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BERICHT/124: Gemessen essen - neue Märkte, alte Professionen ... (SB)


DGE-Journalisten Seminar am 1. Februar 2017 im Universitätsclub Bonn

Besseres Essen für alle: Welchen Beitrag leisten die DGE-Qualitätsstandards? - Ergebnisse des 13. DGE-Ernährungsberichts


Warum wird hierzulande nur jeder in erhöhte Aufmerksamkeit versetzt, wenn Stichworte wie Essen oder Ernährung fallen? Sicherlich nicht, weil es für mindestens 795 Millionen Menschen auf der Welt ein existentielles, manchmal sogar tödliches Problem darstellt. Sogar in unserer Wohlstandsgesellschaft ist die unzureichende Verfügbarkeit von Kalorien bzw. Hunger für immer mehr Menschen kein Fremdwort mehr. "Besseres Essen" sucht auch die anwachsende Schar der "Tafel-Gäste" wohl nicht, aber "Essen für alle" schon, wenn sie bereits in aller Frühe regelmäßig an den kostenlosen Essensverteilstellen ansteht, um etwas in den Bauch zu bekommen. Dabei spielen die Qualitätsstandards der DGE, gesundheitsversprechende oder -schädliche Inhaltsstoffe, eine ressourcenschonende Herstellung oder die Frage, ob der Wurstzipfel von einem Schwein stammt, das kein glückliches Leben hatte, oder die Banane in Plantagen gepflückt wurde, in denen Arbeitskräfte ausgebeutet werden, sicherlich kaum eine Rolle. [1]

Scheinbar unabhängig davon ist gesunde Ernährung und die Qualität von Lebensmitteln ein ungemein populäres Thema, das hierzulande die Klicks, Einschaltquoten, Umsatzzahlen und Auflagen in die Höhe treibt, sobald in Online-Medien, in Funk- und Fernsehen sowie in zahllosen Ratgebern, Diätbüchern und anderen Publikationen über Ernährung philosophiert, gebloggt, geschrieben und diskutiert wird. Neben Skandalen wie Gammelfleisch, Dioxineiern, Acrylamid in Bratkartoffeln, versteckten Fetten oder teuflischen Zuckern werden alle Stoffe in und um die Nahrung akribisch verfolgt, die ein gesundheitstoxisches oder -förderndes Potential besitzen und durch entsprechende Aussteuerung der Zufuhr die Chance begünstigen könnten, ein hohes Lebensalter zu erreichen.

Daß Krankheit ein normales Phänomen des Lebens ist, wie Prof. Boeing in seinem Vortrag betonte, und mit dem Tod endet, ist ein Axiom, auf dem die vorherrschende Einstellung beruht, man könne dies durch Lebensstil und Ernährung beeinflussen. Auf diese Weise erhält auch eine "gesunde" Ernährung und Lebensweise in einer Leistungsgesellschaft, in der die wichtigste Ressource mit der man handelt, aus der eigenen Lebenskraft und -zeit besteht, existentielle Bedeutung. Und wer dies in Frage stellt, kann - gesellschaftlich akzeptiert - für seine Erkrankungen zur Rechenschaft gezogen zu werden.


Schaubild über die wichtigsten Voraussetzungen der Prävention - Foto: © 2017 by Schattenblick

Krankheit ist ein normales Phänomen ...
In seinem Vortrag über ernährungsgesteuerte Prävention legte Prof. Boeing zunächst die Voraussetzungen fest.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wer bei dem vielfältigen Angebot an Gesundkost-Diätversprechen und Fastenkuren einfach nicht mehr durchblickt, mit denen die toxischen Kontaminationen aus Umwelt oder falscher Ernährung bereinigt (Detox) werden sollen, wer sich fragt, ob er sein Übergewicht am besten mittels Low-Fat, Low-Carb, Atkins- oder Nulldiät, Langstrecken- oder Intervallfasten, Dinner- oder Breakfast-Cancelling, Kombucha- oder Brennesseltee gestützter, vegetarischer, veganer oder flexitarischer Kost oder mit der CRON-Methode [2] in den Griff bekommt oder ob er sich unbesorgt der diätmüden "Iß-was-Dir-schmeckt-und-Dein-Körper-Dir-rät"-Strategie anschließen soll und wer sich schließlich nur bestätigen lassen will, daß seine eigenen gesunden Ernährungskriterien völlig ausreichen und eigentlich alles in Ordnung ist, informiert sich möglichst bei Profis, zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Diese gibt seit 1969 alle 4 Jahre im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) regelmäßige Ernährungsberichte heraus, die zum einen die Ernährungssituation in Deutschland dokumentieren, daraus aber auch Handlungsempfehlungen für die Ernährungs- und Gesundheitspolitik ableiten, und darüber hinaus den Verbrauchern eine Orientierung liefern sollen. [3] Seit beinahe 50 Jahren also hat die DGE die nicht ganz leichte Aufgabe übernommen, ihre bis dato unveränderten Richtlinien mit neuen Modeerscheinungen ins Verhältnis zu setzen, zu hinterfragen, sie paßgerecht zu machen, um dann wieder darauf zurückzukommen und sie dem Verbraucher im wahrsten Sinne des Wortes schmackhaft zu machen.


Geschäftsführer Dr. Helmut Oberritter kündigt den Chefredakteur des 13. DGE-Ernährungsberichts Prof. Dr. Peter Stehle an. - Foto: © 2017 by Schattenblick

Seit 1969 dokumentieren die DGE-Ernährungsberichte auf der Basis fundierter Beschreibungen und Bewertungen die Ernährungssituation in Deutschland.
Foto: © 2017 by Schattenblick

In diesem Jahr scheint man sich gleich auf die Absicherung der Richtlinien zu konzentrieren, so daß es bei genauerem Hinsehen und nach Abzug und Relativierung aller Unsicherheiten bei dem bewährten, sich keinesfalls festlegenden Rat zu bleiben scheint, der aber mit Sicherheit nicht anzufechten ist: "Wer von allem etwas ißt, ernährt sich vielfältig-ausgewogen-vollwertig-gesund, und wer sich 80 Jahre lang gesund ernährt, erreicht ein hohes Alter."

Was die Gesellschaft, gestützt durch ihre ernährungsfachkundigen Mitglieder, von einer Gesundheitsprävention durch die oben erwähnten Diäten und Ernährungstrends hält, wurde am 1. Februar am Rande eines Journalistenseminars zur Einführung des 13. DGE-Ernährungsberichts doch sehr deutlich und läßt sich in sechs Buchstaben zusammenfassen: Nichts.

Prof. Dr. Helmut Heseker [*], Ernährungswissenschaftler von der Universität Paderborn und bis vor kurzem Präsident der DGE, sieht in dem großen Angebot von ernährungsspezifischen Heilsversprechen vor allem durch die oft widersprüchliche Berichterstattung der Medien zu diesen Themen sogar eine Gefahr, der er einige Zeilen in der Einleitung zum ersten Kapitel des 13. DGE-Ernährungsberichts widmete: Konsumenten könnten dadurch verunsichert werden und dann auch wissenschaftlich gut begründete Ernährungsempfehlungen seriöser Institutionen anzweifeln. 'Die mögliche Folge: Es findet keine Reflexion des eigenen Essverhaltens statt, wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse bleiben ungenutzt und wichtige Schlussfolgerungen für die eigene Gesundheit werden eventuell nicht gezogen.' [3]

Der Zorn des DGE-Experten ist durchaus verständlich, da sich einige der hype-saisonalen Gesundheitskuren in Medien und Privathaushalten auf fundierte Forschungsansätze stützen, bei genauerem Hinsehen aber nur bestimmte Aspekte aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen abgreifen, die sich gut vermarkten lassen, um damit nach Lesart der DGE vor allem Interessen der Industrie zu fördern.

So stellen DGE-Ernährungswissenschaftler (Ökotrophologen) den medizinisch-pharmakologischen Ansatz, nur isolierte Nährstoffe und ihre biochemische Reaktionen auf den Körper wie bei Arzneiwirkstoffen zu betrachten, um damit die Krankheitsprävention von Lebensmitteln über die Nährstoffebene zu erklären, heute wieder in Frage. Denn die unter definierten Reagenzglasbedingungen funktionierenden Untersuchungen wären mit dem Stoffwechsel eines Menschen unter alltäglicher Belastung doch wenig zu vergleichen. Tierversuche lassen sich selten eins zu eins übertragen. Zudem wurden grundlegende Vergleichsstudien ausgespart und ernährungswissenschaftliches Basiswissen nicht herangezogen. [4]


Foto: © 2017 by Schattenblick

Mit einer Ernährung nach den Empfehlungen der DGE wäre die Bevölkerung mit allen Nährstoffen ausreichend versorgt.
Prof. Dr. Peter Stehle , Chefredakteur des 13. DGE-Ernährungsberichts
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Die interessante Wirkung von isolierten Nährstoffkonzentraten (z.B. Betacarotinoide) auf Zellkulturen führte auf diese Weise dann beispielsweise zu verallgemeinernden Hypothesen wie "Beta-Carotin stoppt Lungenkrebs", "Radikalenfänger stoppt Zellalterung", aber auch "Proteine helfen beim Abnehmen", "Kohlehydrate machen dick, Fett aber nicht", die man noch aus eingängigen Schlagzeilen kennt. Sie förderten den Umsatz mit Nahrungsergänzungsmitteln, indem sie mit den Ängsten oder den Hoffnungen der Betroffenen spielen. Inzwischen wurde die positive Wirkung des Beta-Carotin längst durch Hinweise des Bundesinstituts für Risikobewertung gedämpft, seine anticarcinogene Wirkung sei weit überschätzt. [5] Der Boom mit Carotin-angereicherten "Superfoods" ist zwar auch bei diätetischen Modetrends Schnee von gestern. Dafür rücken immer wieder neue nach, die sich auf neue Stoffe und Studienerkenntnisse stützen.

So brachte Prof. Heseker in seinem Vortrag zu "Aktuellen Entwicklungen im Lebensmittelverzehr in Deutschland: 'frei von'-Lebensmittel und vegetarische Ernährung" den nahrungsvergewaltigenden Unsinn zur Sprache, gewissermaßen "abgereicherte" Lebensmittel für besonders gesund zu erklären. "Frei-von" Gluten, Fruktose oder Laktose sei zu einem neuen Life-style geworden. Vielleicht glaubten die Verbraucher, weil diese diättherapeutischen Speziallebensmittel, in denen die bestimmte Erkrankungen und Intoleranzen hervorrufenden Stoffe mit chemischen oder physikalischen Verfahren herausgenommen werden müssen und daher teuerer sind als normale Lebensmittel oder weil diese als diätetische Produkte im Reformhausbereich zu finden sind, tatsächlich auch gesünder, besser und nährstoffreicher seien als gewöhnliche Produkte oder gar beim Abnehmen helfen könnten. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ohne medizinische Indikation und Begleitung könnte der ausschließliche Verzehr dieser Produkte zu Nährstoffdefiziten führen und Mangelerscheinungen nach sich ziehen. Kohlehydratreduzierte Lebensmittel enthalten ersatzweise meist sehr viel eiweiß- und fettreiche Zutaten, die eine höhere Energiebilanz ausmachen - sie sind dementsprechend also echte Dickmacher. Vegane Ernährung ruft auf Dauer einen Mangel an Vitamin B12 hervor. Die DGE rät davon ab. Wenig wurde zur Art der Produktion solcher Lebensmittel gesagt, denn um etwas "abzureichern", muß auch etwas herausgelöst werden. Auf Nachfrage schlossen die Experten der DGE ein Zurückbleiben von Fremdstoffen durch solche Methoden nicht aus, was aber - da die Lebensmittel zugelassen seien - in einem gesundheitsverträglichen Maß und somit sicherlich vertretbar wäre.

Vielleicht auch, um von dem Mythos gesunder Einzelnährstoffe zurück zur ganzheitlichen Ernährung zu kommen oder von der Nährstoffebene auf die berechtigte Empfehlung, zu gleichbleibenden Anteilen aus allen Lebensmittelgruppen zurückzukehren, beschäftigte sich in dieser Ausgabe des Ernährungsberichts das 5. Kapitel, in dem traditionell ernährungswissenschaftliche Studien oder Themen zur Prävention von Krankheiten behandelt werden, dieses Mal mit einer rein statistischen Bewertung von Lebensmittelgruppen. Analog der evidenzbasierten Vorgehensweise der DGE-Leitlinien zur Prävention ernährungsmitbedingter Krankheiten werden darin auf Basis von Meta-Analysen von einzelnen Lebensmittelgruppen des DGE-Ernährungskreises einschließlich bisher nur wenig untersuchter Lebensmittel wie Hülsenfrüchte, Nüsse/Mandeln und (dunkle) Schokolade auf ihr präventives Potential zur Senkung von Sterblichkeit und Krebskrankheiten, kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes mellitus Typ 2 untersucht. Auf diese Weise konnte eine wissenschaftlich anerkannte Grundlage vorgelegt werden, mit der - so das Ergebnis - zu weiten Teilen die bisherigen lebensmittelbezogenen Empfehlungen der DGE tatsächlich als "gesund" bestätigt werden können.

Nun läßt sich der Wert statistischer Methoden im allgemeinen wie gerade die wissenschaftliche Aussagekraft von Metaanalysen im besonderen durchaus bezweifeln. Während in letzteren zwar - wie Prof. Boeing meinte - keine wertvollen Daten verloren gehen können, weil die Daten quasi als Gesamtdatenpaket weiterverarbeitet werden (wobei allerdings ebenso Fehler und Auslassungen unhinterfragt weitertransportiert werden), ist die Statistik an sich eine Methode, mit der sich - je nach Fragestellung und Betrachtungsweise - im Grunde alles bestätigen oder nachweisen läßt, was man bestätigen oder nachweisen möchte. Doch wer sollte Interesse daran haben, die Ergebnisse einer Studie zu bekriteln oder ad adsurdum zu führen, die genau das bestätigt, was man immer schon wußte und zudem ein Topping aus leckeren, gesunden Schokoladenstreuseln beschert? Denn Süßigkeiten - wenn auch in homöopathischen Dosen von nur 10 Gramm pro Tag (etwa ein Riegel) - wurden bislang noch nie von der DGE als "gesundheitsfördernd" empfohlen und das auch noch wissenschaftlich verbrieft.


Prof. Dr. Heiner Boeing im Vortrag über 'Prävention durch Ernährung' - Foto: © 2017 by Schattenblick

'Man kann in der Gegenwart nur über die Exposition entscheiden. Krankheiten sind individuell 0/1-Ereignisse.' (Prof. Dr. Heiner Boeing)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Im Unterschied zu den zumeist spektakulären Erfolgsversprechen, die mit bestimmten Modediäten oder Gesundheitstrends verbunden werden, aber nach kurzer Aufregung meistens enttäuschende Ergebnisse bringen, sind die Veränderungen im Ernährungsverhalten, die sich die DGE von der Bevölkerung wünscht, so gering, daß sich Effekte - wenn diesen überhaupt Folge geleistet wird - ohnehin erst nach Jahren zeigen würden. Auch in der 13. Ausgabe des Ernährungsberichts wird zwar Positives wie Negatives angemerkt, das wenig aufregende Fazit sagt zusammengefaßt, daß die DGE auch in den nächsten Jahren bei seinen Empfehlungen bleiben wird, die auf einer vollwertigen, ausgewogenen und den Energiebedarf deckenden Ernährung beruhen, womit dann auch die ausreichende Zufuhr an täglichen Nährstoffen garantiert sei. Der Lebensmittelverbrauch der deutschen Bevölkerung - so zeigte Dr. Kurt Gedrich in seinen Trendanalysen aus den Daten der Agrarstatistik - weist bereits in die richtige Richtung. Es dürfte allerdings noch mehr Gemüse, vor allem aber auch Obst und Fisch verzehrt werden. Gedrich hielt vor allem den Einbruch bei den Zitrusfrüchten für bedauernswert. Dagegen wird eine Renaissance im Konsum von Eiern als erfreulich gewertet, ohne weiteren Kommentar, ob auch die Qualität dieses lange Zeit bundesweit verschmähten Produkts sich wieder gebessert hat. Waren doch Eier wegen verschiedener Schadstoffakkumulationen, z.B. Dioxin, und wegen ihres hohen Cholesteringehalts in Verruf geraten.

Dr. Gedrich machte allerdings bereits in der Einleitung seiner Ausführungen darauf aufmerksam, daß die für seine Berichte verwendeten Daten der Agrarstatistik vor allem an der Produktion von Agrarprodukten orientiert und daher für die tatsächliche Höhe des Lebensmittelverbrauchs nur von begrenztem Wert seien. So verfälschen Angaben zur Hartweizen-, Mais- und Getreideproduktion, die nicht für den menschlichen Verzehr, sondern für die Weiterproduktion zu Biotreibstoffen verwendet werden, den aufsteigenden Verlauf der Statistik. Für den Laien war aber auch der bei den anderen Lebensmittelgruppen behauptete Aufwärtstrend selbst mit viel Phantasie wenig offensichtlich, da die "Kurven" im 13. DGE-Ernährungsbericht im Grunde einer leicht schwankenden Parallele zur x-Achse gleich kommen, was eine praktisch gleichbleibende Produktion bedeuten würde. Die positive Deutung wird im Grunde durch frühere Statistiken des Statistischen Bundesamts in Frage gestellt, nach denen die Agrarproduktion für den bundesdeutschen Nahrungsmittelmarkt immer mehr ins Ausland verschoben wird. Nach den Berechnungen der Statistiker liegen bereits mehr als zwei Drittel der für den Inlandsverbrauch von Ernährungsgütern notwendigen Agrarflächen im Ausland. Dagegen ist die im Inland landwirtschaftlich genutzte Fläche für Ernährungszwecke in zehn Jahren um fünf Prozent auf 14,7 Millionen Hektar zurückgegangen. Dennoch hat der Export deutscher Agrarprodukte zugenommen. [6] Der 13. Ernährungsbericht, der eine stabile Lage suggeriert, trägt auf diese Weise im nebenherein zur Verschleierung möglicher kritischer Entwicklungen in der Versorgungssituation bei.


Am Rednerpult - Foto: © 2017 by Schattenblick

DGE-Standards setzen sich zunehmend auch in KITAs bei der Kinderernährung durch.
Die Präsidentin der DGE, Prof. Ulrike Arens-Azevêdo, stellt die Ergebnisse der Studie vor.
Foto: © 2017 by Schattenblick

Allen positiven Trends, guten Wegen zur Gesundheit und besten Bewertungen zum Trotz muß der Bericht jedoch einräumen, daß Übergewicht in Deutschland ebenfalls im Aufwärtstrend liegt. Wir werden immer dicker und der Erfolg im Abnehmen ist gering, vor allem wenn eine bestimmte Grenze überschritten und ein bestimmtes Alter erreicht wurde. Da sich auch Krankenkassen vor allem auf die Lebensmittelempfehlungen und Beratungsstandards der DGE stützen, ist sie an diesem Punkt bereits häufiger in das Kreuzfeuer ihrer Kritiker geraten. So wurde ihr beispielsweise schon vor Jahren vorgeworfen, trotz anderslautender Studienergebnisse etablierter Institute an ihrer 2. Ernährungsregel strikt festzuhalten, die eine hohe Zufuhr von Kohlehydraten durch Lebensmittel aus möglichst fettarmen Zutaten empfiehlt. Daran hat sich auch nach dem 13. Ernährungsbericht nichts geändert. Prof. Dr. Heseker spezifizierte dies in seinem Vortrag über die Zunahme von Adipositas in Deutschland sogar mit der Salzkartoffel, die er empfahl, weil sie wenig Fett und Kalorien enthalte und deren Bedeutung für die gesunde und gewichtsreduzierende Ernährung bei weitem unterschätzt sei, da die Knollen reich an Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen und an sekundären Pflanzeninhaltsstoffen sind. Auf der Webseite der DGE wird darüber hinaus zu Brot, Getreideflocken, Nudeln und Reis geraten, die zudem möglichst Vollkornprodukte sein sollten. Handelsübliche "Convenience-Produkte", wie fertig gemischte Vollkorn-Müsli, aber auch Kartoffelbrei oder -knödel werden dem DGE-Anspruch durchaus gerecht, enthalten aber meistens noch einen Anteil an Zucker, vor dem aber in diesem Zusammenhang nicht gewarnt wird.

Damit ignoriere die DGE ihren Kritikern zufolge einen großen Teil der Bevölkerung, bei dem bereits Stoffwechselstörungen oder erste Ansätze für das metabolische Syndrom vorliegen (auch als Insulinresistenz- oder Wohlstandssyndrom bezeichnet, mit Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Krankheiten, erhöhtes Körpergewicht, gestörter Fettstoffwechsel). Man spricht von Insulinresistenz, wenn das blutzuckersenkende Hormon Insulin weniger als erwartet wirkt, weil Muskel-, Leber und Fettgewebe eine verminderte Empfindlichkeit dagegen entwickelt haben. Gerade eine kohlehydratreiche Ernährung gilt in solchen Fällen, ganz gleich, ob es sich um eine genetisch bedingte oder durch falsche Ernährung anerzogene Resistenz handelt, als kontraproduktiv, da die Bauchspeicheldrüse durch den so erzwungenen Kohlehydratstoffwechsel mehr Insulin produzieren muß und möglicherweise - so die These der Diabetologen - früher als normal den Dienst versagt. Darüber hinaus steigert die unkontrollierte, konfuse Insulinausschüttung Heißhungeranfälle und erschwert somit jede Diät zur Gewichtsreduktion.

Tatsächlich ist heute schon bei etwa einem Drittel der deutschen Bevölkerung eine solch Insulinresistenz nachweisbar [7] Die Folgen sind die chronische Schädigung verschiedener Organsysteme wie Blutgefäße, Nerven und Nieren durch den erhöhten Blutzuckerspiegel, noch bevor überhaupt ein Diabetes diagnostiziert wird. Diese Stoffwechselsituation erhöht jedoch nicht nur das Risiko für Diabetes mellitus Typ 2, sondern auch wieder für die gesamte Symptomatik des Metabolischen Syndroms, also Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen, Fettstoffwechselstörungen und Übergewicht. Veraltet sei nach Lesart ihrer Kritiker auch die von der DGE empfohlene Beschränkung des Eiweißanteils der Nahrung auf 10 bis 15 Prozent bzw. 300 bis 600 g Fleisch und Wurst pro Woche. Ernährungsmediziner würden den Bedarf ganz anders einschätzen. Gerade ältere Menschen sollen danach einen höheren Proteinbedarf aufweisen, da ab dem 45. Lebensjahr unabhängig von der Proteinzufuhr Muskelmasse verloren geht. Wird der Verlust durch Mängel in der Ernährung, Bettlägerigkeit oder kortisonhaltige Medikamente erhöht, kann auch das zu einer Stoffwechsellage führen, die außer Leberverfettung den Blutzuckerspiegel erhöht, mitsamt den oben beschriebenen Risiken des metabolischen Syndroms. Bei genauerer Betrachtung sind die scheinbar kontroversen Lager nicht so verschieden, denn auch der DGE räumt Varianten und spezifische Veränderungen in Einzelfällen und vor allem Zugeständnisse mit fortschreitendem Alter ein.

Die Beschuldigung, Menschen in Deutschland würden sich zu kalorienreich, zu energiereich und zu fett ernähren und damit ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, geht sowohl von den Kritikern der DGE-Empfehlungen wie von der DGE aus, und gleichermaßen an den Menschen vorbei, die gar nicht die Mittel haben, den kohlehydratreduzierten Diätvorschlägen alternativer Konzepte (mehr mageres Fleisch, viel Gemüse) oder den Ernährungsempfehlungen der DGE zu folgen. Gesundheitsförderndes Gemüse und auch Vollkornprodukte sind erntebedingt selten preiswert und schon gar nicht zu jeder Jahreszeit in gleicher Qualität zu bekommen.

Die Menschen mit offensichtlichen Gewichtsproblemen befinden sich überwiegend in einer beruflichen Situation, in der sie nicht unbedingt über die Mittel verfügen, für ihre gesunde Ernährung auch einen höheren Preis bezahlen zu können. Doch sind die zumeist schlanken, sich nach DGE-Richtlinien und eigenen Konzepten ernährungsbewußt, kalorienbewußt, energiearm und vollwertig ernährenden wohlhabenderen und vielleicht auch "besser informierten" Vertreter der Industriegesellschaft auch tatsächlich gesünder? [8]

Selten wird hinterfragt, inwieweit die Lebenserwartung, die proportional mit jedem Jahr um vier Lebensmonate ansteigt, [9] und das Ausbleiben von Krankheiten tatsächlich etwas mit der Ernährung oder mit den damit zugeführten essentiellen Nährstoffen oder besonderen, krankheitsverhindernden Inhaltsstoffen zu tun hat. An der nicht ganz bierernsten, eingangs erwähnten These: "Wer sich über 80 Jahre lang gesund ernährt, wird alt werden!" läßt sich nur dann nicht rütteln, wenn man den Umkehrschluß "Wer alt wird, hat sich sicherlich gesund ernährt" zur Grundlage nimmt. Würde man allerdings die Lebensmittel, die ein heute 80-Jähriger im Laufe seines Lebens zu sich genommen hat, auf einen Tisch packen und analysieren oder seine Ernährungsgewohnheiten durch die Jahre beobachten und dokumentieren, dann ließe das sicher recht komplexe Ergebnis vermutlich Zweifel zu, irgendetwas mit "gesunder" Ernährung zum Beispiel nach den Richtlinien der DGE zu tun zu haben. Auch bliebe die Frage offen, ob eine in diesem Sinne noch "bessere" Ernährung möglicherweise die einschränkenden Abhängigkeiten von Tabletten, Rolator, Hörgerät, Gebiß, Gleitsichtbrille oder sonstigen Unannehmlichkeiten des Alters an irgendeinem Punkt hätte verhindern können. Manch Hochbetagter hatte auf die Frage, worauf er sein langes Leben zurückführe, nur die trotzige Antwort: "Kein Gemüse", wieder andere sagten bekanntlich auch: "No sports". [10]

Licht ins Dunkel der Ernährungswissenschaft zu bringen sei schwer, darüber waren sich die Vertreter der Ernährungswissenschaften der DGE zumindest in ungezwungener Runde einig. Das Thema sei zu komplex, jeder habe etwas dazu zu sagen, aber keiner wisse wirklich Bescheid. Und nach jahrelanger Forschung komme schließlich doch nur das heraus, was man schon immer geahnt und gewußt hat. Genau das Dilemma bestätigt auch der 13. DGE-Ernährungsbericht.


Anmerkungen:

[1] http://www.tafel.de/aktuelles/aktuelle-projekte/kinder-jugendliche.html
und
http://www.spiegel.de/thema/kinderarmut_in_deutschland/

[2] Bei der CRON (Calorie Restriction with Optimal Nutrition)-Methode wird die Kalorienzufuhr auf das Minimum drastisch heruntergefahren, um die Lebenserwartung zu erhöhen.

[3] https://www.dge.de/wissenschaft/ernaehrungsberichte/13-dge-ernaehrungsbericht

[4] INTERVIEW/254: Gemessen essen - Wissenschaft vor Urteil ... Prof. Dr. Peter Stehle im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0254.html

[5] http://www.bfr.bund.de/cm/343/beta_carotin_in_nahrungsergaenzung

[6] https://www.welt.de/wirtschaft/article119159181/Deutschland-ist-abhaengig-von-Agrarfeldern-im-Ausland.html

[7] http://www.diabetes-deutschland.de/archiv/896.htm#-_Ursachen_der_Insulinresistenz

[8] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/172237/umfrage/gesunde-ernaehrung-wichtigkeit-trotz-hoeherer-kosten/

Laut einer Umfrage von statista [2] legen nur 12 Millionen von 69 Millionen Befragten keinen Wert auf gesunde Ernährung. Doch alle schienen sich darunter etwas vorstellen zu können. Fragt sich nur, was.

[9] http://www.lebenserwartung.info/index-Dateien/ledeu.htm

[10] Kein Gemüse
http://www.ndr.de/info/sendungen/auf_ein_wort/Der-Hundertjaehrige-der-aus-dem-Flugzeug-sprang/erfahrung106.html

[*] Bisher im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT zur Präsentation des 13. Ernährungsberichts erschienen:
INTERVIEW/253: Gemessen essen - es gibt kein gesundes Leben im Fett ... Prof. Dr. Helmut Heseker im Gespräch (SB)
INTERVIEW/254: Gemessen essen - Wissenschaft vor Urteil ... Prof. Dr. Peter Stehle im Gespräch (SB)


27. Februar 2017


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