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KLIMA/741: Permafrost - beschleunigt durch Wasserlinsen ... (SB)



Innerhalb nur eines Monats kann sich ein Wald in einen See wandeln. Das berichtete die US-Forscherin Merrit Turetsky, die das "plötzliche Auftauen" von Permafrost untersucht. Zu diesem Effekt kann es an den Stellen kommen, an denen der Untergrund besonders viel gefrorenes Wasser enthält. Die Wasser- bzw. Eislinsen reagieren empfindlicher auf Erwärmung als Permafrostboden aus hauptsächlich festem Material.

Die Voraussetzungen für dieses abrupte Phänomen sind zwar nur in fünf Prozent der arktischen Permafrostregion anzutreffen, aber wenn sich Permafrost auflöst, ist die daraus freigesetzte Menge an Treibhausgasen genauso groß wie die aus dem allmählich, sich über einen Zeitraum von Jahrhunderten oder Jahrtausenden auflösenden Permafrost. Das plötzliche Auftauen verändert Landschaften "schnell und dramatisch", sagte Turetsky, Leiterin des Institute of Arctic and Alpine Research (INSTAAR) der Universität von Boulder [1] und Hauptautorin einer kürzlich in "Nature Geoscience" veröffentlichten Studie. [2] Landschaften, die man ansonsten mit normalen Wanderschuhen betreten konnte und in denen sogar Bäume wachsen, verwandeln sich in eine breiige Masse.

Ein Viertel der Landoberfläche der Nordhemisphäre der Erde erfüllt das Kriterium für Permafrost, ist also mindestens zwei Jahre hintereinander dauerhaft gefroren. Seit dem Ende der letzten Kaltzeit vor 11.600 Jahren zieht sich der Permafrost zurück, auch ohne menschliches Zutun. Doch die anthropogenen Treibhausgasemissionen aus fossilen Energieträgern (Kohle, Erdöl, Erdgas), der Landwirtschaft (z. B. Lachgas) und anderen Einrichtungen (z. B. Müllkippen) beschleunigen den natürlichen Vorgang beträchtlich. Die Arktis ist die Region, die sich unter dem Eindruck des Klimawandels am stärksten verändert. Nun kommt noch das bislang vernachlässigte Phänomen des plötzlichen Auftauens von Permafrost oben drauf.

Obwohl in der Arktis doppelt so viel Kohlenstoff in gebundener Form vorliegt wie in der Erdatmosphäre, ist kein Beispiel aus der jüngeren Erdgeschichte bekannt, bei dem der Permafrost komplett aufgetaut gewesen wäre. Noch heute existieren dauerhaft gefrorene Bereiche, die sich in der vorletzten Kaltzeit oder noch davor gebildet und somit mindestens eine wärmere Periode überstanden haben. Nicht zuletzt deshalb haben viele der 2016 vom Schattenblick auf der 11. Internationalen Permafrostkonferenz in Potsdam befragten Forscherinnen und Forscher betont, daß von den menschenverursachten Treibhausgasen und nicht etwa dem auftauenden Permafrost die weitaus größere Gefahr einer stärkeren Erderwärmung ausgeht. Das gilt auch für Merrit Turetsky, die rundheraus erklärte: "Wir kennen keine technische Lösung, um ein Auftauen des Permafrostes zu verhindern. Wir müssen die globalen Treibhausgasemissionen begrenzen, um die Erwärmung zu verringern. Das wäre das beste in unserem Interesse." [3]

Wenn Permafrostboden taut, genügen schon geringe Hangneigungen, um ihn zum Rutschen zu bringen. Dann können selbst Bäume ihren Halt verlieren. Man spricht von "betrunkenen Bäumen", weil sie uneinheitlich schräg stehen. Sobald der Boden auftaut, geschieht aber auch etwas weniger Auffälliges, dessen Folgen indessen gravierend sind: Bakterien beginnen, das organische Material im Boden zu verstoffwechseln und dabei Methan freizusetzen. Dessen Treibhausgaspotential übertrifft das des Kohlendioxids um das 25- bis zu 87fache, je nach Bemessungszeitraum.

Im nächsten Report des Weltklimarats IPCC soll die Bedeutung von Permafrost auf die Erderwärmung erstmals in einem größeren Rahmen berücksichtigt werden. In den früheren Berichten waren Permafrosteffekte nicht oder, gemessen an ihrer Bedeutung für das Weltklima, nur unzureichend berücksichtigt worden.

Der von Turetsky und anderen geschilderte Effekt des plötzlichen Auftauens bedeutet, daß das verbleibende Budget an Treibhausgasemissionen, die höchstens noch emittiert werden dürfen, um nicht den Schwellenwert von 1,5 oder 2,0 Grad C Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit zu überschreiten, schneller aufgebraucht ist als angenommen. Demnach bleibt weniger Zeit für wirksame Maßnahmen zum Stopp der globalen Erwärmung.

Nimmt man beispielsweise den Kohleausstieg der Bundesrepublik Deutschland, der bis 2038 hinausgezögert wird, oder die von der EU-Kommissionsvorsitzenden Ursula von der Leyen in Aussicht gestellte rechnerische Klimaneutralität der Europäischen Union bis 2050, so bleibt festzustellen, daß sich diese Fernziele nicht einmal auf die wissenschaftlichen Berechnungen berufen können, wie sie zur Grundlage für das 2015 vereinbarte Klimaschutzübereinkommen von Paris genommen wurden, geschweige denn, daß aktuellere Studien wie die zum plötzlichen Permafrostschwund berücksichtigt werden.

Die Konsumeinschränkungen, die die Menschen in Deutschland und anderen relativen Wohlstandsländern aufgrund des Ausstiegs aus der fossilen Energiewirtschaft heute hinnehmen müßten, damit morgen die globale Erwärmung nicht davonrast, werden sich unbedeutend gegenüber den administrativen Zwangsmaßnahmen in einer Zukunft ausnehmen, in der die verheerenden Mangelfolgen des dann nicht mehr zu vermeidenden extremen Klimawandels verwaltet werden.


Fußnoten:

[1] https://www.colorado.edu/today/2020/02/03/arctic-permafrost-thaw-plays-greater-role-climate-change-previously-estimated

[2] https://www.nature.com/articles/s41561-019-0526-0

[3] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0241.html

11. Februar 2020


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