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INTERVIEW/122: Nachdenklich, nachweislich, nachhaltig - Gekocht und nachgewürzt ... Ernst Ulrich von Weizsäcker im Gespräch (SB)


Interview mit Ernst Ulrich von Weizsäcker am 24. Juni 2014 in Berlin



Ernst Ulrich von Weizsäcker über Pazifismus im Herzen, gelungene Anfängereien und warum die Wirtschaft den Begriff Nachhaltigkeit dem des Umweltschutzes vorzieht

Am Vortag zu seinem 75. Geburtstag, der am 25. Juni mit einem Symposium an der Humboldt Universität zu Berlin und einem Empfang im Roten Rathaus gefeiert wurde [1], besuchte Ernst Ulrich von Weizsäcker die Geschäftsstelle der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) aus Anlaß einer Pressekonferenz. Als ehemaliger Vorstandsvorsitzender und heutiger Beirat der VDW fühlt er sich mit dieser von seinem Vater Carl Friedrich von Weizsäcker 1959 mitgegründeten Einrichtung eng verbunden. Eigenem Bekunden zufolge reflektiert die VDW kritisch die Verantwortung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern "für die Folgen von wissenschaftlicher Forschung und Technik" und nimmt mit "fundierter Expertise aktiv an der gesellschaftlichen Debatte, vor allem auf den Gebieten Frieden, Klima, Biodiversität und Ökonomie, teil".

Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ernst Ulrich von Weizsäcker
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ernst Ulrich von Weizsäcker war unter anderem Präsident der Universität Kassel, Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik in Bonn, London und Paris, Co-Vorsitzender des UNEP International Resource Panel und von 1998 bis 2005 Bundestagsabgeordneter. 2012 wurde er zum Co-Präsidenten des Club of Rome ernannt. Auf die Frage der Presse, was denn bei seinen vielen institutionellen Anstößen rückblickend der bedeutendste gewesen sei, antwortete er, daß er vieles angefangen habe, seine erfolgreichste "Anfängerei" aber sei das Wuppertal Institut gewesen.

Das 1991 gegründete Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie wurde von ihm bis zum Jahr 2000 geleitet. In dieser Zeit hat von Weizsäcker einige Diskurse angestoßen, nicht zuletzt durch die Forderung nach einer höheren Energieeffizienz um den "Faktor vier" und später "Faktor fünf", so die Titel der 1995 bzw. 2000 veröffentlichten, gleichnamigen Bücher.

Im Anschluß an die Pressekonferenz stellte sich Ernst Ulrich von Weizsäcker dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Schattenblick (SB): Herr von Weizsäcker, wissen Sie noch, wann Sie zum ersten Mal den Begriff "Nachhaltigkeit" vernommen haben und was Sie schließlich bewogen hat, sich den damit verbundenen Fragen zu widmen?

Ernst Ulrich von Weizsäcker (EUW): Das war 1981, also noch vor dem Brundtland-Bericht [2]. Damals wurde eine Studie veröffentlicht, in der festgestellt worden war, daß es der Umwelt nicht besser geht. Darin kam der Begriff "sustainable yield" - nachhaltige Ernte - vor. Das war explizit eine Übersetzung zu der "nachhaltigen" Forstwirtschaft, das heißt, das Wort "sustainable" ist eine Übersetzung aus dem Deutschen und wurde hier in den Kontext "sustainable yield" gestellt. Natürlich habe ich dann auch die Entstehungsgeschichte des Brundtland-Berichts von 1984 bis '87 mitgekriegt, in dem nachhaltige Entwicklung zu dem zentralen Begriff wurde. Aber im Grunde war das ein fauler Kompromiß. Die Entwicklungsländer, die in der Brundtland-Kommission die Mehrheit hatten, wollten nichts anderes als Entwicklung. Und Gro Brundtland hat dann gesagt: "Aber wir sind doch eine Umweltkommission!" Schließlich hat man sich auf "nachhaltige Entwicklung" geeinigt.

Ich hatte damals durchaus schon eine ökologische Vergangenheit. So hatte ich bereits in den siebziger Jahren im Gründungssenat der Universität Essen und als erster ordentlicher Biologieprofessor an der Uni Essen einen Postgraduierten-Studiengang über Ökologie eingerichtet.

SB: Also zu einem sehr frühen Zeitpunkt.

EUW: Und im Jahr 1972, also nochmals weiter zurück, hatte ich für die evangelische Studiengemeinschaft ein Buch publiziert, das hieß "Humanökologie und Umweltschutz". Bei der Arbeit der Brundtland-Kommission fiel mir übrigens auf, daß die Konzerne zunehmend das, was zuvor ein Umweltschutzbericht war, in einen Nachhaltigkeitsbericht verwandelt haben. Das war ein Etikettenschwindel. Es wurde ein Dreieck postuliert: Ökonomie, Ökologie und Soziales, und es wurde so getan, als sei Nachhaltigkeit viel moderner und ein Fortschritt gegenüber Umweltschutz. In Wirklichkeit war es ein dramatischer Rückschritt. Hat man aber nie gesagt. Die ganze Nachhaltigkeitspalaverei, die wir heute erleben, ist zum großen Teil schlichter Etikettenschwindel. Es ist die Strategie, das Thema Umwelt so weit zurückzudrücken, bis es den Aktionären gefällt. Und den Betriebsräten.

SB: Sie wurden gut zwei Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Zürich geboren. Die Schweiz war nicht unmittelbar in das Kriegsgeschehen involviert. Hatte es trotzdem Einfluß auf den heranwachsenden Ernst Ulrich von Weizsäcker hinsichtlich seiner Einstellung zu Krieg und militärischen Konfliktlösungen?

EUW: Selbstverständlich. Jeder, der in dieser Generation großgeworden ist, war im Herzen Pazifist. Es gab überhaupt nichts anderes. In der Wilhelminischen Zeit hatte es so etwas wie kriegerischen Edelmut gegeben, aber das war nach der Hitler-Ära im deutschsprachigen Kulturraum absolut nicht mehr möglich - sieht man von den unglückseligen Soldaten ab, die noch ihre Fronterfahrungen irgendwie verdauen mußten. Aber abgesehen davon war man in Europa selbstverständlich Pazifist. Ich habe ja dann in Göttingen gelebt. [3]

SB: In den meisten Medienberichten über Sie und Ihre Arbeit werden Sie mit dem Begriff "Nachhaltigkeit" in Verbindung gebracht. Sie haben sich aber auch immer wieder für den Frieden, nicht zuletzt als logische Folge einer drastischen Reduktion des Energieverbrauchs eingesetzt. Wünschen Sie sich manchmal, daß der friedenspolitische Teil ihres Engagements in den Medien mehr Beachtung finden sollte?

EUW: Selbstverständlich, aber das Thema Frieden spielt ja für Deutschland inzwischen außer bei der Ukraine und vielleicht noch beim Irak keine Rolle mehr.

SB: Was bedeutet es Ihnen, im Beirat der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) zu sitzen?

EUW: Es wäre gut, wenn ich die Zeit hätte, häufiger zu den Beiratssitzungen zu kommen. Aber ich lebe im Breisgau, und die Sitzungen sind meistens in Berlin. Mein Terminkalender ist voll, da kann ich nicht viel machen. Ich habe die Arbeit zur Agrarproduktion, von der ich vorhin in der Pressekonferenz gesprochen habe, ein bißchen mitbegleitet. Doch viel mehr, als zu den Jahrestagungen zu gehen und kurz davor die Beiratssitzung mitzumachen, schaffe ich leider nicht.

SB: Bei der Pressekonferenz sprachen Sie auch das Rebellische an, das der Jugend fehle. In Deutschland wird zur Zeit eine Debatte über die Nutzung von Braunkohle geführt. Im rheinischen Hambacher Forst, dessen Restfläche nun ebenfalls dem Braunkohletagebau geopfert werden soll, haben Menschen überwiegend jungen Alters wiederholt ein Stück Wald besetzt und so ihre Art des Widerstands zum Ausdruck gebracht. Wie stehen Sie zu dieser Form des Protests gegen eine zweifellos besonders CO2-emissionsreiche Form der Energieproduktion? Ist das das Rebellische, das Sie meinen?

EUW: Ja, ich bin sehr froh, daß es Menschen gibt, die gegen diese lokale Naturschändung vorgehen. Aber der größte Schaden von dem Braunkohleabbau ist nicht das Lokale, sondern das Globale, und dagegen gibt es viel zu wenig Rebellion. Im übrigen existiert eine merkwürdige, auch nicht in drei Minuten erläuterbare Logik, nach der deutlich gemacht werden kann, daß Gaskraftwerke stillgelegt werden und Braunkohlekraftwerke florieren. Das ist nun wirklich absurd. Das hängt ein bißchen zusammen und ist ein Teil jener Logik, zu der auch gehört, daß die deutsche Industrie den Begriff "Grundlast" so liebt. Das ist ein absolut erotisches Verhältnis: Grundlast. Es bedeutet, daß permanent Strom geliefert wird - daraus stammt ja auch die Idee mit dem Nachtstrom. In der Nacht, wenn der Strombedarf niedrig ist, wird er künstlich hergestellt, indem man die Fußböden aufheizt. Der Nachtstrom ist eine Erfindung der Atomlobby, nichts anderes. Ebenso wie "Grundlast". Der Begriff hat ja Heiligtumscharakter.

Braunkohle eignet sich hervorragend für Grundlast, während Gaskraftwerke sich hervorragend für Spitzenlast eignen. Aber das führt jetzt viel zu weit, und ich bin da auch kein wirklicher Experte. Es gibt Leute, die wissen mehr davon. Jedenfalls ist das schlicht absurd. Wir könnten ohne weiteres die Energiegesetzgebung so gestalten, daß Braunkohle verschwinden würde. Aber da besteht eine regionalpolitische Gegnerschaft.

Mit Pressevertretern an einem Tisch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Pressekonferenz mit Hans Günter Brauch (AFES-PRESS, Springer Briefs on Pioneers in Science and Practice; 1. v. links), Ulrich Bartosch (Vorsitzender der VDW; 2. v. links), Ernst Ulrich von Weizsäcker (3. v. links), Uwe Schneidewind (Leiter des Wuppertal Instituts, 4. v. links)
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Im Jahr 2010 hat der im selben Jahr verstorbene Bundestagsabgeordnete und Präsident von Eurosolar, Hermann Scheer, auf der Energiekonferenz der Partei Die Linke in Hamburg eine Rede gehalten und heftig gegen die Großindustrie, also Großprojekte wie Atomkraftwerke, Kohlenkraftwerke und auch Offshore-Windparks, gewettert. Er plädierte dafür, Energie lokal zu produzieren und lokal zu verbrauchen. Wäre das auch Ihre Vorstellung?

EUW: Es braucht gar nicht meine Vorstellung zu sein, es ist die heutige Realität, auch in Amerika. Wir erleben im Moment eine riesen Götterdämmerung der zentralen Energiekonzerne. Beispielsweise macht RWE minus. Nur, die existierenden Energiekonzerne vollkommen absaufen zu lassen wäre volkswirtschaftlich ein großer Schaden. Die ganzen Ruhrgebietskommunen leben von den Dividenden der RWE. Und wenn Sie sich vorstellen, daß Essen, Wanne-Eickel und Dortmund alle pleite gehen würden, was das für eine sozialpolitische, regionalpolitische Katastrophe wäre! Also, so einfach ist das nicht. Natürlich beziehen wir unseren Strom von Schönau. [4]

SB: Gut, aber das ist eine Insellösung.

EUW: Das ist eine Insellösung, ja. Ich meine, Hermann Scheer hat ein bißchen übertrieben, er hat ja auch gegen Desertec gewettert. Das ist völlig überflüssig. Das braucht man gar nicht. Erstens weil die Dezentralisierung sowieso im Trend liegt, das braucht man politisch nicht noch zu fördern, nachdem das EEG schon gelaufen war. Und zweitens gibt es bestimmte Funktionen in einer Gesellschaft, bei denen relativ hohe Energiedichten, die man mit der Dezentralität gar nicht erreichen kann, absolut Sinn machen. Beispielsweise wird es keine dörflichen Aluminiumschmelzen geben.

Die Viererbande [5] in China hatte die verrückte Idee, dezentrale Kraftwerke und dörfliche Stahlschmelzen aufzubauen - das ist Romantik. Im Vergleich dazu ist natürlich die Wirtschaftstruktur von Nordrhein-Westfalen relativ modern und gesund. Und dazu gehören auch relativ kompakte Stromerzeuger. Als Alternative dazu ist dann der Seewind tendenziell besser als der Landwind, weil er hohe Energiedichten hat. Auch da, finde ich, hat mein Freund Hermann Scheer, mit dem ich über dreißig Jahre lang befreundet und der auch an der Gründung des Wuppertal Instituts beteiligt war, ein bißchen übertrieben.

SB: 1973 und 1979 haben zwei Ölkrisen der Entwicklung sogenannter alternativer Energiegewinnungsformen einen Innovationsschub verliehen. Glauben Sie, daß es solch drastischer ökonomischer Zwangslagen bedarf, damit die Menschen Ressourcen einsparen, oder halten Sie es für möglich, daß das auch über einen Bewußtseinswandel herbeizuführen wäre?

EUW: Man kann das auch über einen Bewußtseinswandel herbeiführen, aber in unserer Welt, insbesondere der demokratischen Welt, möchte ja jeder gerne auf seiner Brust stehen haben: "Ich bin Realist." Und wenn man im Jahr 1972, wie das Amory Lovins [6] getan hat, gesagt hätte, wir können mit Solarenergie und Effizienz den ganzen anderen "Krempel" überwinden, dann war man ein reiner Träumer. Doch Ende '73, Anfang '74 war Amory Lovins plötzlich der große Mann! Weil er auf einmal als Realist galt. Ich halte diese Realismusvergötterung für ein Teil des Problems und nicht der Lösung.

SB: China habe Ihre Ideen teilweise schon sehr gut umgesetzt, sagten Sie. China ist aber auch bekannt für eine staatsdirigistische Form der Politik. Müßte die Bundesregierung auch entsprechend harsche Mittel einsetzen und die Wirtschaft durchgreifend gestalten?

EUW: Dazu muß ich zwei Sachen sagen. Erstens brauchen die Chinesen nicht auf Ernst Weizsäcker zu warten. Sie machen das selber. Aber sie sind sehr froh, wenn da einer aus dem internationalen Völkchen dazukommt und ihnen im Grunde ihre Vorurteile bestätigt. Zweitens bin ich sehr wohl der Meinung, daß man einen starken, aber nicht einen detailstarken Staat braucht. Der Staat muß mindestens über die Energie- und Wasserpreise mitentscheiden und meinetwegen auch über die Primärmineralien. [7]

Aber ich buchstabiere das jetzt mal am Beispiel der sogenannten Ökodesignrichtlinie oder Energieeffizienzrichtlinie der EU. Da gibt es ja die in der Bildzeitung breitgetretene Diskussion um die Beschaffenheit der Duschköpfe. Da hat die EU zu sehr im Detail in die Entscheidungsfreiheit der deutschen Haushalte eingegriffen. Wobei man das durchaus begründen kann, wenn man den Wasserverbrauch senken will. Aber mit einem geeigneten Preissignal hätten sich die eleganten Duschköpfe auf dem Markt durchgesetzt. Weil sich die Leute anders verhalten, wenn Wasser teurer wird. Das gleiche gilt für Energie. Diese krachmachenden und energiefressenden Espresso-Maschinen konnten sich nur in einem Klima von Billigenergie entwickeln. Die sind natürlich absurd, eine technologische Fehlentwicklung.

Ich bin nicht dagegen, daß in der heutigen Situation, in der alles Volk jammert, daß die Energie zu teuer sei, die EU-Kommission dann das zweitbeste macht, nämlich die Espresso-Maschinen irgendwie zu regulieren. Aber eigentlich finde ich es unsachlich, daß ein starker Staat anfängt, Espresso-Maschinen zu regulieren. Ich finde es viel sachlicher und sachgerechter, wenn der Staat die Energiepreise reguliert! Das ist in China möglich - in den USA ist das vollkommen unmöglich und in Deutschland wäre es möglich.

SB: In Deutschland gäbe es dann eine Mischform?

EUW: Ja, in fast allen Fällen ist die deutsche Mischform zwischen China und USA menschenfreundlich, ökologisch, freiheitsförmig, angenehm. Man muß nicht immer zum Extrem greifen.

SB: Als jemand, der nicht nur in engem Kontakt zu Politikern steht, sondern sogar selbst zwischen 1998 und 2005 Bundestagsabgeordneter war, können Sie uns vielleicht verraten, warum in Deutschland zwar viele verschiedene Steuern erhoben werden, aber eine allgemeine CO2-Emissionssteuer bislang nicht dabei ist?

EUW: Das ist eine hervorragende Formulierung der Frage (lacht). Ich weiß keine Antwort außer der gängigen, daß die Lobbys was dagegen haben. Man kann auch noch ein bißchen gütiger urteilen und sagen: Na ja, CO2 ist ja nur eines von vielen Treibhausgasen und konsequenterweise bräuchte man dann auch noch eine Methansteuer. Dann müßte der Fiskus die Komposthaufen in den Vorgärten der Deutschen untersuchen und feststellen, wieviel Methan da rauskommt. Oder er müßte einzelne Kuhfürze messen oder irgendwie so etwas. Das sind Dinge, die über die normale Tätigkeit eines Finanzamts hinausgehen. Da könnte man also sagen: Laßt das lieber. Das soll aber kein Einwand gegen eine CO2-Steuer sein. Denn für das CO2 hat man einen wunderbaren Stellvertreter, nämlich die fossilen Brennstoffe. Da braucht man gar nicht die Emissionen zu messen.

SB: Wie kann verhindert werden, daß die Energieersparnis aufgrund der Steigerung der Ressourceneffizienz um den Faktor vier oder Faktor fünf durch den Rebound-Effekt [8] wieder aufgefressen wird?

EUW: Da gibt es einen riesen Unterschied zwischen den Büchern "Faktor vier" und "Faktor fünf". Mein lieber Freund Amory Lovins, den ich vorhin gelobt habe, hat immer wieder behauptet, es gäbe keinen Rebound-Effekt. Wenn ich versucht hätte, in "Faktor vier" ein Kapitel "Rebound-Effekt" reinzuschreiben, hätte er gesagt: Dann können wir nicht Co-Autoren sein. So einfach ist das.

SB: Und wie begründet er das?

EUW: Er hat seinen Standpunkt in durchaus gelehrten Auseinandersetzungen vertreten, aber ich kann falsche Argumente schlecht nachvollziehen. Er ist tatsächlich der Meinung - was sich übrigens inzwischen abgemildert hat -, daß der Rebound-Effekt eine Traumtänzerei von Pessimisten ist. Und er ist Optimist. Dann bringt er allerlei quasi-intellektuelle Gründe vor, warum das Phänomen nicht existiert. In Wirklichkeit ist er ein Gegner des Pessimismus.

Natürlich ist der Rebound-Effekt eine Realität und zwar eine ganz massive. Aber jetzt kommt eine anekdotische Geschichte: Ich habe mal mit einem Inder über den Rebound-Effekt gesprochen. Der kannte all die Phänomene. Dann sagte er plötzlich mit einem breiten, erleichterten Lachen: "We call it growth!" (lacht) Bei uns ist der Rebound-Effekt negativ besetzt, bei ihm ist er ausschließlich positiv besetzt und bedeutet Wachstum.

SB: Aber er hatte auch nicht das Ziel, CO2 in der Form einzusparen, wie Sie es vorhaben, oder?

EUW: Nun ja, er war eben der Meinung, CO2-Emissionen seien der natürliche Kompagnon von "growth". Das ist halt so. Und ihm war der Begriff der Entkoppelung [9] noch gar nicht gekommen. Das war übrigens nicht der Ashok Khosla [10], der sich zur Zeit hier in Berlin aufhält. Der Rebound-Effekt ist eine massive Realität, und meine Pingpong-Idee [11] ist die explizite Antwort auf ihn. Denn - das muß man fast empirisch-historisch sagen - der Rebound-Effekt ist immer dann meßbar geworden, wenn die Energiepreise gesunken oder stabil geblieben sind. In Zeiten, in denen sie raufgingen, wie zum Beispiel 1978/79, war der Rebound-Effekt nicht da. Ab 1982 trat er wieder ganz massiv auf. Das heißt also, daß Billigenergie die Einladung zum Rebound ist. Und genau das ist auch das, was Politiker wollen! Sie wollen, daß das Volk praßt! Daß es verbraucht, Mehrwert erzeugt, Arbeitsplätze schafft! Also, die ganze Politikrhetorik fördert zu einem erheblichen Teil "Rebound", in Deutschland wie in Indien.

Die Vorstellung, daß man all die guten Dinge, die die Politiker wollen, insbesondere Arbeitsplätze, nur dann realisieren kann, wenn gleichzeitig Natur zerstört wird, ist falsch. Das muß man schon voneinander abkoppeln. So lautet meine Grundidee.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Wenn man ein Rebell ist, dann findet man das, was man vorfindet, langweilig und findet, man sollte sich was Neues ausdenken. Das kann unter Umständen dazu führen, daß das auch institutionell neu gefaßt werden muß, weil die bisherigen Institutionen das nicht hergeben." (Ernst Ulrich von Weizsäcker auf die Frage des Schattenblicks, was es für ihn bedeutet, immer am Anfang zu sein.)
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Sie sprachen in der Pressekonferenz ebenfalls an, daß Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel versucht hat, die Entwicklung, daß Energie immer billiger hergestellt, aber für die kleineren Endverbraucher immer teurer wird, durch eine Reform des Erneuerbare-Energiengesetzes umzukehren. Müssen nicht die jetzt schon von hohen Energiepreisen betroffenen Kleinverbraucher bei ihrem Pingpong-Modell befürchten, daß die Preise weiter steigen und sie keinen Ausgleich dafür erhalten?

EUW: Bei diesem Pingpong-Konzept müssen wir zwei Ausnahmen installieren. Das eine sind die armen Haushalte, das andere ist die energieintensive Industrie, denn die wandert sonst einfach aus. Aber da muß man zwei ganz verschiedene Methoden einführen. Die armen Haushalte bekommen entweder eine Erhöhung von Hartz-IV, andere Sozialtransfers oder sie erhalten einen Sozialtarif, beispielsweise einen Sockelbetrag. In Südafrika macht man genau das. Das nennt sich Lifeline Tariff. [12] Nach der Apartheid haben die Südafrikaner, um die Weißen zu schröpfen, Energie- und Wasserpreise dramatisch nach oben geschickt. Um dann die Gefahr zu vermeiden, daß das die Armen trifft, haben sie den Lifeline Tariff eingeführt. Sehr vernünftig.

Für die Industrie habe ich eine ganz andere Idee. Nicht etwa das, was Gabriel macht und was seine Vorgänger auch immer gemacht haben, nämlich für die Industrie die Energie zu verbilligen. Das führt nur zur Schlafmützigkeit. Ich habe da eine Idee, die kommt aus Schweden. Die Schweden haben in Zusammenhang mit dem Waldsterben und dem sauren Regen eine Luftschadstoffsteuer, eine Stickoxidsteuer, eingeführt. Die war vierzigmal so hoch, wie die damalige Luftschadstoffsteuer in Frankreich, welche von der Atomlobby eingeführt worden war, damit die Kohle geschädigt wird.

Die schwedischen Industriellen haben dann erklärt, wenn ihr diese Steuer einführt, wandern wir aus, denn unsere deutschen, indischen und kanadischen Konkurrenten, etc. müssen nichts bezahlen. Dann verlieren wir. Daraufhin hat der schwedische Staat gesagt: Gut, machen wir einen Deal. Wir kassieren von euch die Stickoxidsteuer genau wie von allen anderen in gleicher Höhe. Aber ihr bekommt das Geld zurück - nicht pro Tonne Gift, sondern pro Mehrwert. [13]

Das heißt, die Stahlindustrie als Branche hat keine schwedische Öre verloren. Innerhalb der Stahlindustrie wurde ein Wahnsinnswettbewerb, wer das Gift am schnellsten loswird, ausgelöst. Das war eine reine Modernisierungskur für die schwedische Stahlindustrie. Nach ungefähr zehn Jahren waren sie das Gift los, soweit es chemisch-physikalisch geht, und waren wettbewerbsfähiger als vorher.

SB: Läßt sich das auf heutige Industriestrukturen übertragen?

EUW: Ja, natürlich. Man muß einfach sagen: Euch wird die Energiesteuer aufgedonnert, aber ihr erhaltet das Geld zurück.

SB: Dann müßte nicht der Staat in eine Art Vorleistung gehen, wie das beim Europäischen Emissionshandelssystem mit der Vergabe von Verschmutzungsrechten gemacht wurde?

EUW: Genau. Außerdem wird dadurch ein Strukturwandel eingeleitet. Die puren Aluminiumschmelzen werden aus Deutschland auswandern. Und dann sage ich: Good riddance! [14] Das ist gut, wenn die auswandern. Dann machen wir nämlich viel mehr Aluminium-Handling, Aluminium-Recycling, Aluminium-Marketing, Aluminium-Ingenieurgeschichten. Wir bauen ja hier auch keine Bananen an und haben trotzdem einen wunderbaren Fruchtkorb. Die Vorstellung, wir müßten alle Details der Produktionskette bei uns im Land haben, ist in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft nicht sonderlich originell.

SB: Glauben Sie, daß Sigmar Gabriel das Grunddilemma, von dem Sie vorhin sprachen - es wird billige Energie produziert, aber für die Endverbraucher entstehen höhere Kosten -, mit seiner Novelle des Erneuerbare-Energiengesetzes gelöst hat?

EUW: Immerhin muß man sagen, daß der Preisauftrieb im letzten Vierteljahr aufgehört hat. Die Preise gehen jetzt wieder runter. Da kann er schon ganz stolz sein. Daß er sich im übrigen nicht recht an die energieintensive Industrie rantraut, liegt weniger an der Industrielobby als an der Gewerkschaftslobby.

SB: Die USA konnten in den letzten Jahren ihre Importabhängigkeit von Erdöl und Erdgas durch das Aufbrechen unkonventioneller Lagerstätten - das sogenannte Fracking - reduzieren. Was halten Sie von den Bestrebungen der deutschen Regierung, Fracking unter bestimmten Bedingungen zuzulassen?

EUW: Das halte ich für Russen-Gas-Opportunismus.

SB: Wenn man die einzelnen Stationen Ihres Werdegangs betrachtet, sind Sie in enorm vielen Funktionen für einen ökologischen Umgang mit der Welt tätig gewesen. Hätten Sie an einigen Stationen gerne länger verweilt?

EUW: Wenn die Bedingungen gut gewesen wären, wäre ich gerne länger bei den Vereinten Nationen [15] geblieben. Wenn ich ein bißchen gescheiter gewesen wäre, wäre ich noch eine Legislaturperiode länger im Bundestag geblieben, denn da gibt es ein Problem: In der ersten Legislaturperiode ist man Anfänger und wird von den anderen weggebissen. In der zweiten kann man anfangen zu arbeiten und in der dritten kann man richtige Erfolge haben. Das hatte ich nicht so richtig durchschaut und dann stattdessen einfach diesen lukrativen Job in Kalifornien [16] gemacht.

SB: Die US-Regierung hat vor kurzem eine Taskforce gegen das Bienensterben eingerichtet. Sie haben sich einmal sehr intensiv mit dem Verhalten von Bienen beschäftigt. [17] Haben Sie eine Vermutung für das Verschwinden der Bienenvölker?

EUW: Ja, es hat natürlich mit der Varroamilbe zu tun. Es hat natürlich auch mit unserer heutigen Agrarlandschaft zu tun, wo die Honigtracht nicht mehr übers Jahr verteilt ist, sondern wo es plötzlich Raps gibt - und dann ist er wieder weg. Diese ganzen Monokulturen sind für Bienenvölker eine Katastrophe. Eine Zeitlang hatte man immerhin noch die Flächenstillegungsprämien. Das war wunderbar für die Bienen. Aber unter dem gegenwärtigen Druck, daß Agrarland furchtbar teuer geworden ist, auch die Pacht, so daß die Ökolandwirte keine Flächen mehr dazupachten oder ihre alten nicht mehr bezahlen können, da fallen natürlich die ganzen Flächenstillegungen weg. Das heißt, den Bienen geht es schlecht. Hinzu kommen natürlich die Agrargifte. Aber ehrlich gesagt habe ich mich nicht sehr intensiv mit der Frage des Bienensterbens beschäftigt. Ich bin sehr froh, daß die Amerikaner da aufgewacht sind.

SB: Herr von Weizsäcker, herzlichen Dank für das Gespräch.

Blick von erhöhter Position auf die Symposiumsgäste - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ernst Ulrich Weizsäcker im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Einen Bericht über das Symposium finden Sie unter:
INFOPOOL → UMWELT → REPORT → BERICHT:
BERICHT/083: Nachdenklich, nachweislich, nachhaltig - Rückschau voran (SB)
Impressionen von einer Geburtstagsparty der anderen Art
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0083.html

[2] Brundtland-Bericht: Benannt nach der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Sie hatte den Vorsitz der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen inne, die 1987 den Bericht "Our Common Future" (Unsere gemeinsame Zukunft) veröffentlichte und darin "nachhaltige Entwicklung" definierte.

[3] Ernst Ulrich von Weizsäcker spielt hier wahrscheinlich auch auf die "Göttinger Erklärung" aus dem Jahre 1957 an. Damals wandten sich 18 Atomforscher aus der Bundesrepublik Deutschland gegen die von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß propagierte Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Zu den Unterzeichnern zählte auch Carl Friedrich von Weizsäcker, der Vater von Ernst Ulrich von Weizsäcker.

[4] In der baden-württembergischen Stadt Schönau ist das Energieversorgungsunternehmen "Elektrizitätswerke Schönau GmbH (EWS)" angesiedelt, das Ökostrom produziert und in ganz Deutschland verkauft. Bekannt wurde das Unternehmen, weil es von Bürgerinnen und Bürgern gegründet wurde, die die kommunale Stromversorgung übernommen haben, um sicherzustellen, daß sie keinen Atomstrom verbrauchen.

[5] Die Viererbande bestand zehn Jahre lang von 1966 bis zum Tod von Mao Tse-tung, dem langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas, im Jahr 1976 und setzte sich aus Maos Ehefrau Tschiang Tsching, dem Theaterkritiker Jao Wen-jüan, dem Journalisten Tschang Tschun-tschiao und dem Fabrikarbeiter und Geheimdienstmitarbeiter Wang Hung-wen zusammen. Sie wollten Maos schwindenden politischen Einfluß aufhalten und den Trend umkehren.

[6] Der US-Physiker und Umweltaktivist Amory Lovins hat zusammen mit seiner Frau Hunter Lovins und Ernst Ulrich von Weizsäcker das Buch "Faktor vier" (1995) herausgegeben.

[7] Primärmineralien werden bei hohen Drücken und Temperaturen im Erdinnern gebildet. Sie sind die ursprünglichen Mineralien. Ihre Verwitterungs- und chemischen Umwandlungsprodukte werden als Sekundärmineralien bezeichnet.

[8] Als Rebound-Effekt bezeichnet man in diesem Zusammenhang, daß im Rahmen von Klimaschutzmaßnahmen eine Senkung des Energieverbrauchs aufgrund effizienterer Technologien nicht zur gewünschten Verringerung der Treibhausgasemissionen führt, sondern daß der Energieverbrauch zunimmt und in der Summe sogar mehr Treibhausgasemissionen entstehen können.

[9] Entkoppelung des Energieverbrauchs vom Wachstum.

[10] Dr. Ashok Khosla nahm als Podiumsteilnehmer am 25. Juni 2014 am internationalen Symposium zum 75. Geburtstag von Ernst Ulrich von Weizsäcker teil. Ein Schattenblick-Interview mit Ashok Khosla folgt in Kürze.

[11] Die Pingpong-Idee lautet, daß mit dem gleichen Prozentsatz, in dem die Energieeffizienz gesteigert wird, die Energiepreise auf dem Markt erhöht werden. Dadurch soll die Effizienz immer weiter gesteigert werden.

[12] Bei einem Lifeline Tariff wird eine bestimmte Menge Wasser kostenlos oder zu einem nominellen Preis abgegeben. Für alles Wasser, das darüber hinaus verbraucht wird, muß der reguläre Preis bezahlt werden.

[13] Für die Unternehmen bestand ein Anreiz, beispielsweise mehr Stahl oder mehr elektrischen Strom zu produzieren, weil sie dafür vom Staat Geld erhielten.

[14] Good Riddance! (engl.): Auf Nimmerwiedersehen!

[15] Ernst Ulrich von Weizsäcker war von 1981 bis 1984 Direktor am UNO Zentrum für Wissenschaft und Technologie in New York.

[16] Von 2006 bis 2008 war Ernst Ulrich von Weizsäcker Dean der Donald Bren School for Environmental Science and Management, University of California, Santa Barbara, USA.

[17] 1969 Promotion an der Naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät der Universität Freiburg im Fach Biologie über das "Formensehen der Honigbiene".

1. Juli 2014