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BERICHT/059: Fukushima - Vergebliche Mühe (SB)


Vortrag und Bilddokumentation: "Fukushima 360 Grad"
von Alexander Neureuter am 7. November 2013 in Heide

Ein- und Ausblick des Lebens der Menschen in Fukushima mit der vierfachen Kernschmelze im Atomkraftwerk


Eine stilisierte Karte der Präfektur Fukushima mit japanischen Schriftzeichen und der Aufschrift: Fight Fukushima! - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Kampf für die eigene Region
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Bevor wir auf den aktuell hochbrisanten Vortrag von Alexander Neureuter kommen, ein kurzer Rückblick in die Stunde Null der nuklearen Berichterstattung: Als am 13. Dezember 1948 der nach dem Untertitel erste offiziell zur Veröffentlichung in Europa freigegebene Tatsachenbericht über das geheime US-amerikanische, nukleare Forschungszentrum Oak Ridge im Hamburger Abendblatt erscheint, hat der Kalte Krieg und damit die atomare Aufrüstung bereits begonnen. Dennoch wird in dem sechs Spalten umfassenden Leitartikel von Heinz Liepmann nur ein im Grunde ehrfürchtiges Erschauern vor dem gewaltigen Vernichtungspotential spürbar, er endet mit den schicksalsergebenen Worten:

Und so stampfen die Maschinen von Oak Ridge heute Tag und Nacht, ohne Pause und ohne Gefühl. Unendlicher Segen für die Menschheit - oder ein unwiderrufliches grauenvolles Ende - die Entscheidung ist in den Händen der Menschen. [1]

Bereits 1948, als die atomare Zerstörungsgewalt vor den noch deutlichen Spuren der Verwüstung aufweisenden Kriegsschauplätzen auch hierzulande noch eine vorstellbare und beängstigende Realität für die Menschen besitzt, hält man die Atomkraft für technologisch beherrschbar. Dabei gibt es bereits zu diesem Zeitpunkt deutliche Hinweise auf Risiken und Ahnungen über Nebenwirkungen in einem unvorstellbaren Ausmaß, deren Erforschung schon eine Verwendung voraussetzt, deren unumkehrbare Konsequenzen nicht absehbar sind.

Schon kurz nach den am 6. und 9. August 1945 in Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben werden Nuklearwaffen mit dem 5000fachen an Vernichtungskraft gebaut, während die noch lebenden Opfer von "Little Boy" und "Fat Man" in Oak Ridge zu menschlichen Versuchskaninchen werden. Diesen widmet Liepmann in seinem zensierten Bericht nur ganze 10 Zeilen. Als er im Februar 1946 zusammen mit 23 anderen vom F.B.I. ausgesiebten Journalisten Oak Ridge unter strengster Geheimhaltung besuchen darf, ist das zum Forschungszentrum gehörende 2000-Betten-Krankenhaus noch mit Strahlenopfern aus Hiroshima und Nagasaki überfüllt, an denen man die seltsame, gespenstische Krankheit erforschen kann, die sie befallen hat und die, wie der Journalist die damalige Unkenntnis dieses Phänomens umschreibt,

noch nicht einmal mit dem Tode des Opfers stirbt. Die leiseste Berührung wirkt ansteckend. Krankenschwestern, Ärzte, selbst Leichenbestatter wurden angesteckt. Heute werden alle Opfer der radioaktiven Strahlen - und auch Maschinenteile, Werkzeuge und sogar Lastkraftwagen, die nicht mehr benutzt werden können - zwölf Meter tief in der Erde vergraben.

So schreibt man 1946. Schon damals besteht über das Ausmaß der Gefahr, die mit der Nutzung von Kernenergie zu welchem Zweck auch immer einhergeht, eine stillschweigende Allianz der Verschleierung zwischen den Vertretern vorherrschender Interessen, den Betreibern der Anlagen, die eigene Fehler vertuschen wollen, und einem großen Teil von Menschen, die lieber nichts darüber hören, sehen oder wissen wollen, um so weiterzuleben wie bisher.

Nukleare Unfälle durch Freisetzung von radioaktivem Material gehören seit der Erfindung der Kernkraft gewissermaßen zunehmend und in immer kürzeren Abständen zum Tagesgeschehen. Dennoch haben viele, wenn sie überhaupt davon gehört haben, die Ursachen und genaueren Umstände längst vergessen. Wer erinnert sich heute noch an die Unfälle von Los Alamos 1945/46, Chalk River (Kanada) 1952, Idaho Falls (USA) 1952, Kyschtym (Sowjetunion) 1957, Windscale/Sellafield (Großbritannien) 1957, Los Alamos 1958, Simi Valley (USA) 1959, Oak Ridge National Laboratory 1959, Idaho Falls 1961, Charlestown (USA) 1964, Belojarsk (Sowjetunion) zwischen 1964 und 1979, Melekess, nahe Nischnii Nowgorod (Gorki), (Sowjetunion) 1966, Monroe Michigan (USA) 1966, Lucens (Schweiz) 1969, Rocky Flats (USA) 1969, immer wieder Windscale (Großbritannien) 1973, Leningrad (Sowjetunion) 1974 und 1975, Tschernobyl (Sowjetunion) 1982. Informationen darüber wurden in vielen Fällen von der Öffentlichkeit abgeschirmt, nicht aber das radioaktive Material, das, auf diese Weise verunfallt, seine weltweite Verbreitung antrat.

Offenbar schlagen Kritik und Empörung erst dann spürbare Wellen (wie bei dem auf der siebenstufigen, internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse erstmals als katastrophaler Unfall eingestuften Reaktorunglück im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 in Block 4 nahe der ukrainischen Stadt Prypjat oder 2011 nach der Kernschmelze in vier Reaktorblöcken im Kernkraftwerk Fukushima), wenn mit Radionukliden kontaminierte Milch die eigenen Kinder bedroht oder Pilze im Wald wegen hoher Cäsium-137-Belastung nicht mehr gesammelt werden sollen, französisches Mineralwasser radioaktiv belastet ist, Preiselbeeren aus Osteuropa die Marmelade radioaktiv strahlen lassen oder hochbelastete Fische nicht mehr eßbar sind. Sobald die eigene Gesundheit nicht mehr unmittelbar bedroht scheint, setzt das Vergessen ein, um gelegentlich in widerständige Betroffenheit umzuschlagen, wenn ein Kernkraftwerk vor der Türschwelle entsteht, atomarer Abfall am eigenen Garten vorbeitransportiert oder radioaktiv belastetes Abwasser aus Versehen in die Umwelt entlassen wurde.

Alexander Neureuter im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Engagierte Darstellung
Foto: © 2013 by Schattenblick


Rundumblick 360 Grad in Fukushima

Bei Alexander Neureuter, der mit seinem Vortrag "Fukushima: 360 Grad" durch Deutschland tourt und am 7. November 2013 im Bürgerhaus in Heide/Holstein gastierte, scheint die Schwelle der Verdrängung offensichtlich niedrig zu liegen. Möglicherweise - wie er selbst erklärte - "durch frühkindliche Prägung" (er wuchs in der Nähe des Atommeilers in Stade auf), durch ständige Erinnerung an die Begleiterscheinungen der atomaren Wertschöpfungskette, dem strahlenden Müll in seiner unmittelbaren Umgebung, vielleicht aber auch durch den unverstellten Blick für Probleme, die für andere noch "weit, weit weg sind", geht er mit seiner Kamera an Orte des atomaren Schreckens, um mit Berichten und Bildern dem Vergessen entgegenzuwirken und eine Brücke zu schlagen: Das, was in Japan geschehen ist, könnte auch hier passieren, jederzeit.

Nachdem er 2011 zwei Wochen in der Sperrzone von Tschernobyl unterwegs war [2], besucht er zu einem Zeitpunkt, an dem die Medien die aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze fusionierte Hyperkatastrophe in Fukushima aus der Liste interessanter Nachrichten gestrichen haben, drei Wochen lang die Präfektur Fukushima, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, "wie die Menschen in der Zone um Fukushima das Leben nach dem Atomunfall meistern oder daran scheitern".

Die sprechenden Bilddokumente, die dabei entstanden, sind wohl der wichtigste Teil des Gesamtvortrags, der aber zunächst damit beginnt, die beiden schlimmsten Nuklearkatastrophen der jüngsten Zeit, Tschernobyl und Fukushima, ins Verhältnis zu setzen, und dann die Ursachen und Folgen von Fukushima ins Bild rückt. Er endet mit einem kurzen, videosimulierten Einblick über den brisanten, aktuellen Zustand der Atomruine heute und den bevorstehenden, riskanten Bergungsversuch der Kernbrennstäbe aus Reaktorblock 4.

Besonders wichtig für das Verständnis des japanischen Verhältnisses zur Atomkraft sind dem Referenten jedoch die Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen des Atombombenangriffs und Bilder aus Hiroshima und Nagasaki. Auf diese Weise entsteht ein durch und durch um 360 Grad abgerundetes Bild über das Unvermögen, die Folgen einer solchen Technologie vorauszusehen und diesen angemessen zu begegnen. Der Vortrag endet mit der generellen Frage des Referenten an die Befürworter von Atomenergie: "Ab welchem Punkt werden die Risiken einer Technologie gesellschaftlich untragbar?"

Die Bilder und Fakten des Vortrags selbst stellen allerdings die drastischen Konsequenzen einer Technologieanwendung vor, in deren Vorfeld die Fragen nach Risiken oder Tragbarkeit nie gestellt, bei der aber sämtliche Register auf der Klaviatur der Täuschung gezogen wurden, um die betroffene Bevölkerung selbst noch im Ernstfall in Sicherheit zu wiegen, statt über die reale Situation aufzuklären.

Mit anschaulichen Grafiken zeigt Alexander Neureuter, wie die Katastrophe in den offiziellen Erklärungen systematisch schöngeredet wurde. Zum einen blieb das Ausmaß der Katastrophe in Fukushima - entgegen der offiziellen Behauptung zu Beginn - keineswegs unter der in Tschernobyl verursachten radioaktiven Gefährdung, sie nahm nur einen anderen, aber sehr viel schwerwiegenderen Verlauf. So wurde hier im Vergleich zu Tschernobyl in vier - statt einem - havarierten Reaktoren die zehnfache Menge an Kernbrennstoffen (Uran und Plutonium) ein- und auch zum großen Teil freigesetzt. Zwar wird nur eine kleinere Landfläche als in Tschernobyl durch direkte Freisetzung von radioaktiven Nukliden kontaminiert (880 Quadratkilometer in Fukushima gegenüber 218.000 Quadratkilometern um Tschernobyl), doch ist durch die fortgesetzte Unfähigkeit der Atombetreiber, Kernschmelze und Kühlwasserentsorgung folgenlos zu bewältigen, inzwischen der gesamte Pazifik von einer immer stärkeren radioaktiven Kontamination bedroht, da seit mehr als zwei Jahren jeden Tag gewaltige Mengen von kontaminiertem Wasser ins Meer abfließen. Wer zum anderen immer noch an frühere, offizielle Erklärungen glauben sollte, daß nur das gleichzeitige Zusammentreffen zweier Naturkatastrophen die Sicherheitsvorkehrungen der Atomanlage überfordert hat [3], der kann hier lernen, daß sich die Ursachen zum Reaktorunglück bereits auf das Jahr 1965 zurückführen lassen. Wie Alexander Neureuter zeigt, weiß der Reaktorkonstrukteur bereits seit beinahe 50 Jahren, daß er den Sicherheitsbehälter zu klein dimensioniert hat und dieser im Falle einer Kernschmelze dem Druck nicht standhalten wird. Den zwingend notwendigen Austausch dieser Fehlkonstruktion in allen 32 baugleichen Siedewasserreaktoren weltweit hätte der internationale Konzern finanziell jedoch nicht überlebt, weshalb man das Risiko, das nun Japan zum Verhängnis wurde, sehenden Auges eingegangen war.

Atombombenabwurf mit einer Boeing B-29 Superfortress auf Nagasaki am 9. August 1945. Der Atompilz stieg 18 km hoch. - Foto: public domain

Die Tradition der Verschleierung geht weit zurück
Foto: public domain


Kernreaktion statt Wasserstoffexplosion

Anhand von Aufnahmen der seinerzeit im Fernsehen gezeigten Explosionen konnten Experten laut Neureuter durchaus erkennen, daß die vermeintliche Wasserstoffexplosion in Block drei keine war. Im Bild läßt sich ein nach oben gerichteter Kräftevektor und auch ein deutlicher Zündfunke erkennen, die neben weiteren sichtbaren Fakten wie eine Ausbreitung der Explosion in Überschallgeschwindigkeit den Schluß nahelegen, daß es sich hier um eine "moderierte prompte Kritikalität" handelte. Das bedeutet auf deutsch, daß Kernbrennstoff geschmolzen ist, sich zu einer kritischen Masse vereinigen konnte, um dann für Bruchteile von Sekunden als eine Art Mini-Atombombe zu zünden: Es war also eine Kernreaktion an der Katastrophe beteiligt.

Danach sehen sich die Zuhörer des Vortrags Schlag auf Schlag Enthüllungen von Mißständen oder Fehlern in der Organisation gegenüber, zum Beispiel die nicht unbedeutende Tatsache, daß die japanische Atomaufsichtsbehörde einem Wirtschaftsministerium unterstellt war, das sich mehr für einen raschen Ausbau der atomaren Infrastruktur interessierte, als an seiner Sicherheit. So konnte es kommen, daß die Kontrolle der Atomreaktoren zur lasch gehandhabten Formsache verkam (allein im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi sollen Kühlpumpen, Dieselgeneratoren und Temperaturkontrollventile elf Jahre lang nicht kontrolliert worden sein) und auch Prüfprotokolle und Meßergebnisse nicht immer die realen Verhältnisse widerspiegelten. Gravierende Störfallszenarien wurden negiert. Beispielsweise ging man im schlimmsten Fall von der Möglichkeit eines Erdbebens der Stärke 7,9 und eines Tsunamis der Höhe 5,70 Meter aus, obwohl es in der Geschichte des Landes dokumentierte Vorfälle gab, die diese Höchstgrenzen bereits überschritten hatten.

In einer beeindruckenden Recherche weist Neureuter Nachlässigkeiten und Verfehlungen auf, die jeweils unter den Teppich gekehrt wurden, die aber im Schlußbericht der Unabhängigen Parlamentarischen Untersuchungskommission zur Katastrophe von Fukushima (NAIIC) vom 23. Juli 2012 zu der Aussage geführt haben, man könne die Reaktorkatastrophe nur als "menschengemachtes Unglück" bezeichnen, dessen Folgen überdies durch eine wirksamere, menschliche Reaktion hätten abgemildert werden können.

Die Betreiberfirma Tepco ist danach für das Unglück verantwortlich, muß damit auch für den Schaden vollständig aufkommen und ist somit bankrott. Die japanische Regierung hat die Firma übernommen, so daß laut Neureuter nun in Japan die Situation entstanden sei, daß die Gesamtlast auf den Steuerzahlern liegt, die teilweise auch noch in den betroffenen Regionen leben.


Verraten, verkauft, verstrahlt!

Tatsächlich sind es besonders diese nach außen hin weniger spektakulären Geschichten der atomverstrahlten Menschen und wie sie zwischen Widerstand und Resignation mit Verrat und Vertuschung umgehen, die Neureuters Bilder erzählen, die wohl jedem Besucher dieses Vortrags nachdrücklich ins Gedächtnis eingebrannt bleiben werden. Nachvollziehbar schildern sie die Hilflosigkeit, mit der sich die Bevölkerung einer nuklearen Situation gegenüber ausgesetzt und allein gelassen fühlt, auf die niemand vorbereitet war. Was aber bedeutet es, wenn in unmenschlicher Konsequenz Wirtschaftsinteressen vor alles andere gestellt werden? Und wie läßt sich der Einfluß von Radioaktivität kurzerhand wegbehaupten?

Da gibt es beispielsweise Prof. Shunichi Yamashita, einen Medinprofessor aus Nagasaki, dessen Mutter den Atombombenabwurf überlebt hatte, der, um die besorgten Bürger der Stadt Iwaki in Sicherheit zu wiegen, am 20. März 2011 behauptet, auch eine Luftbestrahlung von 20 Mikrosievert, selbst 100 Mikrosievert pro Stunde könne ihnen nichts anhaben [4]. Einen Tag später rät er den Teilnehmern eines Seminars der Medizinischen Hochschule von Fukushima: "Die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung können Menschen nichts anhaben, die fröhlich sind und viel lachen, aber befallen Menschen, die sich viel Sorgen machen. Das wurde ganz klar in Tierversuchen nachgewiesen." Das gleiche gelte auch für den Genuß von Alkohol. Abgesehen von dem noch ausstehenden Nachweis, woran die Fröhlichkeit von Mäusen oder Hunden zu bemessen wäre, drängt sich hier die Frage doch auf, welcher Mensch in Japan sich bei solcher Art kaltlächelnder Schuldzuweisung noch ernst genommen oder gar gemeint fühlt.

Wenn sich die Flut nicht dämmen läßt, baut man die Brücke höher. Wenn sich eine radioaktive Kontamination nicht bereinigen läßt, muß man die Grenzwerte erhöhen.
(Atomgegnerin Helen Caldicott, 1979, [5])

Wen wundert es da noch, daß zu den Notfallmaßnahmen in Fukushima auch eine Heraufsetzung des Grenzwertes auf das 20fache gehörte. Heute entsprechen die Grenzwerte der noch als verträglich angesehenen radioaktiven Belastung für die Normalbevölkerung (und die Kinder) 20 Millisievert im Jahr. Das ist das gleiche wie hierzulande der Grenzwert für Arbeiter in strahlenexponierten Berufen. Doch auch andere Grenzwerte wie die Orts-Dosisleistung (ein weltweit gleichberechneter Wert) wird in Japan kurzerhand halbiert, weil man davon ausgehen könne, daß sich die Menschen nicht den ganzen Tag im Freien aufhalten und weil halbe Werte weniger gefährlich aussehen.

Auch damalige Versicherungen, Tokio sei zu keinem Zeitpunkt einer Gefahr durch radioaktive Kontamination ausgesetzt gewesen, wird von Alexander Neureuter nachweislich bestritten. Spuren, die aus Autofiltern entnommene Stäube auf Röntgenfilmen hinterlassen, zeigen, daß noch 55 Kilometer weiter vom Reaktor entfernt die Autofilter voller Radionuklide waren, womit klar wird, daß derartige Rückstände aus Autofiltern auch in den Lungen der dort wohnenden Menschen und Lebewesen zu finden sein werden.

Nicht nur deshalb wirbt der Referent mit seinem Vortrag auch persönlich um Unterstützung einer privaten Klinik, in der Menschen vor Ort - anders als in staatlichen Einrichtungen - durch ehrenamtliche Ärzte tatsächlich auch angemessene Hilfe bekommen.


Menschen im Widerstand gegen die Täuschung sind ihres Lebens nicht mehr sicher

Besonders einprägsam sind die Aktionen von einzelnen Menschen, denen Alexander Neureuter begegnete, die trotz alledem gegen die Verschleierung der Situation in Japan kämpfen und dabei möglicherweise sogar ihr Leben riskieren.

Er stellt die "Schwanenfrau" vor, die unermüdlich in einem Park in Fukushima die Schilder aufstellt, die vor der vermeintlichen Dekontamination den Besucher davor warnen sollten, hier zu tief Luft zu holen: Sie empfehlen, sich nicht länger als eine Stunde im Park aufhalten, anschließend die Hände zu waschen und den Mund zu spülen und schließlich an windigen Tagen zu vermeiden, den Staub einzuatmen. Die Schwanenfrau stellt die Schilder wieder auf, weil die Dekontamination in Fukushima eine Farce ist. Die Behörden sammeln sie wieder ein, weil ihnen offensichtlich wichtiger ist, den Schein zu wahren, als sich den Tatsachen zu stellen.

Meßgerät zeigt 0,67 Mikrosievert pro Stunde, das ist zehnmal mehr als eine als normal geltende Grundbelastung. - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Das Strahlenmeßgerät von Alexander Neureuter zeigt im vermeintlich dekontaminierten Park immer noch hohe Strahlenwerte an.
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Über die an Sysiphusarbeit erinnernden Bemühungen, den Boden 15 Zentimeter weit abzutragen, um dann sauberen, radionukleotidfreien Boden darüber auszubreiten, Häuser und Dächer mit Papiertüchern zu wischen und andere, wenig effektive Maßnahmen, mit denen sich die Anwohner selbst in Gefahr bringen, berichtete auch der Schattenblick schon [6]. Etwas ganz anderes aber ist es, das gesamte Ausmaß der Hilflosigkeit in Bildern festgehalten zu sehen: Der Vortrag zeigt Menschen, die ohne ausreichenden Schutz, ohne Strahlenschutzanzüge, mit primitivsten Werkzeugen Dekontaminierungsarbeiten vornehmen, die selbst dann, wenn sie korrekt durchgeführt würden, nur zweifelhaften Erfolg zeigen. Daß ihnen dazu jedoch verantwortungslos auch noch in einem von den japanischen Behörden verbreiteten Do-it-yourself-Dekontaminierungsratgeber geraten wird, hatte wohl auch den Fotojournalisten überrascht, der hier Theorie und Praxis ins Bild rückte: "Bei der Dekontaminationsarbeit sollten Sie eine Mütze, eine Maske aus Papier, Handschuhe, Gummistiefel, ein langärmeliges Hemd und lange Hosen tragen ..."

Nicht nur, daß - wie teilweise schon von anderen Medien berichtet wurde - für den Dekontaminierungsmüll keine Entsorgungsmöglichkeit besteht, und er teilweise illegal an 5000 Stellen in Wäldern wild oder am Straßenrand offiziell in sogenannten Bigbags zwischengelagert wird, oder vor jeder Haustür ein in der Sonne verrottendes atomares Müllsackzwischenlager entsteht, der Do-it-yourself-Ratgeber empfiehlt durchaus das bedenkenlose Verbrennen von Radionuklid belasteten Laub-, Holzabfällen und anderem Müll aus dem eigenen Garten. Der in Müllsäcken gesammelte, kontaminierte Restmüll soll 50 cm tief im Garten vergraben werden, bis die Präfektur den endgültigen Ort zur Entsorgung bestimmt. Damit wird den Privatmenschen nur empfohlen, was die zuständigen Behörden auch im großen praktizieren: Gewöhnliche Müllverbrennungsanlagen werden zur Entsorgung solcher beweglicher Dekontaminationsobjekte wie Dachstroh und ähnlichem vorgesehen. An manchen Orten werden neue Müllverbrennungsanlagen errichtet, um der ganzen Müllberge Herr zu werden. So wird die von einem denkbaren Fallout bisher auf 880 Quadratkilometer beschränkte Zone mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Weise ausgeweitet, die sich jedem Zugriff und jeder Kontrolle entzieht, da mit Feuer auch radioaktive Isotope wieder in die Luft geblasen und von dort aus überall hin getragen werden.

Betroffenheit breitete sich im Zuschauerraum auch beim Bild eines in Plastikplane notdürftig eingeschlagenen Bergs aus abgetragener Gartenerde aus, die, natürlich vor Wind und Witterung nicht geschützt, weiter vor sich hinstrahlend und der letztendlichen Entsorgung harrend, von zwei Hauskätzchen als Spielplatz ausgesucht wurde, nicht nur mit unabsehbaren Folgen für ihre tierliebenden Besitzer. Nur zu gut lassen sich solche unüberschaubaren Situationen nachvollziehen.

Wegen dieser Haustiere bleiben viele Menschen in der Sperrzone, die ihren Besitz nicht aufgeben, ihr Vieh pflegen und versorgen wollen. Auch hier gehen einem die Bilder des persönlichen Widerstands ans Herz.

Keine Strahlenschutzanzüge für die Dekontaminierungsarbeiter in Fukushima - Foto: © 2013 by Alexander Neureuter

Dekontamination nach Vorschrift
Foto: © 2013 by Alexander Neureuter


Mutwillige Verstrahlung

Ein an Verschwörungstheorie erinnernder Thriller sprach vor allem vier Jugendliche aus der Realschule Ost in Heide/Holstein an, die sich unter dem ansonsten wohl eher Ü20-Publikum eingefunden hatten. Was denn eigentlich mit dem Mönch geschehen sei, war ihre erste Frage in der anschließenden Diskussion.

Der buddhistische Mönch Bansho Miura, der nach der Atomkatastrophe die Hilfsorganisation "Herzrettung" gründete und wegen seiner spontanen Hilfeleistungen bei der Bevölkerung sehr populär war, weil er mit seinem Nissan Van durch die gesperrten Gebiete fuhr, um jene aufzuspüren und mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten, gilt als verschollen.

Als die sogenannte freiwillige Evakuierungszone wieder zur Besiedlung freigegeben worden war, fiel Bansho auf einer Straße schwarzer Staub auf, den er untersuchen ließ. Es handelte sich um hochbelastetes Material aus den Kernbrennstäben in Fukushima. In einer beispiellosen Protestaktion versuchte er nun eine Evakuierung der gerade wieder als bewohnbar erklärten Zone zu erreichen und erregte damit offensichtlich den Unmut höherer Interessen. Die Zone ist immer noch nicht evakuiert. Neureuter konnte aber selbst solchen Staub dort finden und das Testergebnis bestätigen lassen.

Die Reaktion der Behörden auf den Warner Bansho Miura mit Ignoranz zu beschreiben, hieße, sie zu verharmlosen: Hier werden Menschen mutwillig der Verstrahlung ausgesetzt.

Daß es von hier bis zur möglichen Verstrahlung der gesamten Nordhemisphäre nur noch ein kleiner Schritt ist, erklärt Neureuter dem inzwischen fast zwei Stunden gebannt lauschenden Publikum mit dem derzeitigen Szenario in Reaktor 4. Mit einer Videosimulation und anschaulicher Pantomime führt er vor, wie unmöglich eine auf gleichmäßige Anordnung der Brennstäbe ausgelegte Bergungsaktion bei dem völlig unüberschaubaren Mikadospiel ist, das die teilweise zerbrochenen oder querliegenden Brennstäbe in dem havarierten Reaktor darstellen. Ein kleiner Fehler könnte zu Folgen führen, welche die gesamte Nordhalbkugel verstrahlen, sagen die Experten. Ein Fehler ist kaum noch auszuschließen, sagen die Bilder.

Als Alexander Neureuter seine Reise nach Japan plante, war es sehr still um Fukushima geworden. Sein Plädoyer gegen das Vergessen, gegen das Abwiegeln, Verschweigen und die systematische Vertuschung der realen Tatsachen, auch hierzulande Begleiterscheinungen, die mit der Nutzung von Kernkraft einhergehen, könnte aber durch die neuerliche Zuspitzung auf offene Ohren stoßen. Alexander Neureuter läßt ein nachdenkliches, unruhig gewordenes Publikum zurück. Schließlich geht es bei der neuen, nuklearen Bedrohung wieder um den eigenen Fisch in der Pfanne, die verstrahlte Milch, die Erdbeeren oder exotischen Früchte und damit um die eigenen Lebensgewohnheiten, aber auch um die Gewißheit, daß eine nukleare Katastrophe in einer Fabrik für Kernbrennstoff oder einem Kernkraftwerk hierzulande wohl kaum anders oder besser bewältigt werden wird als in Japan. Die Atombomben-Überlebende Kikue Nakamura (87 Jahre) zitiert Neureuter in seinem Vortrag mit den Worten: "Atomwaffen und Atomkraft sind untrennbar mit Geheimhaltung und Unrecht verbunden." Das gilt nicht nur für Japan.

Bereits vor der Beginn der Veranstaltung faßte der Saal 70 Zuhörer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Interessiertes Publikum
Foto: © 2013 by Schattenblick


Stimmen aus dem Publikum:

Welchen Eindruck der Vortrag hinterließ, geben am besten die Stimmen einiger junger Menschen wieder.

Schattenblick: Ihr habt euch gerade so engagiert an der Diskussion beteiligt, wie seid ihr auf den Vortrag von Herrn Neureuter gekommen?

Schüler der Gemeinschaftsschule Heide Ost: Wir hatten in der Schule gerade das Thema Atomenergie im Physikunterricht. Dann habe ich auf dem Markt diesen Flyer entdeckt. Den habe ich meiner Physiklehrerin gezeigt, die dafür dann gemeinsam mit unserer Klassenlehrerin ein bißchen geworben hat. Und deshalb sind wir nun hier.

SB: Und habt ihr neue Informationen zu dem Thema bekommen?

Schüler 1: Also ich sag das nicht nur so, ich fand das überaus spannend und bin begeistert von dem Vortrag. Es hat mich vor allem sehr schockiert, was Herr Neureuter über die Yakuza erzählt. Das hört man hier ja sonst gar nicht.

Schüler 2: Wenn ich mal unterbrechen darf, für mich war alles, was ich in diesem Vortrag gesehen und auch gehört habe, vollkommen neu. Ich sehe das, was in Fukushima geschieht, nun mit ganz neuen Augen. Es war auch so gut berichtet, daß man sich vieles davon gut merken kann, und das werden wir auch ganz sicher weitergeben.

Schüler 3: Allein, daß nie gesagt wurde, wieviele Tonnen an verstrahltem Wasser in den pazifischen Ozean gelangen. Es wurde hier schon sehr deutlich, daß das noch Folgen haben wird. Das finde ich sehr schockierend.

Schüler 4: Also, ich würde auch gerne noch etwas dazu sagen. Was ich wirklich schlimm finde, ist, daß die Mafia mit der Regierung zusammenarbeitet.

Schüler 1: Ich werde wohl ein Referat schreiben und das alles zusammenfassen. Das ist alles so unglaublich, ich werde versuchen, das irgendwie in den Schulunterricht einzubringen. Und wie gesagt, ich bin begeistert, was Herr Neureuter hier gemacht hat.

SB: Vielen Dank

Anmerkungen:

Ein ausführliches Interview mit dem Referenten erscheint in Kürze in dieser Rubrik:
Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT → INTERVIEW

[1] Heinz Liepmann, "Alle 5 Tage eine Atombombe - Im Forschungs-Zentrum von Oak Ridge - An der Schicksalsstätte der Menschheit" Hamburger Abendblatt, 13. Dezember 1948

[2] Einen Einblick in die Arbeit von Alexander Neureuter erhält man auf seiner Webseite:
http://www.neureuters.de/
Ein Buch zum Thema Fukushima 360 Grad soll 2014 erscheinen.

[3] Einen sehr ausführlichen Einblick über die Tsunami-Legende erhielt der Schattenblick auch auf einer Veranstaltung des IPPNW, siehe:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0013.html

[4] 20 Mikrosievert pro Stunde entsprechen 175 Millisievert im Jahr, 100 Mikrosievert pro Stunde entsprechen 876 Millisievert pro Jahr (Dosisgrenzwert in Deutschland ist ein Millisievert im Jahr). Dr. med. Angelika Claußen von IPPNW schrieb dazu:
"Die Wissenschaft ist sich inzwischen einig: Es gibt keinen Schwellenwert, auch die niedrigsten Dosen können Schäden auslösen".
Siehe: http://www.ippnw.de/presse/presse-2011/artikel/e05adcd86f/wie-gefaehrlich-ist-radioaktive-stra.html

[5] In jedem Atomkraftwerk lagern 1000 Hiroshima-Bomben: Bericht der australischen Ärztin Helen Caldicott / bearb. von Helen Caldicott. - [Electronic ed.]. In: Courage : Berliner Frauenzeitung. - 4(1979), H. 4, S. 12 - 20, ISSN 0176-1102
http://library.fes.de/cgi-bin/courage.pl?id=07.00553&dok=197904&f=197904_012&l=197904_020

[6] http://www.schattenblick.de/infopool/natur/chemie/cheko107.html


14. November 2013