschluß an die Reise gestellt werden sollten:

1.) Warum ist die Regierung 70 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki bereit, Hunderte Städte auf gleiche Weise zu zerstören?

2.) Wie kann es sein, daß Atomwaffen noch immer legal sind, während alle anderen Massenvernichtungswaffen verboten sind?

3.) Wann wird sich unsere Regierung der wachsenden Mehrheit der Länder, die inzwischen ein Schließen dieser Rechtslücke fordern, anschließen?

Welche Antwort die Regierung der USA auf diese Fragen gegeben hat, wissen wir nicht. Es läßt sich aber ahnen, wenn man den früheren Kriegsdienstverweigerer John Kerry heute reden hört. Wer wie er die Abschaffung der Atomwaffen als ultimatives Fernziel verheißt, will offenbar davon ablenken, dazu die notwendigen ersten Schritte zu tun. Die US-Regierung hat beschlossen, ihre Atomwaffen, zu denen auch die schätzungsweise 20 Exemplare vom Typ B61 auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel gehören, in erheblichem Umfang zu modernisieren. Experten sprechen bereits von einer Waffe mit neuen militärischen Fähigkeiten.


Der völlig verbrannte Körper eines Mädchens, gestützt von medizinischem Personal - Foto: Quelle unbekannt, hochgeladen von Shiotsuki, Masao. Freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Die Spur des Verbrechens ...
Eine 14jährige Schülerin aus Nagasaki, am 10. August 1945.
Foto: Quelle unbekannt, hochgeladen von Shiotsuki, Masao. Freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

Im Anschluß an seinen Vortrag stellte sich Jonathan Frerichs dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Schattenblick (SB): Sie haben für den World Council of Churches, den ökumenischen Weltkirchenrat, gearbeitet. Mit welchen Themen waren Sie dabei befaßt?

Jonathan Frerichs (JF): Mit der Abschaffung der Atomwaffen, dem Vertrag über den Waffenhandel, der 2013 verabschiedet wurde, Landminen und tödliche autonome Waffensysteme wie den Drohnen. Dazu habe ich mich eine Zeitlang im Mittleren Osten, in Israel, Palästina und Syrien, aufgehalten.

Ich hatte beim World Council of Churches, den ich heute berate, zu diesen Themen eine Reihe von Reportagen und anderen Artikeln verfaßt. Meine Hauptarbeit bestand darin, die Standpunkte der Kirchen aus den verschiedenen Ländern auf eine Weise zu vereinigen, daß ihre Stimme bei den Vereinten Nationen gehört wird. Das ist nicht unwichtig, denn es gibt nur sehr wenige Institutionen in der Welt, die durch ihre Mitgliederzahlen eine größere Reichweite haben - wir haben allein 350 Mitgliedskirchen. Wenn 50 Kirchen in 50 Ländern etwas zusammen machen, ist das großartig, und die Kirchen stellen fest, daß sie Kraft haben, wenn sie gemeinsam handeln.

Wir leisten Fürbitte, indem wir politische Stellungnahmen ausarbeiten und Entscheidungen treffen, was wir unterstützen wollen. Das gilt vor allem für das, was für unseren Glauben am wichtigsten ist und was die Menschen am meisten benötigen. Die Kirchen geben dann zu bestimmten Dingen den Anstoß, indem sie einerseits Kontakt mit den Regierungen in den jeweiligen Ländern aufnehmen und die gleichen Regierungen über die Vereinten Nationen mit unserem Anliegen, auf das wir uns geeinigt haben, aufsuchen. Wir nennen das "Stereo-Fürbitte": Eine Regierung hört das gleiche wie ihr Vertreter bei den Vereinten Nationen. Und wenn auf andere Länder in gleicher Weise Druck ausgeübt wird, kann das etwas bewirken.

SB: Was würden Sie sagen, warum Atomwaffen existieren - trotz oder wegen der verheerenden Konsequenzen ihres Einsatzes?

JF: Wegen der verheerenden Konsequenzen. Sie sind die dickste Keule, die jemals erfunden wurde. Sie verleitet Menschen dazu zu glauben, sie hätten das ultimative Werkzeug gefunden, sie seien besser als andere, seien wichtiger, schlauer und gewitzter. Es gibt viele, viele Dinge im Zusammenhang mit Atomwaffen, von denen der Mensch annimmt, er habe sie unter Kontrolle, aber in Wirklichkeit wird er von ihnen kontrolliert.

Ich habe eine Zeitlang in Papua-Neuguinea gelebt und gearbeitet. Dort herrscht traditionell Animismus als Religion vor. Die Menschen glauben an Zauberer und böse Geister. Ich bin der Ansicht, daß es einige Parallelen zwischen einer Atomwaffe und einem bösen Geist gibt. Selbst wenn sie die ausgeklügeltste Sache der Welt ist, die den weitestgehenden technologischen Fortschritt repräsentiert, hat sie einige Wesensmerkmale, die auch einem bösen Geist zugesprochen werden. Die Menschen sind dem Glauben verfallen, die Atomwaffe befände sich in ihrem Besitz, aber in Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: sie sind von ihr besessen.

Sobald man Atomwaffen akzeptiert, ist das erste, was sich verabschiedet, die Wahrheit. Das gilt im übrigen sowohl für Atomwaffen als auch Atomenergie. Wer über sie verfügt, hat die Macht zu bestimmen, was die Wahrheit ist. Weder kann man zu seinen eigenen Leuten ehrlich sagen noch zu anderen, was man bereit ist, ihnen anzutun.

Ich halte das für ein sehr wichtiges, moralisches Problem, das in den Vereinigten Staaten verleugnet wird. Alex Rosen [3] erwähnte vorhin in seinem Vortrag die Initiative "Atome für Frieden" [4]. Ich halte das für ausschlaggebend: Wir hätten nicht an so vielen Orten Atomkraftwerke, wenn sie nicht auf eine Weise benutzt würden, wie sie benutzt werden, nämlich als Deckung für wenige Staaten, Atomwaffen zu besitzen. Damit sie diese Waffen erlangen konnten, haben sie regelrecht dafür geworben, daß alle anderen Atomkraftwerke erhalten. Das ist der völlige Wahnsinn, manipulativ und bis dort hinaus von öffentlichen Geldern finanziert. Da wird die Naivität der Menschen ausgenutzt und eine Propaganda eingesetzt, die Goebbels die Schamesröte ins Gesicht triebe - das ist "Atome für Frieden"! Es gibt keinen friedlichen Einsatz von Atomenergie, sieht man einmal von einem geringen Umfang in Medizin und Agrarwissenschaften ab.


Vier B61 auf einem Transportwagen auf der Luftwaffenbasis Barksdale, Louisiana, 1. Dezember 1986 - Foto: United States Department of Defense, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

... führt zu den Atommächten ... Etwa 20 Atombomben dieses Typs, B61, befinden sich auf dem Fliegerhorst Büchel.
Foto: United States Department of Defense, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

SB: Auf der Eröffnungsseite der Initiative Breaking the nuclear chain, also die nukleare Kette durchbrechen, heißt es: Den persönlichen Geschichten zuzuhören kann unsere Empathie wecken und und uns begreifen lassen, wie verletzlich wir gegenüber der nuklearen Bedrohung sind und wie wichtig es ist, etwas zu tun, um sie beseitigen. [5] Glauben Sie, daß es möglich ist, mit Empathie die Welt zu retten?

JF: Nein. Man muß die Empathie in etwas übersetzen, das politisch relevant ist. Man braucht dazu Zahlen, wie ich es in meinem Vortrag gesagt habe, man braucht ein bestimmtes Ziel. Man muß kein Experte sein, aber man muß über bestimmte Dinge Bescheid wissen, die verändert werden sollten. Als Kirche sollten diese Dinge eben auch für die Kirche relevant sein. Man ist weder Wissenschaftler noch Mediziner, und am stärksten ist man, wenn man von den eigenen Werten ausgeht. Sehr viele Regierungen, sogar von säkularen Ländern, haben durchaus die Erwartung, daß die Kirche für etwas steht, das auch für sie von Wert ist. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich von einer Kirche komme.

SB: Was verstehen Sie unter der "nuklearen Kette"?

JF: Es ist gut, daß Sie von "Kette" und nicht von "Kreislauf" sprechen. Mit Kette ist die Verwendung des Urans von Beginn an gemeint, also vom Bergbau über das Zermahlen des Gesteins, die Anreicherung, über den Einsatz des Brennstoffs, die Verbringung der abgebrannten Brennelemente, möglicherweise die Wiederaufbereitung und der Umgang mit dem Abfall bis in die Ewigkeit. Einige der Elemente sind noch in einer Million Jahre tödlich. Spräche man dagegen von einem Kreislauf, weckte das Assoziationen zum Recycling und man könnte das für eine gute Idee halten. Aber es ist kein Kreislauf, auch wenn man einen Teil des Brennstoffs wiederverwenden kann.

SB: Hat die Kette überhaupt ein Ende?

JF: Ja, ihr Ende ist ein Tag, der liegt von heute an gerechnet irgendwo in zwei oder drei Millionen Jahren, wenn von dem Brennstoff keine Gefahr mehr ausgeht. Es sei denn, irgend jemand erfindet bis dahin einen Weg, den Abfall wieder in Uran oder in etwas anderes umzuwandeln. Vielleicht ist das ja möglich, ich bin kein Nuklearchemiker.

SB: Der ehemalige US-Präsident George W. Bush hat sich gern religiöser Termini bedient, um den globalen Krieg gegen den Terror zu legitimieren. Was denken Sie als religiöser Mensch: Läßt sich mit dem christlichen Glauben überhaupt irgendeine Form von Krieg rechtfertigen?

JF: Das ist von Christ zu Christ verschieden. Viele Christen würden diese Frage mit Ja beantworten. Ich persönlich bin der Ansicht, daß es zunächst einmal wichtig ist zu versuchen, dem Beispiel von Jesus zu folgen. Aber ich bin nicht davon überzeugt, daß es realistisch ist, in dieser Hinsicht ein Idealist zu sein.

Wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen funktionieren und ordentlich arbeiten würde - das ist jetzt idealistisch, denn der Sicherheitsrat und mit ihm die Regierungen haben das Monopol über Atomwaffen -, und wenn in einer extremen Situationen eine Kraft gebraucht würde, sollte es sich um eine internationale Truppe handeln, die nur entsendet würde, wenn eine Bedrohung auftritt, die auf keine andere Weise gehandhabt werden könnte. Dann bin ich der Meinung, hat man einen Fortschritt. Jede Regierung besäße allerdings das gleiche Stimmgewicht.

Als Amerikaner bin ich entsetzt, daß meine Landsleute den Krieg lieben und daß sie es ebenso lieben, Schußwaffen in ihrem Haus zu haben. Das hat nichts mit christlichem Glauben zu tun, aber die Religionen können schlafen und so tun, als sei das in Ordnung. Meiner Ansicht nach ist Krieg der gleichen Kategorie zuzuordnen wie Sünde. Wenn Sie an die Sünde glauben und daran, daß die Menschen nicht perfekt sind, dann folgt daraus, daß Menschen Fehler begehen. Krieg ist ein unglaublicher Fehler. Vielleicht gibt es irgendwann einmal den sehr seltenen Zeitpunkt, da er nützlich sein könnte, aber er sollte die aller-, aller-, allerletzte Option sein. Tatsächlich ist er oftmals die allererste Option, die von den Entscheidungsträgern in Anspruch genommen wird, wenn es zu Mißstimmungen kommt.

Ich finde das aktuelle Auftreten von ISIS sehr interessant. Viele Menschen, die sich bislang als pazifistisch eingeschätzt haben, sind nicht glücklich mit dem Islamischen Staat und würden ihn am liebsten vernichten. Wenn man nun an das Gebot der Bibel, liebe deinen Feind, denkt, was bedeutet das dann? Es wird auch bei ISIS irgend jemanden geben, mit dem man sprechen kann oder zu dem man einen Weg findet, um mit ihm zu sprechen.

SB: Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie ein ähnliches Projekt, wie Sie es mit der Reise der Kirchenführer nach Japan durchgeführt hatten, machen, um mit dem Islamischen Staat zu sprechen?

JF: Ich glaube, dafür wären die Leute zu ängstlich. Meiner Meinung nach müßte man etwas anfangen, bei dem man zunächst sehr vorsichtig Kontakte knüpft und damit nicht gleich an die Öffentlichkeit geht. Denn das ist sehr gefährlich. Vielleicht findet man einen Weg, diejenigen zu erreichen, die sich von ISIS angezogen fühlen. Generell habe ich die Erfahrung gemacht, daß man viele Dinge erreichen kann, wenn man sich ihnen von verschiedenen Blickwinkeln aus nähert.


Ein Panavia Tornado des in Büchel stationierten Jagdbombergeschwader 33 beim Start vom Royal International Air Tattoo, Fairford, Gloucestershire, am 20. Juli 2009. - Foto: Adrian Pingstone, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

... und ihren Verbündeten.
Im Rahmen der nuklearen Teilhabe könnten auch Tornado-Jagdbomber der Bundeswehr Atomwaffen ins Ziel befördern.
Foto: Adrian Pingstone, freigegeben als gemeinfrei via Wikimedia Commons

SB: Im Jahr 2009 hat US-Präsident Barack Obama den Friedensnobelpreis erhalten, nicht zuletzt für seine Vision einer atomwaffenfreien Welt. Sind wir dieser Welt heute näher gekommen als damals?

JF: Ja, aber nicht wegen Obama. Das war eine unglückliche Entscheidung, sie kam zu früh. Ich vermute, das Nobelpreiskomitee hat sich mitreißen lassen und nicht nachgedacht. Obama hatte 2009 in Prag [6] eine gute Rede gehalten, aber schaut man sich die Polarisierung der US-Politik an, so hat er nicht viel erreicht. Und das war eines der stärksten Anliegen, über das er je gesprochen hat. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß er es verwirklicht. Ich finde das sehr enttäuschend, aber in gewisser Weise auch nicht überraschend.

Also, wir sind dieser Welt nicht wegen Obama, sondern wegen ICAN [7] näher gekommen. Die Organisation wirft ähnliche Fragen auf, wie ich sie in meinem Vortrag gestellt habe. Warum sind Nuklearwaffen noch immer legal, während alle anderen Massenvernichtungswaffen illegal sind? Die großen Mächte haben durch ihr Verhalten gezeigt, daß sie glücklich darüber sind, chemische und biologische Waffen als illegal erklärt zu haben - obgleich sie sich viel Zeit mit ihrer Beseitigung lassen. Aber mit Atomwaffen soll nicht das gleiche geschehen. Es bestehen somit doppelte Standards, und das ist immer das Problem. Solche doppelten Standards sind Auslöser von Kriegen und Ungerechtigkeit. Deshalb können wir es uns nicht leisten, uns zufrieden zurückzulehnen.

Die Atomwaffenstaaten haben nur schwache Argumente auf ihrer Seite. Die öffentliche Meinung schwankt kein bißchen, bei jeder Umfrage in jedem Land sprechen sich die Leute in Meinungsumfragen mehrheitlich für die Abschaffung von Atomwaffen aus. Mit Ausnahme von Pakistan. Es ist das einzige Land, in dem die Mehrheit Atomwaffen befürwortet. Die pakistanische Regierung macht eine wirksame Propaganda, indem sie behauptet, man müsse Größe zeigen und sich gegenüber Indien behaupten.

ICAN und der Humanitarian Initiative [8], die größer ist als ICAN, ist es gelungen, sich auf den menschlichen Faktor zu besinnen und nicht allgemein Nationen anzusprechen. Wenn jemand sagt, er brauche Atomwaffen für seine Sicherheit, sagst du zu ihm, "Quatsch!" [9], und erwiderst: "Deine Sicherheit ist meine Unsicherheit. Wir brauchen Sicherheit für alle." Das haben die Vereinten Nationen viele Male erklärt: Es geht um Sicherheit für alle, um unteilbare Sicherheit - Sicherheit ist nicht teilbar.

Wer sich für Atomwaffen ausspricht, verletzt dabei sehr grundlegende Dinge. Traurigerweise besitzen die größten Länder der Welt, also die, die einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat haben, alle Atomwaffen. Das muß sich ändern, und wir sind näher dran als früher.

SB: Auch wegen des Atomabkommens mit dem Iran [10]?

JF: Das ist ein kleiner Teil davon und ein gutes Beispiel dafür, was in Bewegung gesetzt werden kann. Behutsame, umsichtige Verhandlungen können einen Fortschritt bringen. Möglicherweise gelingt das gleiche mit Atomwaffen - auch wenn keine der Atommächte das möchte. Die sind vielleicht sehr gut darin, zu den Programmen anderer zu arbeiten, aber nicht zu den eigenen! Wir sind Bürger dieser Länder, und Deutschland als ein Staat unter dem Raketenabwehrschirm, ist daran beteiligt.

SB: Herr Frerichs, vielen Dank für das Gespräch.


Frontseite des Urania-Gebäudes mit Kongreßankündigung - Foto: IPPNW, freigegeben als CC BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/] via Flickr

Ein Kongreß zur Abschaffung sowohl der Atomwaffen als auch der Atomkraftwerke.
Foto: IPPNW, freigegeben als CC BY-NC-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/] via Flickr


Fußnoten:


[1] http://www.dailymail.co.uk/wires/ap/article-3532689/US-official-Kerry-offer-no-US-apology-Hiroshima.html

[2] http://www.state.gov/secretary/remarks/2016/04/255679.htm

[3] Dr. med. Alex Rosen ist Kinderarzt in Berlin und seit 2013 Vorstandsmitglied und Stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW-Sektion. Er hielt auf dem Kongreß den Vortrag "Leben mit der Bedrohung".
http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/T30F5/Rosen_final.pdf

[4] Atome für Frieden - Atoms for Peace - hieß der Titel einer Rede des US-amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower am 8. Dezember 1953 vor der UN-Vollversammlung. In dieser Rede entwirft Eisenhower seine Idee von der friedlichen Nutzung der Kernenergie, aber er spricht sich keineswegs für die unverzügliche Abschaffung der Atomwaffen aus.
https://web.archive.org/web/20070524054513/http://www.eisenhower.archives.gov/atoms.htm

[5] breakingthenuclearchain.org

[6] Obamas Rede in Prag erfolgte am 5. April 2009, nur ein halbes Jahr darauf erhielt er den Friedensnobelpreis.
https://cz.usembassy.gov/our-relationship/president-obamas-speech-in-prague/

[7] ICAN: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, z. Dt.: Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen

[8] Die Humanitarian Initiative ist im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags entstanden und umfaßt eine Gruppe von 159 Staaten (2015), die etwas gegen die schleppende Geschwindigkeit bei der Abschaffung von Atomwaffen unternehmen wollen.

[9] In dem auf Englisch geführten Interview hat Jonathan Frerichs, dessen Vorfahren aus Norddeutschland kommen, das deutsche Wort "Quatsch" verwendet.

[10] Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich im Jahr 2015 der Iran und der Westen auf ein Atomabkommen geeinigt. Die von den USA und der EU gegen Iran verhängten Sanktionen wurden im Januar dieses Jahres aufgehoben.


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

INTERVIEW/209: Profit aus Zerstörungskraft - so was wie Diabetes ...    Liudmila Marushkevich im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0209.html

INTERVIEW/210: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0210.html

INTERVIEW/211: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0211.html

INTERVIEW/212: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 3 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html

11. April 2016


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