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RESSOURCEN/156: US-Forscher rufen zum Schutz der Tiefsee auf (SB)


Schleppnetzfischerei, Erdölbohrungen und Bergbau

Die Industrialisierung der Tiefsee schreitet voran



Mehr als die Hälfte der Erdoberfläche liegt in der Tiefsee. Das Gebiet ab 1000 Meter Meerestiefe ist sogar noch weniger erforscht als die Oberfläche des Mondes, und vergleichbar damit, wie auf dem Erdtrabanten nach industriellen Rohstoffen gesucht wurde, ist der Tiefseeboden in die Aufmerksamkeit von Bergbauunternehmen gerückt. Das hat Folgen für die Umwelt. Die Ökosysteme der lichtlosen Unterwasserwelt sind inzwischen von der gleichen Art der Industrialisierung bedroht, wie sie während des 20. Jahrhunderts an Land stattfand, die Hauptgefahren sind Schleppnetzfischerei, Erdölbohrungen und demnächst vielleicht auch Bergbau.

Vor dieser Entwicklung warnten am 16. Februar US-Forscher auf einer Pressekonferenz unter dem Titel "Deep-Ocean Industrialization: A New Stewardship Frontier" (Tiefsee-Industrialisierung: Eine neue Grenzverantwortung) der American Association for the Advancement of Science (AAAS) in Chicago. [1] Als Beispiel für Gefahren nannte Lisa Levin, Leiterin des Center for Marine Biodiversity and Conservation der Scripps Institution of Oceanography in Kalifornien, den Fischfang: "Nachdem die kommerzielle Fischerei viele Fischbestände im Küstenbereich ausgeschöpft hat, hat sie sich inzwischen tieferen Gewässern zugewandt."

Die Weltbevölkerung hat sich in den letzten fünfzig Jahren verdoppelt, was einen hohen Druck auf die Nahrungsressourcen erzeugt. Für rund eine Milliarde Menschen ist Fisch Hauptbestandteil ihrer Nahrung. Hinzu kommt der wachsende Bedarf der Menschheit an Energie, der sich in den letzten fünfzig Jahren sogar vervierfacht hat. Dementsprechend wecken auch die potentiellen Energieressourcen der Tiefsee die Begehrlichkeiten. Heute erkunden die Öl- und Gasgesellschaften den Meeresboden in mehr als 1000 Meter Tiefe routinemäßig, so Levin. Es gebe derzeit etwa 2000 Ölplattformen, die im Tiefseebereich fördern, und die hätten das Potential, eine Umweltkatastrophe auszulösen wie vor vier Jahren die Ölbohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexiko.

Abgesehen von der Fischerei, bei der Schleppnetze in bis zu zwei Kilometern Tiefe über den Meeresboden gezogen werden und dabei enorme Zerstörungen anrichten, und den risikobehafteten Tiefseebohrungen nach Erdöl birgt der Abbau von Manganknollen, Kobaltkrusten und Massivsulfiden ein hohes Gefährdungspotential. Noch findet in dem "Gebiet" (area), jenem Tiefseeboden jenseits der nationalen Jurisdiktion, für den die Internationale Meeresbodenbehörde (International Seabed Authority - ISA) zuständig ist, kein kommerzieller Abbau solcher Rohstoffvorkommen statt. Aber es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis kapitalstarke Unternehmen in Zusammenarbeit mit Staaten ihre Räum-, Kratz- und Saugvorrichtungen auf den Meeresgrund senken, um die begehrten Rohstoffe ans Tageslicht zu fördern. Die ISA vergibt bereits riesige Flächen, auf denen Staaten das Rohstoffpotential und die zu seiner Ausschöpfung notwendigen Bergungstechnologien erforschen können.

Tiefseebergbau ist keine Science-fiction, sagte Cindy Lee Van Dover, Direktorin des Duke University Marine Laboratory, auf der Pressekonferenz. Die Lagerstätten existieren und mit Fortschritten in der Tiefseerobotik "erhalten wir Zugang zur Tiefsee wie nie zuvor". [1] Im vergangenen Jahr berichtete Van Dover in einem Interview mit dem Schattenblick, daß sie sich früher nie hätte vorstellen können, daß noch zu ihren Lebzeiten Tiefseebergbau betrieben werden könnte. [2] Inzwischen scheint dieser in greifbare Nähe gerückt.

Man muß zwischen Nutzen und Schaden abwägen, forderte der Ökonom Lindwood Pendleton vom Nicholas Institute for Environmental Policy Solutions der Duke University und fragte: "Gibt es Wege der Extraktion, die vielleicht ökonomisch teurer sind, aber geringere ökologische Folgen haben? Wie können wir den beträchtlichen Schaden, der bereits dem Meeresboden durch Schleppnetzfischerei, Verschmutzung und andere Praktiken zugefügt wurde, beheben?" Solche Fragen müßten beantwortet werden, bevor industrielle Aktivitäten den wissenschaftlichen Erkenntnissen vorausgingen, forderte er. [1]

Dafür könnte es schon zu spät sein. Das Wissen um die Tiefsee-Ökosysteme hat mit der Zunahme menschlicher Aktivitäten, von denen die Tiefsee betroffen ist, nicht Schritt gehalten, konstatiert Levin. Sie rief zur verstärkten internationalen Kooperation und Bildung einer Einrichtung auf, welche die Verwaltung der Tiefsee ausarbeiten und überwachen kann.

Könnte das nicht die Internationale Meeresbodenbehörde übernehmen? Vielleicht hat die Forderung der US-Forscherin nach einer Instanz für den Meeresschutz damit zu tun, daß die Vereinigten Staaten nicht das Internationale Seerechtsübereinkommen unterzeichnet haben und deshalb von der Internationalen Meeresbodenbehörde (wo sie nur Beobachterstatus genießen) keine Claims zugewiesen bekommen, in denen sie das Rohstoffpotential erkunden können. Denn die ISA hat bereits für die Phase der Erkundung potentieller Lagerstätten Umweltschutzbestimmungen ausgearbeitet. Damit drängt sich die in Kingston, Jamaika, ansässige Behörde als die von Levin geforderte Einrichtung eigentlich auf.

Auf einem ganz anderen Blatt steht dagegen, daß die finanziellen und personellen Mittel der ISA sicherlich nicht im mindesten ausreichen, um eine Fläche von 318 Millionen Quadratkilometern (zum Vergleich: Deutschland hat eine Fläche von gut 0,35 Millionen Quadratkilometern) zu verwalten und darauf zu achten, daß in Zukunft, sollte eines Tages kommerzieller Bergbau in der Area betrieben werden, alle Beteiligten die Umweltauflagen einhalten. Zumal sowieso eine grundsätzliche Schwierigkeit darin bestehen wird, in den unzugänglichen Weiten der Tiefsee zu kontrollieren, ob beispielsweise die unvermeidliche Wolke aus Schwebteilchen, die beim Einsammeln von Manganknollen vom Meeresboden entsteht, zeitlich und räumlich innerhalb der (noch festzulegenden) Parameter bleibt, oder auch ob die durch einen großmaßstäblichen Abbau von Massivsulfiden aus ihrem Lebensraum vertriebenen Tiefseebewohner nach Abschluß der Räumarbeiten wieder zurückkehren.

"In hundert Jahren sollen die Leute sagen: 'Sie haben es richtig gemacht, auf der Grundlage ihrer damaligen Wissenschaft, und haben am Steuer nicht geschlafen'", wünscht sich Van Dover, die mit Levin und Pendleton nicht zu den Personen zählt, die sich für ein striktes Verbot der Ausbeutung der Tiefseeressourcen einsetzen. In ihrem Standpunkt spiegelt sich einerseits die Akzeptanz der realen Entwicklung wider - denn Schleppnetzfischerei wird bereits betrieben und die Staaten und Unternehmen, die heute den Meeresboden nach Rohstoffen absuchen, wollen sicherlich morgen die Ernte ihrer Bemühungen einfahren - und andererseits der Wunsch, die Entwicklung in ihrem Sinne noch beeinflussen zu können. Doch der größte Schutz der Tiefsee vor einer weiteren Ökonomisierung in Gestalt des industriellen Bergbaus ist nicht der Umweltschutz, sondern ausgerechnet die Ökonomie: Gegenwärtig rentiert sich der Tiefseebergbau nicht.


Fußnoten:

[1] http://www.spacedaily.com/reports/Human_resource_needs_putting_deep-water_ecosystems_in_peril_999.html

[2] http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0052.html

20. Februar 2014