Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → REPORT

INTERVIEW/033: Klimawandel in Regionen - Modelle, Politik, Globales (SB)


3. REKLIM-Konferenz "Klimawandel in Regionen" am 3. September 2012 im Wissenschaftspark "Albert Einstein" auf dem Telegrafenberg in Potsdam

Interview mit dem REKLIM-Leiter Prof. Dr. Peter Lemke vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung

Von der globalen Erwärmung sind die Regionen der Erde sehr unterschiedlich betroffen. Für die Regierungen ist es von höchstem Interesse, abschätzen zu können, was auf die einzelnen Länder zukommt. Doch nur wenige Gesellschaften können sich einen so umfangreichen Wissenschaftsbetrieb leisten wie Deutschland, wo sich vor rund drei Jahren innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten deutschen Wissenschaftsorganisation, acht Forschungszentren zum sogenannten Helmholtz-Verbund Regionale Klimaänderungen - REKLIM - zusammengeschlossen haben. Auf dessen diesjähriger Tagung im Wissenschaftspark "Albert Einstein" auf dem Telegrafenberg in Potsdam hatte der Schattenblick die Gelegenheit, mit dem REKLIM-Leiter Prof. Peter Lemke ein Interview zu führen. [1] Darin äußerte er sich unter anderem zu Fragen der Klimasimulationen und Modellbildung, der Forschungspolitik und möglichen Klimawandelfolgen wie dem Versiegen des Golfstroms oder der Auflösung von Gashydraten an den Ozeanböden.

Interviewpartner am Stehtisch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Peter Lemke im Gespräch mit SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Inzwischen sind die Worst-Case-Szenarien, welche die Klimawissenschaftler vor fünf oder zehn Jahren entworfen haben, schon Standard oder wurden übertroffen. Sollte das nicht eigentlich dazu führen, daß bei Politik, Wissenschaft und überhaupt in der Gesellschaft alle Alarmglocken klingeln?

Peter Lemke: Ich glaube, die Alarmglocken haben schon geklungen, aber zu einer Zeit, als zum Beispiel der letzte IPCC-Bericht [2] herausgekommen ist. Damals, im Jahr 2007, gab es keine anderen Sorgen, weswegen man gesagt hat: 'Oh, interessant, ja, wir sollten etwas tun.' Bereits im Jahr zuvor hatte es einige Temperaturrekorde gegeben: Wärmster Winter, wärmster Herbst, und es wurden jede Menge andere Rekorde gebrochen. Die Bevölkerung war alarmiert, der Wirtschaft ging es noch gut und deswegen war kein anderes Thema auf der Palette der Politiker. Heute ist das Klimaproblem in den Hintergrund gerückt, weil die Hunderte von Milliarden, die jetzt durch die Gegend fließen und die schwarzen Löcher stopfen müssen, das Hauptthema sind. Das wird noch eine Weile so bleiben. Deswegen denke ich, daß im Augenblick die Akzeptanz, etwas zu ändern, eher gering ist. Die Politiker und auch die Bevölkerung haben andere Sorgen.

SB: Laut der allgemeinen Medienberichterstattung waren die Ergebnisse der Rio+20-Konferenz [3], die nach Kopenhagen 2009 [4] die nächst größere Umweltkonferenz war, eher bescheiden. Teilen Sie diese Einschätzung?

PL: Einen richtigen Durchbruch hat es nicht gegeben. Es wäre aber auch von den Politikern zuviel verlangt bzw. von ihnen erhofft, daß sie tatsächlich einen Durchbruch schaffen. Denn im Augenblick sind ja die Probleme ganz woanders zu lösen. Es gibt natürlich Widerstand, weil gerade die entscheidenden Länder wie die USA nicht mitmachen und sich die inzwischen entscheidenden Länder wie China und Indien immer noch bedeckt halten, was ihren eigenen Beitrag betrifft. Sie leisten natürlich schon etwas, so hat China einiges an alternativen Energien aufgebaut. Aber das Land ist so riesig und hat so viel nachzuholen, daß es auf Kohle, Gas und Öl zurückgreifen muß, das ist gar keine Frage. Aber insgesamt gesehen ist es schon frustrierend zu sehen, daß sich die Treibhausgas-Emissionen an dem Worst-Case-Szenario entlanghangeln. Außerdem zeichnet sich nicht das geringste kleine Abflachen der CO2-Emissionskurve ab.

SB: Wie schätzen Sie den Schaden ein, den die sogenannten Klimaskeptiker auf die gesellschaftliche Akzeptanz von, aus Ihrer Sicht, notwendigen Klimaschutzmaßnahmen angerichtet haben?

PL: Erst einmal sind wir unsere eigenen größten Skeptiker. Weil wir als Wissenschaftler jedes Resultat, das wir haben, hinterfragen. Wir fragen immer danach, ob es eine besseren Erklärung gibt. So hat Einstein Newton verbessert in einem Bereich, in dem es über 100 Jahre lang keinen Verbesserungsbedarf gegeben hat, weil bestimmte Effekte erst unter ganz speziellen Bedingungen, wie zum Beispiel in Elektronenbeschleunigern, auftreten. Aber die Skeptiker sind natürlich dann nützlich, wenn sie uns auf Schwachpunkte hinweisen, an denen wir arbeiten. Wo wir nicht nur unsere Modelle überprüfen, sondern auch auch unsere eigene Argumentation, wie wir unser Wissen nach außen hin darstellen.

Es gibt natürlich Skeptiker, die einfach ohne Grund sagen, die Klimaforschung ist Quatsch, ihr seid auf dem Holzweg, CO2 ist kein Treibhausgas. Das ist einfach Unfug. Wir wissen natürlich alle, daß unsere Modelle nicht perfekt sind. Aber eines kann man schon sagen, daß die Klimamodelle mit all ihren Schwachpunkten sicherlich eines der besten Vorhersagemittel unserer Gesellschaft sind! Wenn Sie das mal mit der Steuerschätzung vergleichen. Die ist nach vier Wochen falsch. Wir haben den großen Vorteil, daß wir für die Klima- und Wetterprognosen physikalische Grundgleichungen nutzen können. Es gibt keinen Erhaltungssatz für Geld, aber es gibt einen Erhaltungssatz für Masse und Energie. Es besteht zwar die Schwierigkeit, diesen auf einen Bereich wie Deutschland, die USA oder die ganze Welt anzuwenden, weil das alles heterogenes Gelände ist. Aber im Prinzip sind diese Gesetze bekannt.

Bei ökonomischen Gesetzen ist das nicht der Fall. Es gibt keine prognostischen Gleichungen in dem Sinne und keine Erhaltungsgrößen. Deswegen haben die Ökonomen das viel schwerer. Je nach dem, was der amerikanische Notenbankchef Ben Bernanke abends sagt, geht am nächsten Tag der Aktienkurs rauf oder runter. Bei der Wettervorhersage ist es dem Wetter am nächsten Tag vollkommen egal, was der Wetterdienst zuvor herausgegeben hat!

SB: Eine scheinbare Lösung der Klimaproblematik wird in der Veränderung des Lebensstils gesehen. Glauben Sie, daß daraus eine gesellschaftliche Bewegung entstehen kann und daß die reicht, um eine Veränderung zu erreichen, so daß der Klimawandel aufgehalten wird?

PL: Im Prinzip ja. Im Prinzip müßte jeder Mensch daran interessiert sein, seinen Kindern eine intakte Umwelt zu hinterlassen. Das tun wir zur Zeit nicht. Wir räubern den Planeten aus. Nicht nur mit Öl und Gas und den Ressourcen, die unsere Energienutzung betreffen, sondern auch mit allen anderen Bodenschätzen, die wir rausnehmen und einfach achtlos wieder wegwerfen. Zum Beispiel werden wir später unsere Mülldeponien nach verwertbaren Metallen absuchen. Die Menschen sind natürlich gefangen in ihrem eigenen Lebensrhythmus oder Lebensstil, und etwas anderes zu tun, als was sie gestern getan haben, erfordert schon eine gewisse Einsicht oder einen Zwang von außen. Den Zwang von außen durch das Klima sehe ich nicht, weil es keine Klimakatastrophe gibt. Es gibt Wetterkatastrophen. Da kann man dann sagen, das Klima ändert sich und wir werden mehr davon bekommen, aber Wetter ist nicht Klima und Klima schreitet ganz langsam voran.

Der Meeresspiegel steigt auch nur ganz langsam an. In den nächsten hundert Jahren vielleicht um einen Meter. Da können wir hier in Westeuropa noch die Deiche erhöhen, in Bangladesch wird das nicht mehr der Fall sein. Es gibt also viele Landstriche, in denen der Klimawandel tatsächlich die Leute langsam bedrängt, und natürlich sind die Verursacher angehalten, darüber nachzudenken, ob sie ihren Lebensstil ändern. Es gibt ein schönes Buch von Claus Leggewie und Harald Welzer: "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten". Das zeigt, daß man seinen Lebensstil ändern sollte und daß das geht, ohne den Spaß am Leben zu verlieren. 'Spaß am Leben' heißt jedoch nicht, nach New York zu fliegen, um einzukaufen, oder ein großes Auto zu fahren. Also kein Drei-Liter-Hubraumauto, sondern lieber ein Drei-Liter-Verbrauchsauto.

Diese Lebensstile neu zu definieren ist ein Generationsproblem. Das wird man meiner Generation nicht mehr einimpfen, außer denen, die das schon erkannt haben. Man wird das sicherlich den jungen Menschen einimpfen müssen und die Frage ist natürlich, wie setzen die das um? Wenn man bewußt darüber nachdenkt, müßte eigentlich jeder Mensch sofort sagen: 'Ja, das mache ich. Ich gebe einfach ein bißchen was auf. Ich fahre morgens mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto zum Bäcker und hole die Brötchen. Ich regle die Heizung ein bißchen runter und ziehe einen Pullover an', oder etwas in der Art.

Prof. Lemke - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Im Prinzip müßte jeder Mensch daran interessiert sein, seinen Kindern eine intakte Umwelt zu hinterlassen'
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Können Sie ein Beispiel nennen, wo die wissenschaftlichen Erkenntnisse Ihrer REKLIM-Initiative von der Politik aufgegriffen und umgesetzt wurden? Gibt es schon konkrete Beispiele für den Einfluß, den Ihre Arbeit auf gesellschaftliche Veränderungen gehabt hat?

PL: Hinsichtlich der Politik ist das schwierig, weil wir erst drei Jahre 'im Geschäft' sind und die Politik doch ein ziemlich zäher Bereich ist, der sich nur langsam ändert. Aber es gibt natürlich Interessenten. Das sind zum Beispiel Hagel-Versicherungen, die mit unserem Klimabüro in Süddeutschland eng zusammenarbeiten, auch mit dem KIT [5], und die wissen möchten, ob sie sich - gerade bei der Intensivierung des Wasserkreislaufs - auf stärkere Niederschläge und damit auch auf möglichen Hagel im Sommer und zur Erntezeit einstellen müssen. Darüber hinaus haben Sie heute gehört, daß es Anwender im Bereich der Naturschutzparks oder der Grundwasserversorgung gibt, also eher im Bereich der Behörden und Versicherungen, weniger in der Politik.

SB: Wir haben in einem der Vorträge auch gehört, daß der Golfstrom in der Vergangenheit eine sehr unterschiedliche Dynamik entfaltet hat. Mal fließt er kräftiger, mal weniger kräftig. Ist es noch ein denkbares Szenario, daß der Golfstrom vollständig versiegt, wie es verschiedentlich diskutiert wurde?

PL: Da gibt es einen bekannten Film, "The Day after Tomorrow", der natürlich ein Hollywood-Film ist mit einem entsprechenden Plot und einer Physik, die abstrus und völlig übertrieben ist. Da wurde das Thema aufgegriffen, daß der Golfstrom in seiner Stärke nachlassen könnte. Und zwar dadurch, daß der Nordatlantik mit Schmelzwasser von Grönland geflutet wird und sich dadurch die Umwälzbewegung im Meer reduziert. Dadurch würde der Drang des Golfstroms nach Norden schwächer werden, vergleichbar mit dem Kuroshiro im Pazifik.

Die Strömung würde sich nicht nach Norden ausweiten, weil dort das Wasser weniger salzhaltig ist als im Nordatlantik. Doch der Golfstrom würde erst dann versiegen, wenn sehr viel Eis auf Grönland geschmolzen ist und das den Salzgehalt im Nordatlantik herabgesetzt hätte. Dann wäre es hier bei uns aber auch sehr warm! Wenn also der Golfstrom versiegte, hätten wir hier eine Erwärmung um vielleicht drei statt vier Grad Celsius, aber eben immer noch eine Erwärmung. Wir bekämen keine kleine Eiszeit. Das ist einfach Quatsch.

Außerdem muß bedacht werden, daß wir unsere Energie im Winter im wesentlichen über die Westwinde von der Speicherung der Wärme im Nordatlantik erhalten. Die setzt sich aus der Sonneneinstrahlung des Nordatlantiks und aus dem Golfstrom zusammen. Die lokale Speicherung durch die Sonne ist viel größer als durch den Golfstrom. Der ist wichtig, aber er macht vielleicht nur ein Drittel von dem aus, was insgesamt an Wärme im Atlantik gespeichert ist.

Weiter im Süden dagegen ist der Golfstrom viel kräftiger. Man sagt ja, er transportiert soviel Energie, wie eine Million Kernkraftwerke erzeugen. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Das ist eine riesige Menge an Energie, aber die befindet sich hauptsächlich in dem Gebiet, wo der Golfstrom noch am amerikanischen Kontinent entlangfließt. Sowie er über den Nordatlantik hinübergeht und nach Europa kommt, nimmt die Energiemenge schon deutlich ab. Entsprechend kleiner ist der Anteil an Wärme, die im Sommer gespeichert und im Winter wieder abgegeben wird und den wir mit der Westwindzone erhalten.

SB: Ein Thema, das vor einigen Jahren hochkam und sich seitdem nicht mehr so sehr in der öffentlichen Aufmerksamkeit befindet, sind die Gashydrate, die in den Kontinentalschelfen gebunden sind. Sieht die Wissenschaft da eine Gefahr, daß sie sich im Zuge des Klimawandels und der Erwärmung der Meere lösen, aufsteigen und in die Atmosphäre gelangen könnten? Ist das ein realistisches Szenario?

PL: Die Gefahr besteht natürlich. Es sind große Mengen Gashydrate gespeichert. Die Frage ist natürlich, was passiert mit dem Gas in der Wassersäule, wenn die Hydrate, die in Form von Eis am Meeresboden liegen, schmelzen und langsam nach oben diffundieren. Entweicht das als Methan in die Erdatmosphäre oder wird es vorher schon durch Bakterien im Wasser verarbeitet? Und kommt das dann biologisch umgesetzt vielleicht als Kohlendioxid raus? Das weiß eigentlich noch niemand so genau.

Mich macht zuversichtlich, daß keine Katastrophe passiert, weil wir in den Eiskernen über die letzten 800.000 Jahre keinen solchen Methan-Peak sehen, der auf solch eine Katastrophe hinweist. Denn das Methan-Signal [6] macht wie das CO2-Signal schöne 100.000 Jahre-Zyklen. Die sind durch den Wechsel von Eiszeiten und Warmzeiten bedingt. Es gibt aber einige Warmzeiten, da war es noch wärmer als heute, beispielsweise vor 120.000 Jahren. Damals lag der Meeresspiegel vielleicht vier, fünf Meter höher, und das Eis auf Grönland war deutlich geschrumpft. Die langfristigen Signale zeigen, daß keine Methankatastrophe auftrat. Aber man will das ja nicht ausschließen, daß so etwas zum ersten Mal passieren könnte. Am Meeresboden sind schon erhebliche Methanreserven gelagert, aber offensichtlich werden die im System wenigstens zum Teil durch biologische Prozesse verarbeitet.

SB: Ich möchte einmal auf die Modellbildung zu sprechen kommen. Grundlage von globalen Klimamodellen sind ja eigentlich ganz viele Einzelmessungen. Jetzt machen Sie im Rahmen Ihrer REKLIM-Initiative wieder eine Rückübertragung vom Globalen auf die Region. Darum meine Frage: Liegen die Daten zur Region nicht schon vor?

PL: Gehen wir einmal von wirklich direkten Messungen durch Thermometer aus. Die gibt es ja noch nicht so lange. Galilei hat das Thermometer vor etwa 400 Jahren erfunden. Und die längsten Zeitreihen am Stück reichen vielleicht 270 oder 300 Jahre zurück. Es gibt aber erst seit ungefähr dem Jahr 1850 globale Messungen. Das Witzige ist nun, obwohl man Temperaturen und Luftdruck messen konnte und die Leute schon ganz gut Bescheid wußten, wie das Wetter damit zusammenhängt - sie wußten zum Beispiel, wenn sie das Wetter in London kennen, wie es am nächsten Tag in Hamburg sein würde -, besaßen sie keine Möglichkeit, die Daten zu transportierten. Die mußten per Postkutsche befördert werden! Das hat dann drei Tage gedauert, und das Wetter war längst vorbei. Erst als der Telegraf erfunden wurde, 1845, konnte man die Wetterdaten tatsächlich schneller transportieren, als das Wetter selber war.

Das war auch der Grund, warum die Wetterdienste entstanden sind. Um 1900 herum gab es dann in vielen Nationen solche Einrichtungen. Das waren die ersten, die sich international organisiert und ihre Beobachtungsdaten allen anderen zur Verfügung gestellt haben. Auf das internationale Datenpositorium kann heute jeder zugreifen, alles ist umsonst. Die Wettervorhersage selbst muß dann natürlich jedes Land für sich machen.

Hinweisschild auf dem Telegrafenberg von Potsdam: Station 4 der Optischen Telegrafenline Preußens zwischen 1832 und 1849 - Foto: © 2012 by Schattenblick

Optische Telegrafie noch zu umständlich für Übertragung von Wetterdaten
Foto: © 2012 by Schattenblick

Verlauf der fast 550 Kilometer langen optischen Telegrafenlinie in Preußen um 1835 - Foto: Lencer, freigeben als CC-Lizenz durch Wikimedia

Teil der Reichssicherung - Optische Telegrafenlinie von Koblenz bis Berlin
Foto: Lencer, freigeben als CC-Lizenz durch Wikimedia

Das sind aber sozusagen nur Stationsmessungen an Land. Für die Ozeane gab es gar nichts. Seit zehn Jahren existiert im Ozean ein äquivalentes Datennetz. Das besteht aus sogenannten Driftern, die bis zu 1500 Meter abtauchen, zehn Tage treiben und dann wieder auftauchen. Beim Auftauchen messen sie den ganzen Ozean durch und funken das dann via Satellit weiter an die Datenverarbeitungszentren. Seitdem erhält man auch über die Ozeane solche Daten. Die sind ebenfalls frei verfügbar.

Diese Daten zusammen sagen etwas über die langfristige Entwicklung, aber nichts über Prozesse der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Komponenten aus. Sie sagen zum Beispiel etwas über Atmosphäre, Temperatur, Niederschlag, Strahlung, Meeresströmung und -temperatur, über Druck und so weiter aus. Aber wir erfahren nichts darüber, was physikalisch die Veränderungen produziert. Dafür muß man dann lokal mit Flugzeugen oder Schiffen tatsächlich mal für vier Wochen so einen Kaltluftausbruch aus der Arktis - über Spitzbergen zum Beispiel - über die Eiskante hinweg beobachten und schauen, wieviel Energie tatsächlich vom Ozean in die Atmosphäre gelangt. Wenn die kalte Luft mit minus 30 Grad Celsius über den mit minus 2 Grad vergleichsweise dazu warmen Ozean zieht, dann schießt die Wärme richtig nach oben. Sie sehen das als Verdunstung, und Sie können dann die Eiskristalle beobachten, die sich dort bilden. Das ist wie Seerauch. [7] Wir haben dazu natürlich schon einige Messungen durchgeführt, aber das muß noch genauer gemacht werden.

Ein anderes Beispiel. Ein Gewitter oder einen Starkniederschlag innerhalb eines Gewitters kann selbst der Wetterdienst heute noch nicht richtig berechnen, weil für die Beschreibung einer Gewitterwolke eine Auflösung von 30 Kilometern nicht genügt. Die müßten Sie eigentlich in Ein-Kilometer-Schritten auflösen. Das geht aber noch nicht. Also macht man für Niederschlag einfach eine Mittelung über eine 100-Kilometer-Gitterzelle.

Sie haben heute in einem der Vorträge gehört, daß es diese feinen nicht-hydrostatischen Gleichungen in Modellen gibt, da sind die Raster 10 oder 7 Kilometer groß. Manchmal auch nur 2,8 Kilometer, aber selbst das ist bei einer Gewitterwolke von 30 Kilometer Ausdehnung wenig. Man hat dann zur Beschreibung 10 Gitterpunkte. Das reicht gerade eben aus, um so eine Gewitterzelle, die ja innen einen starken Aufwärtstrend der Luftmassen und am Boden einen Sturm hat, zu beschreiben.

So gibt es viele Prozesse, die wir nicht kennen, die wir aber jetzt mit modernen Methoden erfassen können. So haben wir unsere Flugzeuge, die zu modernen Messungen in der Lage sind, auch erst ein paar Jahre. Wir hatten zwar vorher auch schon Flugzeuge, aber die konnten nicht viel messen. Auch Messungen der Eisdicke sind jetzt erst möglich, weil wir das Gerät dazu entwickelt haben. Es gibt also viele Dinge, die wir jetzt erst können und deswegen gehen wir auf die regionale Skala. Hinzu kommt, und das ist noch wichtiger, daß unsere Computer nach beinahe vierzig Jahren endlich ausreichen, auf diese Zwei- oder Ein-Kilometerskala zu gehen und tatsächlich trotzdem einen größeren Bereich wie Europa zu modellieren. Das ist nur mit der modernen Computertechnologie möglich. Wir kommen also jetzt wieder zurück zu den Regionen, weil endlich die Computertechnologie existiert und weil auch unsere Geräte Dinge messen können, die wir vorher nicht erfassen konnten.

SB: Wird es jemals ein Ende des Bedarfs der Wissenschaft nach feineren Rastern und leistungsfähigeren Computern geben, um zu Erkenntnissen zu gelangen?

PL: Diese ganz kleinen Staubteufel, die Sie auf dem Feld manchmal sehen und die einen Durchmesser von etwa einem Meter haben, sind vielleicht nachher für die Vermischungsprozesse der Atmosphäre nicht mehr so relevant. Die Frage ist dann: Worauf kann ich verzichten? Wenn ich eine lange Integration von Daten machen will, kann ich die nicht so fein auflösen. Trotzdem habe ich damit eine ganze Menge gewonnen, weil ich eben langfristige Szenarien rechnen kann.

Sicherlich wird das noch eine Weile so weitergehen, aber es ist natürlich klar, daß, wenn die Computer besser werden, es ganz leicht sein wird, ein Computermodell auf eine feinere Skala zu bringen. Das ist dann nur ein Schalter, mit dem die Gitter feiner gemacht werden. Aber mit dieser Verfeinerung müßten sie eigentlich ihre ganze Parametrisierung ändern, weil dann Prozesse plötzlich direkt beschrieben werden, die Sie nicht mehr parametrisieren müssen. Das ist heute schon in einem Vortrag angesprochen worden. Das wird zur Zeit überdacht.

SB: Herr Professor Lemke, herzlichen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] Zu diesem Thema bereits erschienen:

BERICHT/027: Klimawandel in Regionen - Modelle, Wirklichkeiten, Fragen (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0027.html

INTERVIEW/031: Klimawandel in Regionen - Verpaßte Chance? Prof. Dr. Karin Lochte antwortet (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0031.html

[2] IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change (Zwischenstaatlicher Ausschuß für Klimaänderungen), im Deutschen auch Weltklimarat genannt. Der letzte umfassende IPCC-Report zur globalen Klimaentwicklung wurde 2007 veröffentlicht, der nächste ist für 2013 angekündigt.

[3] Mit Rio+20 wird die United Nations Conference on Sustainable Development (UNCSD), zu Deutsch: Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung, bezeichnet. Sie fand vom 20. bis 22. Juni 2012 in Rio de Janeiro statt, zwei Jahrzehnte nach der 1992 durchgeführten Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung.

[4] Im Jahr 2009 fand in Kopenhagen die 15. Konferenz der Vertragsstaaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen statt.

[5] KIT - Karlsruhe Institute of Technologie. Die
Forschungseinrichtung gehört dem REKLIM-Verbund an.

[6] Methan-Signal - Wenn eine bestimmte Schicht in einem Eisbohrkern besonders viel Methan enthielte, könnte das gemessen werden. Dementsprechend würde das Meßgerät ein Signal geben.

[7] Seerauch - Eine Form von Verdunstungsnebel, der entsteht, wenn sehr kalte Luft über relativ warmes Wasser strömt.

Fünf Forschungseinrichtungen an einem Standort - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Telegrafenberg - Wissenschaftscluster in Potsdam Foto: © 2012 by Schattenblick

23. September 2012