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INTERVIEW/090: Atommüll ohne Ende - Drum messe selbst, wer Opfer ist ... Thomas Dersee im Gespräch (SB)


Atommüll ohne Ende - Auf der Suche nach einem besseren Umgang

Eine Tagung von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen unter der Federführung des Deutschen Naturschutzrings (DNR) am 28./29. März 2014 in Berlin

Interview mit Dipl.-Ing. Thomas Dersee, Herausgeber des Strahlentelex und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Strahlenschutz



Nach der dreifachen Kernschmelze im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im März 2011 hat die deutsche Bundesregierung beschlossen, acht Kernkraftwerke abzuschalten und den Betrieb der übrigen stufenweise bis Ende des Jahres 2022 auslaufen zu lassen. Bis dahin wird weiter Atommüll produziert, für den es ebensowenig einen geeigneten Lagerplatz gibt wie für den schwach-, mittel- und hochradioaktiven Atommüll aus der jahrzehntelangen Kernenergienutzung. Deutschland muß aber seine im Ausland lagernden Brennstäbe zurückholen und zusammen mit dem Atommüll, der sich in sogenannten Zwischenlagern befindet und der zudem durch den Rückbau der stillgelegten Akws anwächst, sicher verbringen.

In einer vom Bundestag beschlossenen Kommission, die binnen zwei Jahren Kriterien für die Suche nach einem Endlager erarbeiten soll, werden zwei Plätze für die Umweltverbände freigehalten. Die trafen sich am 28./29. März 2014 in Berlin und diskutierten darüber, ob sie das Angebot annehmen sollen oder nicht. Ein Teil der Verbände und Initiativen lehnt das Angebot klar ab, weil er sich nicht instrumentalisieren lassen will. Ein anderer bekennt sich offen dazu, der Regierung eine Chance zu geben, und plädiert für die Teilnahme. Wiederum andere sprechen sich für eine Beteiligung unter bestimmten Bedingungen, die die Regierung noch zu erfüllen habe, aus. Der sozialdemokratische Umweltexperte Michael Müller, Bundesvorsitzender des Umweltverbandes Naturfreunde, soll gemeinsam mit Ursula Heinen-Esser (CDU) der Kommission vorsitzen.

Nach Abschluß der Berliner Tagung in der Auferstehungskirche führte der Schattenblick ein Gespräch mit Thomas Dersee, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Strahlenschutz. Der Diplomingenieur ist seit Jahrzehnten in der Anti-Atom-Bewegung aktiv und hat als Herausgeber des Informationsblatts Strahlentelex die Entwicklung der Kernenergieproduktion seit langem kenntnisreich und kritisch begleitet. Dersee berichtet von der Entstehungsgeschichte des Strahlentelex, vertieft die grundsätzliche Problematik von Strahlenmessungen und äußert sich zu den umstrittenen Einschätzungen der gesundheitlichen Folgen der Nuklearkatastrophe von Fukushima.

Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Thomas Dersee
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Wann sind Sie auf die Idee gekommen, das Strahlentelex herauszugeben?

Thomas Dersee (TD): Das war 1986 nach der Reaktorexplosion von Tschernobyl. Damals haben wir in Berlin eine unabhängige Strahlenmeßstelle aufgebaut. Bei einem Benefiz-Konzert hier auf der Waldbühne mit Pop-Größen wie Rolf Mahn und Udo Lindenberg wurden ungefähr 100.000 D-Mark eingespielt. Davon wurde ein Gamma-Meßplatz zur Bestimmung radioaktiver Strahlung angeschafft und in einem Ladengeschäft in Moabit, schräg gegenüber vom Amtsgericht, aufgebaut. Dort haben wir die Strahlenbelastung von Nahrungsmitteln gemessen. Damals gab es noch kein Internet, das bedeutete, wir mußten alles auf Papier drucken, was wir veröffentlichen wollten. Das war der Einstieg zum Strahlentelex, das zweimal im Monat veröffentlicht wurde.

SB: Woher stammten die Gelder für den jahrelangen Betrieb der Meßstelle?

TD: Wir erzielten eine Hälfte der Einnahmen durch den Verkauf der Abonnements des Strahlentelex und die andere Hälfte durch die Leute, die irgend etwas aus ihren Gärten speziell gemessen haben wollten und dafür eine Gebühr bezahlten. Damit wurde die Miete für das Ladengeschäft beglichen. Unkosten entstanden uns natürlich auch durch den Germaniumdetektor, der ständig flüssigen Stickstoff benötigte, um ihn auf ungefähr -170 Grad Betriebstemperatur gekühlt zu halten. Den Stickstoff mußte man sich kaufen und ihn dann nachfüllen. Wir haben uns sogar ein kleines Gehalt auszahlen können, das waren ein paar hundert D-Mark.

Als erstes wurde von uns die Milch überprüft, dann auch die Babynahrung. Es handelte sich um die ersten vergleichenden Warentests. Das Besondere bestand darin, daß sie einen richtigen Gebrauchswert besaßen, denn wir haben die Firmen, deren Tüten wir untersuchten, namentlich genannt. Wohingegen die staatlichen Meßstellen nur allgemein "Milch aus Bayern" oder "Milch aus Schleswig-Holstein" sagen durften. Das gilt übrigens noch heute.

SB: Hatten Sie auch die Chargennummern genannt?

TD: Ja, auch die. Und die Stiftung Warentest war so nett und hat uns alles genau erklärt, damit wir juristisch nicht belangt werden konnten. Das ist uns auch nie passiert, obwohl es einmal jemand versucht hat. Auch dabei hatte uns der Justiziar der Stiftung Warentest geholfen und das bis zur höchstrichterlichen Rechtsprechung durchgefochten.

SB: Gibt es die Meßstelle noch heute?

TD: Nein, die haben wir zum Jahreswechsel 1993/94 aufgegeben, weil keine neuen Erkenntnisse mehr gewonnen wurden und das Interesse der Bevölkerung nachgelassen hatte. Wir konnten das finanziell nicht mehr tragen. Denn sieben Jahre nach Tschernobyl war klar, daß bis auf die Pilze im Herbst, Wildschweine und vielleicht noch Süßwasserraubfische, die bis heute radioaktiv sind, alles verzehrt werden konnte. Das Strahlentelex jedoch hat sich noch lange Zeit selber getragen, ohne daß ich dafür ein Gehalt bezogen hätte. Darauf war ich richtig stolz. [1]

SB: Und die Meßstelle ist auch in jüngster Zeit nach Fukushima nicht wieder "erwacht"?

TD: Nein, denn was wir an Nahrungsmitteln aus Japan importieren, ist marginal.

SB: Sie konnten aber die Erfahrungen mit der Meßstelle einbringen und helfen, daß auch in Japan solche Stationen aufgebaut werden?

TD: Ja. Meine Frau ist Japanologin und wir haben sowieso Kontakte nach Japan, ebenso zu der japanischen Gemeinde hier in Berlin. Über diesen Kontakt sprach uns eine japanische Bürgerinitiative, die gerade im Entstehen begriffen war, an und hat sich erkundigt, wie wir das damals gemacht haben. Mich hat es sehr bewegt und ich war gerührt, daß die alle in dem Alter sind, in dem ich damals war, als ich damit anfing. Inzwischen ist aus dem Kontakt eine Freundschaft entstanden und wir haben sie in Japan besucht.

SB: In einem Ihrer Artikel bin ich darauf gestoßen, daß es auch Nahrungsmittel "geringerer Bedeutung" gibt. Wie begründet sich das?

TD: Nach Tschernobyl war es zu der absurden Situation gekommen, daß europaweit für Milch, Milchprodukte und Babynahrung Grenzwerte für die Cäsium-Gesamtaktivität von 370 Becquerel pro Kilogramm und für andere Nahrungsmittel von 600 Becquerel pro Kilogramm galten. Dann hat die EU höhere Grenzwerte für den Fall festgelegt, daß ein weiteres Atomunglück in der Größenordnung von Tschernobyl passiert. Da hatte man aber angenommen, daß das hier in Europa passiert, zum Beispiel in Frankreich. In dem Fall wären kurzfristig diese erhöhten Werte in Kraft gesetzt worden.

Als aber jetzt festgestellt wurde, daß die Grenzwerte in Japan selbst viel geringer waren als bei uns in der EU, hat man die europäischen Werte nach unten angepaßt und festgelegt, daß für die Importe aus Japan die niedrigen japanischen Grenzwerte und für alle anderen Länder die höheren gelten. Inzwischen wird vorbereitet, daß höhere Grenzwerte verhängt werden, insbesondere für sogenannte Nahrungsmittel von geringerer Bedeutung. Dazu gehören unter anderem Gewürze.

Ich deute das so, daß solche Belastungen erwartet werden, wenn hier in Europa etwas passiert. Dann will man den Warenverkehr nicht durch niedrige Grenzwerte behindern. Daran sieht man, daß solche Entscheidungen nichts mit gesundheitlicher Vorsorge zu tun haben.

SB: Ein Becquerel ist als ein Zerfall pro Sekunde definiert. Ein Cäsium-Teilchen wird also erst dann gefährlich, wenn es zerfällt und seine Strahlung freisetzt. Aber selbst wenn eine Probe von einem sogenannten Nahrungsmittel geringerer Bedeutung nur eine geringe Menge an Cäsium-Isotopen enthält, ist es ja trotzdem gewissermaßen Russisch-Roulette, ob dieses Teilchen dann zerfällt, oder nicht?

TD: Ja, das ist ein interessanter Aspekt. Der Zerfall ist eine statistische Größe, er geschieht nicht gleichmäßig. Man kann das sogar auf dem Bildschirm verfolgen, daß er mal schneller, dann wieder etwas langsamer vonstatten geht. Deswegen muß man Messungen über längere Zeiträume durchführen, um ein statistisches Mittel zu erhalten. Die Meßgenauigkeit wird dann größer.

Spatzen in einem Baum vor der Auferstehungskirche - Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Spatzen pfeifen es von den ... Bäumen: Die atomkritischen Umweltverbände sollen mit ins Boot geholt werden
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Auf der heutigen Tagung fiel auch das Stichwort "Freimessung". Handelt es sich dabei nicht um ein Instrument der Verschleierung?

TD: Ja, die Freimessungen wurden 2001 unter der rot-grünen Bundesregierung und einem Umweltminister Jürgen Trittin eingeführt. Sie besagen, daß Atommüll, dessen Aktivitätskonzentration unter einem bestimmten Grenzwert bleibt, in die Umwelt freigesetzt werden darf. So darf ein Material eine Million Becquerel des Radionuklids Tritium pro Kilogramm oder pro Liter enthalten. Unterhalb dieses Grenzwerts darf es beliebig verwendet werden, theoretisch sogar für Babynahrung.

Die betreffende Verordnung sieht vor, daß für den Einzelnen eine Dosis von 10 Mikrosievert pro Jahr durch eine beliebige Verteilung dieser Stoffe nicht überschritten werden sollte. Diese Dosis kann man jedoch gar nicht berechnen, weil ja als Kriterium nur eine Konzentration in Zerfällen pro Sekunde angegeben ist. Man müßte also auch die Gesamtmenge des freigemessenen Materials kennen. Die wird aber nicht ausreichend dokumentiert, die Verordnung verlangt das nicht.

Außerdem bleiben die Freimessungen unvollständig, denn es werden nur vier oder fünf leicht meßbare Radionuklide erfaßt. Man nimmt an, wenn man hierbei unterhalb des Grenzwerts bleibt, daß dann auch keine anderen Strahlenpartikel vorliegen. Das ist eine bloße Hypothese. Die kann man nicht überprüfen, weil man nach der Freimessung nicht weiß, wo das Material geblieben ist. Nach meinem Geschmack ist so eine Regelung ein Unding.

Des weiteren stellt sich die Frage, wer festlegt, daß eine Dosis von 10 Mikrosievert pro Jahr akzeptabel ist. Der Wert beruht auf Kalkulationen der internationalen Strahlenschutzkommission (International Commission on Radiological Protection, ICRP) , die ausgerechnet hat, daß 10 Mikrosievert pro Jahr bei den rund 80 Millionen Einwohnern Deutschlands bedeutet, daß hierdurch 44 Personen zusätzlich an Krebs sterben werden.

Die Kriterien der ICRP werden in der Literatur kontrovers diskutiert. In anderen Berechnungen wird von der zehnfachen Zahl an zusätzlichen Krebstoten ausgegangen. Außerdem stirbt nicht unbedingt jeder an dem Krebs, sondern er stirbt vorher bei einem Unfall, altersbedingt oder durch irgendwelche anderen Krankheiten. Und Krebsarten wie Schilddrüsenkrebs enden nicht unbedingt tödlich. Die Mediziner sind stolz drauf, daß man ihn gut operieren kann und nur jede zwanzigste Person daran stirbt. Es kommt also zu der statistischen Größe der Krebstoten als Folge der Freimessung noch eine gewisse Zahl an Krebserkrankungen hinzu.

Um der Vollständigkeit genüge zu tun, sollte man immer dazu sagen, daß ein Mehrfaches dieser Größenordnungen an Nicht-Krebs-Erkrankungen wie Herz-Kreislauferkrankungen oder Stoffwechselstörungen hinzukommt. Das ist nicht immer nur der Krebs, auf den man normalerweise starrt.

SB: Sie haben im Jahr 2012 die Präfektur Fukushima besucht. Wie haben Sie sich vor der Einnahme verstrahlter Nahrung geschützt?

TD: Gar nicht. Wir haben das gleiche wie die Leute dort gegessen. Wir hatten selber gar kein Meßgerät dabei. Und dann muß man auch sagen, daß ich mit 67 Jahren nicht mehr der Jüngste bin. Da gibt es Latenzzeiten, wann beispielsweise ein Krebs ausbricht. Etwas anderes ist es, wenn Kinder diese Nahrungsmittel essen.

SB: Kann die japanische Bevölkerung die Einnahme verstrahlter Nahrung überhaupt vermeiden?

TD: Man versucht es. Es gibt in Japan inzwischen über 100 solcher Bürgerinitiativen, die ich vorhin erwähnt habe, die solche Meßstellen aufgebaut haben.

SB: Die CRMS, die Citizens' Radioactivity Measuring Stations?

TD: Unter anderem. Es gibt noch weitere Stationen, die Strahlenmessungen durchführen, und die Leute, die da mitmachen, in einem Förderkreis sind oder sich einfach nur dafür interessieren und mit den Meßstellen Kontakt halten, stellen ihre Meßergebnisse auch ins Internet. Dadurch versuchen sie, die Strahlenbelastung zu minimieren, insbesondere für ihre Kinder.

Was die Verstrahlung von Nahrungsmitteln betrifft, bestehen noch einige andere Probleme in Japan, beispielsweise durch das Schulessen, in dem extra Produkte aus Fukushima verkocht werden. Da wird ein Gruppenzwang erzeugt, daß Schulkinder das essen sollen. Und in der Werbung fordert man dazu auf, aus Solidarität mit den Bauern in der Präfektur Fukushima deren Erzeugnisse zu kaufen und zu verzehren.

SB: Das wäre beinahe so, als wenn man hier in Deutschland sagte: "Trinkt Tschernobyl-Milch!"

TD: Genau.

Solarmodule auf einem Gestell, dahinter die Auferstehungskirche - Foto: © 2014 by Schattenblick

Solarenergie statt Atomstrom - das bevorzugte Energiemodell der Umweltverbände
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Welchen Eindruck bringen Sie aus Japan mit: Ist die Region um Fukushima zu einem Eldorado der medizinischen, physikalischen, sozialwissenschaftlichen oder sonstwie gearteten Forschungsdisziplinen in Verbindung mit Nuklearunfällen geworden?

TD: Ja, das halte ich für offensichtlich, denn die offizielle japanische Politik läuft darauf hinaus, die Leute wieder in die verstrahlten Gebiete zurückzuschicken. Das kann man nur so deuten, daß die Leute da als Versuchskaninchen dienen, denn rechtfertigen läßt sich das nicht. Von Tschernobyl weiß man ja, was passiert, dazu wurden genügend Untersuchungen gemacht. Medizinisch läßt sich die Rückkehr nicht begründen, dafür sind die Strahlenbelastungen zu hoch.

SB: Wobei die Weltgesundheitsorganisation WHO die Einschätzung verbreitet, daß die gesundheitlichen Strahlenfolgen in der Statistik untergehen werden. Sie rechnen da aber mit anderen Zahlen, oder?

TD: Ja, natürlich.

SB: Medienberichten zufolge wird bei Schulkindern eine deutlich erhöhte Zahl von Knötchenbildungen in den Schilddrüsen entdeckt. Wie erklären Sie sich die Diskrepanz bei der Deutung dieses medizinischen Befunds zwischen der WHO und einigen atomkritischen Organisationen?

TD: Das Monopol auf die Deutung dieser Befunde hat nicht die WHO, sondern die IAEA, die Internationale Atomenergie-Agentur. Die hat in den fünfziger Jahren mit der WHO einen Vertrag geschlossen, wonach sich diese mit der IAEA abstimmt, also mit einem erklärten Förderer der friedlichen Atomenergie, einer Lobby-Organisation für den Bau von Atomkraftwerken. Und die IAEA versucht, den Leuten einzureden, daß in Fukushima mit keinen großartigen Strahlenfolgen zu rechnen ist. Aber das ist falsch. Man braucht ja nur die Literatur zu lesen, in der steht etwas ganz anderes. Wir wissen seit Tschernobyl, daß eben auch niedrige Strahlendosen alle möglichen negativen Effekte auslösen.

SB: Eines der Argumente lautet, daß sich in den Schilddrüsen der Schulkinder von Fukushima noch gar nichts abzeichnen könne. Von Tschernobyl wisse man, daß Schilddrüsenveränderungen erst nach fünf Jahren aufträten. Daraus wird der Schluß gezogen, daß nicht sein kann, was hier offensichtlich beobachtet wird. Könnte man den Unterschied nicht damit erklären, daß in Fukushima die Umstände ganz andere sind?

TD: Es stimmt überhaupt nicht, daß in Tschernobyl Schilddrüsenkrebs erst nach fünf Jahren aufgetreten ist. Die damalige Sowjetregierung hatte den Medizinern lediglich verboten, Beziehungen zwischen Strahlenbelastungen und auftretenden Erkrankungen zu untersuchen. Erst mit Glasnost und dem Zerfall der Regierung, also nach fünf Jahren, änderte sich das. Deswegen liegt für den besagten Zeitraum keine vernünftige offizielle Statistik vor. Dennoch gibt es aus einzelnen Gebieten in Weißrußland, wo die Belastungen besonders hoch waren, Untersuchungsergebnisse aus den ersten fünf Jahren. Solche Krebserkrankungen traten auf. Allerdings stieg die Kurve nach fünf Jahren sehr steil an, nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.

Wenn jetzt von offizieller Seite in Japan behauptet wird, daß es solche Schilddrüsenauffälligkeiten bei Kindern auch früher schon gegeben hat, nur daß das jetzt durch die breite Messung herausgekommen ist, dann ist das nicht logisch. Weil nämlich normalerweise unter einer Million Kindern ein bis zwei an Schilddrüsenkrebs erkranken. Nach den neuesten Zahlen, die genannt werden, liegt man inzwischen bei 74 Kindern, und zwar nicht auf eine Million, sondern auf 245.000 gerechnet. Es wurden bis jetzt noch nicht einmal alle Kinder aus der Präfektur untersucht. Vor dem Unglück lebten dort 390.000 Kinder.

SB: Wurden diese Kinder einmal oder mehrmals untersucht?

TD: Im wesentlichen einmal. Rund 18.000 wurden schon das zweite Mal untersucht. Als wir in der Stadt Fukushima waren, haben wir eine öffentliche Veranstaltung mit Professor Suzuki, dem Leiter des Schilddrüsenprogramms, besucht. Da wurde er aus dem Publikum gefragt, wie das mit den Wiederholungsuntersuchungen sei, und er erwiderte: "Wir haben zur Zeit noch gar nicht so viele Experten für Kinderschilddrüsen. Die werden jetzt ausgebildet und stehen in zwei Jahren zur Verfügung." So kommt also die Erklärung, daß man erst in zwei Jahren eine abermalige Untersuchung durchführt, zustande.

SB: Läßt sich aus Ihrer Sicht ungefähr abschätzen, mit welchen Strahlenfolgen zu rechnen ist? Haben Sie andere Abschätzungen als die der WHO?

TD: Ja, solche Abschätzungen existieren, ich kann Ihnen jetzt allerdings keine konkreten Zahlen nennen, sondern nur so viel: Natürlich wird sich das ganze Spektrum an Strahlenerkrankungen abzeichnen. Das fängt typischerweise mit den Schilddrüsenerkrankungen an, ziemlich bald gefolgt von Leukämien. Übrigens hat man bei der IAEA und der WHO behauptet, in Weißrußland hätte es diese Effekte gar nicht gegeben. Noch 2008 wurde behauptet, daß deswegen die Effekte, die man auch hier in Süddeutschland, in Griechenland und anderen Ländern beobachtet hat, nicht stimmen könnten, denn man habe ja in Weißrußland, wo die höchsten Belastungen waren, keine Erhöhung registriert. Das stimmt aber nicht, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Dort wurde sehr wohl ein steiler Anstieg an Leukämiefällen, auch unter Kindern, beobachtet.

Von Kindern aus Fukushima wird ja bereits über ein anfallsartiges Nasenbluten berichtet. Auch der Bürgermeister von Futaba, einer Stadt, die vergleichbar ist mit Prypjat bei Tschernobyl, da sie ebenfalls in der Nähe eines havarierten Atomkraftwerks liegt, aus der alle Einwohner, die am Anfang noch sehr hohe Strahlendosen abbekommen haben, evakuiert wurden. Dieser Bürgermeister hat ebenfalls so etwas wie anfallsartiges Nasenbluten. Das ist schon ein Hinweis in Richtung der erste Anfänge einer akuten Strahlenwirkung. In Japan rechnet man auch mit Fehlbildungen wie 1986 nach der Tschernobyl-Explosion. Damals traten hier in Berlin am Anfang vermehrt Trisomie 21 - das Down-Syndrom - und auch Lippen-Kiefer-Gaumenspalten auf.

Panoramaaufnahme der Stadt - Foto: Bkv7601, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

"Geisterstadt" Prypjat, im Hintergrund das Kernkraftwerk Tschernobyl, Mai 2011
Foto: Bkv7601, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

SB: Existieren Daten über statistische Häufungen von Strahlenfolgen in der Nähe der heutigen Atomeinrichtungen in Deutschland?

TD: Die Zahlen kenne ich nicht auswendig. Aber in der Umgebung von Zwischenlagern wurden Auffälligkeiten registriert, wobei nicht ganz klar ist, woher die stammen. Beispielsweise gibt es im Umkreis des Zwischenlagers in Lüchow-Dannenberg in Gorleben solche Effekte, nämlich Veränderungen des Geschlechterverhältnisses von Jungen zu Mädchen, die neu geboren werden. Es werden dort insgesamt weniger Kinder, aber statistisch signifikant weniger Mädchen geboren. Das hat Dr. Hagen Scherb, Biomathematiker am Helmholtz-Zentrum München, näher untersucht.

SB: Würden Sie den Umweltorganisationen empfehlen, sich mit der Regierung an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam Kriterien für ein atomares Endlager zu suchen?

TD: Nein. Nach Fukushima ist der BUND auf mich zugekommen und hat mich gebeten, den Vorsitz ihrer Atom- und Strahlenkommission, die den Bundesvorstand in diesen Fragen berät, zu übernehmen, was ich akzeptiert habe. Und diese Kommission hat eindeutig beschlossen, das aus den vielen Gründen, die auch heute auf der Tagung immer wieder genannt wurden, da nicht mitgemacht werden sollte.

Podiumsplätze auf der Berliner Tagung sind noch unbesetzt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ausblick auf die Endlagerkommission - die Plätze der Umweltverbände bleiben leer
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Für die regelmäßige Herausgabe des Strahlentelex erhielt Thomas Dersee den Umweltpreis für JournalistInnen 2006 der Deutschen Umweltstiftung.

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UMWELT → REPORT → INTERVIEW:

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8. April 2013