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RESSOURCEN/111: Food Strategy 2030 - Briten sollen Nahrungsreste essen (SB)


Von der Müllvermeidung bis zur Müllverwertung

Knappe Lebensmittel auch im Industriestaat Großbritannien


Anscheinend bereitet die britische Regierung die Bevölkerung allmählich auf eine Zeit des Nahrungsmangels vor. Es begann vor rund zwei Jahren zum Höhepunkt der weltweiten Preisexplosion für Getreide und Lebensmittel. In jenem Zeitraum fanden in mehreren Dutzend Staaten Hungeraufstände statt, die von verschiedenen Regierungen mit Waffengewalt niedergeschlagen wurden. Die Regierung Haitis, wo die Einwohner gesalzene Lehmfladen aßen, um ihr Mägen zu beruhigen, stürzte über die allgemeine Nahrungsnot. Damals richtete Großbritannien unter Premierminister Tony Blair eine hochrangig besetzte "Task Force" ein, die Strategien entwickeln sollte, um die Versorgung der auf Lebensmittelimporte angewiesenen Nation sicherzustellen. Großbritannien produziert nur rund 61 Prozent seiner Lebensmittel selbst. Die Sorge über die Ernährungssicherheit war auch deshalb berechtigt, weil sich erwiesen hatte, daß Erzeugerländer Ausfuhrrestriktionen bis hin zum totalen Verbot des Exports von Reis und anderen Lebensmitteln verhängten. Ein britischer Minister kündigte düster an, daß sich die Bevölkerung darauf einstellen sollte, in Zukunft nicht mehr alle Produkte zu jeder Zeit in den Supermarktregalen vorzufinden.

Vergangene Woche stellte Großbritannien die "Food Strategy 2030" vor. [1] Nach Angaben von Defra, des Ministeriums für Umwelt, Ernährung und ländliche Angelegenheiten, dient die 84seitige Strategie als Richtungsvorgabe, wobei detailliertere Pläne, einschließlich der notwendigen Gesetzgebung, in den nächsten Monaten folgen werden, wie die Financial Times berichtete. [2] "Wir müssen mehr Lebensmittel produzieren", zitiert die Zeitung Hilary Benn, Minister für Umwelt, Ernährung und ländliche Angelegenheiten, der die Strategie der Regierung kürzlich auf der Oxford Farming Conference ankündigte. Und auch Benn erklärte, daß "wir" die Nahrungsversorgung nicht mehr "als garantiert annehmen" können. [3]

Nach Angaben der Finanzzeitung spiegelt die Food Strategy 2030 die Umstände wider, daß die Nahrungsversorgung heute viel weiter oben auf der Agenda steht als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Anstieg der Lebensmittelpreise, teils als Folge veränderter Eßgewohnheiten in den Entwicklungsländern, einer rasch wachsenden Weltbevölkerung und der Auswirkungen des Klimawandels bedrohten zusammengenommen die globale Nahrungsversorgung.

Dieser Einschätzung kann nur in einem Punkt zugestimmt werden: Die Ernährungsunsicherheit hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Der Nahrungsmangel tritt immer unverhohlener zutage. Die Financial Times ließ allerdings unerwähnt, daß heute Lebens- und Futtermittel großmaßstäblich zu Treibstoff verarbeitet werden und daß landwirtschaftliche Flächen, auf denen Pflanzen für Nahrung angebaut werden könnten, für die Treibstoffproduktion verbraucht werden. Darüber hinaus berücksichtigt die Zeitung nicht, daß die globale Nahrungsversorgung nicht erst in den letzten Jahren bedroht ist. Auch in früheren Jahrzehnten waren Hunderte Millionen Menschen mangelernährt, heute müssen mehr als eine Milliarde Menschen hungern. Deshalb täuscht die Formulierung, daß die globale Nahrungsversorgung bedroht (global food supplies under threat) ist, noch ein bevorstehendes Ereignis vor, während bereits Jahr für Jahr Dutzende Millionen Menschen aufgrund von Hunger oder Mangelernährung sterben.

Historisch gesehen waren die letzten Jahrzehnte mit relativer Ernährungssicherheit in Europa und den USA eine Ausnahme. Es mehren sich die Indizien, daß in Zukunft auch die Bevölkerung in den Wohlstandsregionen Hunger am eigenen Leib erfahren wird. Ideologisch wird dies allem Anschein nach durch verschiedene Kampagnen administrativ vorbereitet. Obgleich wissenschaftlich nachgewiesen wurde, daß dickere Menschen, deren Gewicht oberhalb des zur Norm erhobenen Body Mass Index von 25 liegt, gesünder sind und länger leben, wird dieser Erkenntnis viel weniger Beachtung geschenkt als den Ergebnissen spezifischer Tierversuche, nach denen Nahrungsentzug zu einem längeren Leben verhelfen kann. Wobei die Tiere nicht gefragt wurden, was sie vorziehen, ein langes Leben, in denen sie permanent unter Hunger leiden, oder ein etwas kürzeres Leben ohne Nahrungsnot.

Würde man solche Versuche mit Menschen durchführen, stellte sich wahrscheinlich heraus, daß die Probanden es vorzögen, vollversorgt zu sein und somit Platz für andere Dinge zu haben, als sich permanent auf der Suche nach Nahrung zu befinden und ständig von dem Gefühl getrieben zu werden, sich nicht ausreichend um die Existenzsicherung zu kümmern. Solche wissenschaftlichen Tierexperimente begleiten offenbar jene Vorbereitungskampagne zur Hungerakzeptanz in den Wohlstandsregionen.

Ein weiterer Aspekt der Kampagne zielt ebenfalls auf angeblich zu dicke Menschen. Sie sollen aufgrund ihres angeblich höheren Nahrungsverbrauchs eine höhere Schuld am Klimawandel haben als ihre leichtgewichtigeren Zeitgenossen. Denn ein höherer Nahrungsverbrauch vermehrt den Einsatz von Energie und steigert somit die Treibhausgasemissionen.

Fleischesser sind inzwischen ebenfalls ins Visier der selbsternannten Gesundheitswächter und Klimaschützer geraten. Weil die industrielle Viehhaltung energieintensiv ist und auch Tiere Treibhausgase entlassen, wird die Rechnung aufgemacht, daß der Fleischverzehr pauschal dem Klima schadet. Der Vegetarier dagegen lädt demnach weniger "Klimaschuld" auf sich.

Nun hat die britische Regierung die Food Strategy 2030 veröffentlicht. Ihr Schwerpunkt setzt sich aus sechs Aufgaben zusammen, denen sich die Regierung in besonderer Weise widmen will. Punkt 5 (S. 53) handelt von "Verringerung, Wiederverwertung und Wiederaufbereitung von Abfall". Selbstverständlich spricht nichts dagegen, wenn sich eine Regierung für Abfallvermeidung stark macht. Auch Benns Kritik, daß das Obst in den Supermärkten immer uniform aussehen muß, da es sonst nicht gekauft wird, ist verständlich.

Solche Erklärungen und Standpunkte erhalten allerdings dann einen unangenehmen Beigeschmack, wenn sich eine Regierung ausgerechnet in Zeiten des drohenden Nahrungsmangels für die Bevölkerung daran erinnert, was alles aus dem Müll herauszuholen ist und daß er - überspitzt formuliert - eigentlich noch gut schmeckt. So hat sich Hilary Benn im August vergangenen Jahres gegen die doppelte Datumsangabe auf Lebensmitteletiketten ausgesprochen und den Menschen geraten, die Angabe "best before" zu ignorieren. [4]

Dieses Datum ist eine Empfehlung des Herstellers, bis wann ein Lebensmittel am besten verbraucht werden sollte, da es bis dahin noch seinen optimalen Geschmack hat. Daneben gibt es noch ein Haltbarkeitsdatum ("use by" oder "sell by"), ab dem die Nahrungssicherheit nachzulassen beginnt und das Produkt verkauft werden sollte. Benn erklärte dazu: "Da gibt es 'use by', und das ist sehr wichtig, weil das die Nahrungssicherheit angibt. Aber hinsichtlich 'sell by' oder 'best before' sollten wir als Verbraucher besser wissen, was diese Kennzeichen bedeuten. In der Vergangenheit, lange bevor solche Labels existierten, sahen sich die Leute das Lebensmittel im Kühlschrank oder in der Speisekammer an und entschieden dann, ob es noch zum Verzehr geeignet ist." [4]

Benn hebt hier auf eine Zeit an, da die Lebensmittel, wenn sie gammelten, eindeutig an Form, Farbe, Konsistenz, Schimmelbefall oder Geruch zu identifizieren waren. Für Lebensmittel von heute gilt das nicht mehr. So sieht Hackfleisch aufgrund von Zusätzen außen rosig-frisch aus, auch wenn es älter ist, innen dagegen eher leichenblaß. Das Haltbarmachen von Lebensmitteln hat sich im Laufe der Generationen nicht unbedingt verbessert, aber es hat in Bereichen Einzug gehalten, bei dem die natürlichen Warnmechanismen des Menschen womöglich gar nicht mehr greifen. Zumal Fertigprodukte ein neuzeitliches Phänomen sind. Insofern greift Benn mit seinem Vergleich doppelt daneben. Die Konsumentinnen und Konsumenten von heute sind auf die Datumsangaben der Hersteller angewiesen.

Sollte die britische Regierung versuchen, an dieser Stelle regulierend einzugreifen, um die Bevölkerung zu drängen, Lebensmittel bis an die Grenze ihrer Haltbarkeit (oder irgendwann womöglich darüber hinaus) zu verwenden, so greift sie damit in einen Bereich ein, den in Deutschland die Tafeln besetzen. Rund ein Million Bundesbürger verzehren notgedrungen Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist oder kurz vor dem Ablaufen steht. Ähnlich sind auch im Vereinigten Königreich viele Menschen, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, auf Ware angewiesen, die aufgrund ihres Aussehens oder ihres Frischedatums nicht mehr auf den üblichen Wegen verkauft werden können. Sollte sich Benns Einstellung allgemein durchsetzen, so werden immer mehr Lebensmittel von grenzwertiger, wenn nicht gar zweifelhafter Qualität in den normalen Handel gelangen, während die ärmeren Einwohner auf eine noch schlechtere Qualität der Produkte ausweichen müssen. Es macht nun mal einen Unterschied, ob ein Pfirsich nur Druckstellen hat oder ob er schon zu faulen beginnt, oder ob die verschiedenen Substanzen der Sahnetunke zum Heringsfilet im Begriff sind, sich wieder zu trennen, oder noch nicht.

Nach Einschätzung der britischen Regierung werden in dem Land jedes Jahr 6,7 Mio. Tonnen Nahrung im Wert von zehn Mrd. brit. Pfund weggeworfen. Laut dem Waste and Resources Action Programme kann vieles davon sicher verzehrt werden, da es nur wegen der Angabe "best before" weggeworfen wurde. Wohlfahrtsorganisationen wie FareShare verteilen bereits überschüssige Nahrung über ein Netzwerk an lokale Einrichtungen für mehrere zehntausend Einwohner. Die "Food Strategy 2030" kann sich potentiell in verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Man wird sehr genau zu beobachten haben, ob die britische Regierung hinsichtlich der Nahrungsproduktion und -verteilung eine ähnliche Einstellung gegenüber dem Volk einnimmt wie auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, wo sie europaweit mit die schärfsten Repressionsmittel installiert und die Einwohner zur bloßen Verfügungsmasse, die rund um die Uhr observiert gehört, degradiert hat.


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Anmerkungen:

[1] http://www.defra.gov.uk/foodfarm/food/pdf/food2030strategy.pdf

[2] "Modified food on agenda as Benn outlines strategy", The Financial Times, 6. Januar 2010
http://www.ft.com/cms/s/0/c8c36468-fa62-11de-beed-00144feab49a.html

[3] Rede von Rt Hon Hilary Benn MP auf der Oxford Farming Conference, 5. Januar 2010<> http://www.defra.gov.uk/corporate/about/who/ministers/speeches/ hilary-benn/hb100105.htm

[4] "Hilary Benn: GM could help Britain's food production", The Telegraph, 10. August 2009
http://www.telegraph.co.uk/foodanddrink/foodanddrinknews/6003402/ Hilary-Benn-GM-could-help-Britains-food-production.html

11. Januar 2009