Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/151: Albatross - gespaltene Sichten ... (SB)


Für mich ist das Knien über ihren Kadavern wie der Blick in einen makabren Spiegel. Diese Vögel spiegeln ein schreckliches sinnbildliches Ergebnis der kollektiven Trance unseres Konsumismus und des unkontrollierten industriellen Wachstums wider. Wie dem Albatros fehlt es uns Menschen in der Ersten Welt nunmehr an der Fähigkeit, zu unterscheiden, was für unser Leben und unseren Geist nahrhaft und was toxisch ist. Der mythische Albatros, der an unserem Abfall erstickt, fordert uns auf, zu erkennen, daß unsere größte Herausforderung nicht da draußen, sondern in uns liegt.
(Chris Jordan, Seattle, Februar 2011 [1])


Spärliche bewachsene Sandfläche mit zahllosen, hockenden Jungvögeln, dazwischen eine militärische Hinterlassenschaft - Foto: U.S. Government Accountability Office

Midway-Atoll, 16. April 2015: Junge Albatrosse warten auf ihre Eltern, die ihnen unwissentlich teils tödliche Nahrung mitbringen
Foto: U.S. Government Accountability Office

Der Film "Albatross" von Chris Jordan zeigt hautnah Schlüpfen, Aufwachsen und Sterben von Albatrossen auf der Insel Midway im Pazifik. Dort leben Hunderttausende Seevögel, weitgehend ungestört von Menschen, in einer Umgebung mit allmählich zerfallenden Hinterlassenschaften des US-Militärs. Viele junge Albatrosse verenden hier, am Rande des riesigen pazifischen Müllstrudels, weil sie von ihren Eltern mit Plastikmüll wie den allgegenwärtigen Flaschendeckeln gefüttert werden, den diese zuvor von der Meeresoberfläche als vermeintlich glitzernde Fische aufgenommen haben.

Junge Albatrosse benötigen bestimmte kräftige Winde, damit sie bei ihrem ersten, noch unbeholfenen Start genügend Andruck unter die Flügel bekommen, um von der Insel abheben zu können, so daß sie fortan selber auf Fischjagd gehen. Der Plastikmüll im Magen schwächt die Tiere jedoch und macht sie zu schwer. Landen sie bei einem Fehlversuch im Wasser, saugen sich die Flügel voll und halten die Tiere fest. Das ist ihr sicherer Tod.

Ein Jahr lang hat die Surfrider Foundation den Film "Albatross" in 15 europäischen Städten gezeigt, Ausgangs- und Endpunkt war jeweils Berlin. Gemäß den Bedingungen des Filmemachers Chris Jordan aus den USA waren die Vorführungen kostenlos; auch im Internet ist der Film frei verfügbar. Passend zu dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen Welttag der Ozeane wurde "Albatross" am 8. Juni dieses Jahres zum Abschluß der Einjahrestour im Freilichtkino in der Cassiopeia in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg präsentiert.

Er müsse bei dem Film jedesmal weinen, bekannte Luca von der Surfrider Foundation, der die Moderation des Abends übernommen hatte, freimütig. So oft er den Film auch gesehen habe, zu einer Gewöhnung sei es nie gekommen. Er könne die Liebe zu den Tieren nachvollziehen, von der Jordan in dem Film spreche, sagte er im Anschluß an die Vorführung gegenüber dem Schattenblick.

Luca, der früher Mitglied bei Greenpeace war, und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben die Tour kreuz und quer durch Europa aus idealistischen Gründen unternommen und nichts daran verdient. Ermöglicht wurde dies von Sponsoren wie der Meeresschutzorganisation Parley for Oceans, die auch Jordans Film mitfinanziert hat.


Moderator mit Mikrofon bei der Ansage - Foto: © 2019 by Schattenblick

Luca von der Surfrider Foundation moderiert den Film "Albatross" und stellt verschiedene Gruppen, die sich mit Meeresschutz befassen, vor
Foto: © 2019 by Schattenblick

Jene Albatrosse auf dem als "nicht inkorporiertes Territorium" zu den Außengebieten der Vereinigten Staaten zählenden Midway-Atoll sind überhaupt nicht menschenscheu, und so gelingen dem Dokumentarfilmer, Naturschützer und Künstler Chris Jordan und seinen Teams bei ihren acht Besuchen binnen vier Jahren einzigartige Aufnahmen. Erstmals hatte Jordan im September 2009 die Insel aufgesucht und dort das Sterben von sprichwörtlich Tausenden junger Albatrosse gefilmt. Diese Erfahrung sei "erschütternd" gewesen, "nicht nur für das, was sie für das Leiden der Vögel bedeutet, sondern auch für das, was sie uns über die zerstörerische Kraft unserer Kultur des Massenkonsums und die beschädigte Beziehung der Menschheit zur lebenden Welt widerspiegelt", schreibt Jordan auf der Website zum Film. [2]

Die sehr gelungenen Tonaufnahmen ergänzen die Erzählung des Films, die Jordan am Schneidetisch aus über 400 Stunden Filmmaterial und zahllosen Fotos zu einem 97minütigen Dokument über die Albatrosse zusammengefügt hat, um ihn der Weltöffentlichkeit zu zeigen. Angefangen vom Balztanz der Eltern, der Eiablag, über lange Einstellungen vom Schlüpfen eines Kükens, das über mehrere Tage hinweg die Schale aufbricht, in der es aufgewachsen ist - dabei aufmerksam beäugt von seinen Eltern, die es immer wieder anstubsen und anregen, den Kraftakt nicht zu scheuen und die bis dahin schützende Hülle vollends zu verlassen. Und, nachdem der Nestling flügge und etwas größer geworden ist, kommt irgendwann sein Warten und das seiner Artgenossen auf den Wind, der ihn erstmals in die Lüfte tragen soll. Wie gefährlich dieser entscheidende Moment im Leben der Albatrosse ist, zeigt der Film ebenfalls sehr ausführlich. Die Leute gehen immer mit einer sehr dankbaren Haltung aus den Vorstellungen, berichtete Luca, der Jordan in Berlin kennengelernt und sich mit ihm angefreundet hat. Vielleicht habe das etwas mit der Entschleunigung zu tun, die der Film vermittle.


Ein Küken breitet seine Flügel aus - Foto: Forest and Kim Starr (USGS), CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] Nahezu komplett verwester Kadaver eines Laysan-Albatrosses, im Bauchbereich Unmengen von Plastikmüll - Foto: Forest and Kim Starr (USGS), CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

Links: Flügge werden ist schwer ... Rechts: Plastikmülltod Foto: Forest and Kim Starr (USGS), CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

Allein wegen der beeindruckenden Tieraufnahmen ist "Albatross" attraktiv. Jordan macht jedoch außerdem deutlich, welch tödliche Konsequenzen die vielen Plastikteile auf den Ozeanen haben. Allerdings kann man den Eindruck gewinnen, daß der Filmemacher vom Elend der Tiere geradezu fasziniert ist, da er wiederholt ähnliche Szenen zeigt, nämlich wie er Kadaver aufschneidet und den Plastikinhalt des Magens offenlegt. Sicherlich sollte man sich nicht scheuen, die tödlichen Folgen der menschlichen Zivilisation für die Albatrosse zu zeigen. Das kann nicht drastisch genug sein. Vielleicht war es dem nachvollziehbaren Verlangen Jordans geschuldet, den Menschen vor Augen zu führen, was sie mit ihrem Plastikmüll an Leid produzieren, aber mit solchen Wiederholungen meint es der Film zu gut. So auch, wenn die Gefühlsaufwallungen Jordans gezeigt werden, während dieser über einem verreckten Jungvogel mit aufgeschnittenem Bauch voller Plastikmüll die Hände vor das Gesicht schlägt, sich auf den Knien zu dem Kadaver beugt und anscheinend zu weinen beginnt. "Albatross" ist eben nicht nur ein Naturfilm, sondern ein Klagelied ... und eine Selbstfindung. Jordan schreibt auf der Film-Website dazu:

"Meine Zeit mit diesen großartigen Wesen war ebenso eine innere Erfahrung wie eine äußere, durchdrungen von oft überwältigenden Niveaus von Schönheit, Lyrik, Geheimnis, Ehrfurcht, Trauer und Freude. Und sowohl die Vögel als auch die Insel schwangen mit den reichhaltigen poetischen Schichten von Symbolismus, Archetyp, Metapher und Geist mit. Midway fühlte sich für mich wie eine Art Akupunkturpunkt auf der Erdkugel an, der eine transformative heilende Energie ausstrahlt, die, wenn sie in ihrer ganzen Tiefe und Breite geehrt würde, weit hinaus in das Feld des menschlichen kollektiven Bewußtseins reichen könnte. Ich fühlte, daß es unerläßlich war, all diese Elemente als ganzheitlichen Ansatz in die dokumentarische Kunstform zu integrieren."

Die ins Esoterische übergehenden Kommentare des Filmsprechers, die das Sterben zu harmonisieren versuchen, indem sie es als Ordnung der Natur beschreiben, nehmen bedauerlicherweise das, was der Film an Zivilisationskritik leisten könnte, wieder weg. Die notwendige Rebellion, um sich mit den vorherrschenden, schier überwältigenden Verhältnissen wenigstens an dieser einen Stelle zu konfrontieren, wird auf diese Weise eher kanalisiert und in den von Wiederholungen genährten Kreisschluß von Betrachtungsweisen gelenkt, in denen Werden und Vergehen als gleichgestellt beschrieben sind. Um mit Chris Jordan zu sprechen: "Die Poesie des Albatros offenbarte sich Schicht für Schicht, als mein Team und ich mit intimen Aufnahmen aus jeder Phase ihrer Zyklen von Leben, Tod und Geburt beschenkt wurden."

In diesem Sinne positioniert sich "Albatross" als bewußt nicht-rebellisch. Das ändert jedoch nichts daran, daß er überaus sehenswert ist und ein breites, interessiertes und kritisches Publikum verdient hat. Wenn es anschließend auch noch zornig ist, hat der Film eine Menge erreicht.


Zwei Albatrosse beim Schnäbeln - Foto: Forest and Kim Starr (USGS), CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]

Albatrosspaare gehen sehr behutsam miteinander um und "tanzen" teils synchron bei der Balz
Foto: Forest and Kim Starr (USGS), CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/]


Fußnoten:


[1] http://www.chrisjordan.com/gallery/midway/#about

[2] https://www.albatrossthefilm.com/ourstory


12. Juli 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang