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KLIMA/714: Erdkugelweit - Alarmsignale Witterungen ... (SB)



Was der Kanarienvogel für den Bergbau ist die Arktis für das globale Klima. In diesem Jahr hat sie höchsten Alarm geschlagen. Angefangen von der geringen Meereisausdehnung über die enorme Eisschmelze auf Grönland bis zu Höchsttemperaturen von 32 Grad nördlich des Polarkreises. Ein Klimarekord jagt den nächsten. Von dem, was in der Arktis geschieht, bleibt der übrige Planet nicht unbetroffen. Hier verteilen sich die Extreme lediglich über eine größere Fläche und zeigen sich beispielsweise in intensiveren atlantischen Wirbelstürmen, plötzlichen Regenmassen in Spanien, riesigen Waldbränden im Amazonasbecken und Sibirien, Dürre in Australien und vielem mehr. Die Regierungen reagieren darauf mit einer Politik des Wegduckens und stellen nach wie vor wirtschaftliche Interessen voran. Danach werden Klimaschutzmaßnahmen ausgerichtet.

Wenn der grönländische Eisschild schmilzt, steigt der Meeresspiegel global um sieben Meter - nicht das einzige, doch das augenfälligste Merkmal, daß das, was sich in den Hohen Breiten abspielt, weltweite Folgen zeitigt. Ende Juli es war auf der zur Enttäuschung Donald Trumps nicht zum Verkauf vorgesehenen, sondern zu Dänemark gehörenden Insel 12 Grad wärmer als normalerweise, und noch am höchsten Punkt des mehrere tausend Meter hohen Eisschilds, der Summit Station, kletterte die Temperatur kurzzeitig über den Gefrierpunkt. Da geriet selbst dort das Eis zum Schmelzen.

Aus der Analyse von Eisbohrkernen leitet die Wissenschaft ab, daß es in den letzten rund 1500 Jahren lediglich achtmal zu einer Schmelze an dieser Gipfelforschungsstation gekommen war. Mehr als 60 Prozent der Eisfläche Grönlands waren in diesem Jahr mindestens kurzzeitig geschmolzen gewesen. Übertroffen worden war dieser Wert lediglich von dem außergewöhnlichen Sommer 2012, als rund 98 Prozent der Oberfläche geschmolzen waren.

Allein innerhalb von 24 Stunden am 1. August dieses Jahres verlor der Eisschild schätzungsweise 13 Milliarden Tonnen Masse. Auf eine fünftägige Hitzewelle bezogen, die ebenfalls in diesem Sommer auftrat, wurde ein Eismassenverlust von 55 Milliarden Tonnen ausgerechnet. Zum Vergleich: In den 1990er Jahren verlor Grönlands Eisschild 41 Mrd. Tonnen Masse - nicht über einen Zeitraum von fünf Tagen, sondern einem Jahr! Zwischen 2010 und 2018 waren es bereits 286 Mrd. Tonnen jährlich. Der Eismassenverlust Grönlands hat sich also binnen dreißig Jahren versechsfacht. Sollte das nicht eine Mahnung an die Politik sein, endlich entschiedene Gegenmaßnahmen zum Klimawandel zu ergreifen?

Von den gut drei Millimetern, die das Meer weltweit jedes Jahr steigt, entfällt inzwischen ein Drittel auf die Gletscherschmelze Grönlands. Je flacher der riesige Eisschild wird, desto mehr gerät seine Oberfläche in Luftschichten, in denen wärmere Windströmungen auftreten, so daß die Schmelze beschleunigt wird. Aufgrund dieses sich selbst verstärkenden Prozesses wird dem grönländischen Eisschild auch ein sogenannter Kippunkt - engl. tipping point - zugesprochen. Solche Kippunkte verbergen sich in vielen Natursystemen und haben oftmals globale Auswirkungen.

In Anchorage, der größten Stadt des nördlichsten US-amerikanischen Bundesstaats Alaska, schossen die Temperaturen in diesem Jahr auf über 32 Grad Celsius. So heiß war es dort nie zuvor seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen. In anderen Regionen der Arktis wie zum Beispiel Zentralrußland und Westkanada lagen die Temperaturen in der ersten Jahreshälfte mindestens zwei Grad höher als im Durchschnitt. Einen absoluten Hitzerekord verzeichnete jedoch eine Wetterstation im schwedischen Dorf Markusvinsa, nördlich des Polarkreises gelegen, wo am 26. Juli 34,8 Grad Celsius registriert wurden.

In manchen Regionen der Arktis zog sich in diesem Jahr das Meereis weiter zurück als je zuvor. In der Beringsee beispielsweise hatte sich von Januar bis Mai überhaupt kein Eis gebildet - zum Erstaunen der Bevölkerung, die so etwas noch nicht erlebt hatte. Nur im Rekordsommer 2012 wies die Meereisfläche der gesamten Arktis eine noch geringere Ausdehnung auf. Damals hatte im Monat August ein Sturm die Eisfläche zerschlagen und auseinandergetrieben, was das Abschmelzen einzelner Stücke begünstigte. Entsprechend dem kräftigen Wärmeeintrag ins Nordpolarmeer in diesem Sommer meldet sich das Meereis in diesem Monat nur sehr verzögert zurück. Wie beim Eismassenverlust von Grönland ist auch hier der Trend eindeutig: Die Ausdehnung des Meereises der Arktis hat in den letzten rund 40 Jahren um die Hälfte abgenommen. Außerdem wird immer mehr mehrjähriges, dickes Eis durch einjähriges, dünnes ersetzt.

In ausgedehnten Gebieten Sibiriens, Kanadas und Alaskas brannten in diesem Jahr die Wälder, selbst Grönland blieb davon nicht verschont. Der Verlust der Vegetation, die Zunahme von CO₂ in der Atmosphäre und das beschleunigte Auftauen des Permafrostbodens mit der Freisetzung von klimawirksamem Methangas tragen in der Summe zur weiteren Beschleunigung der Erderwärmung bei.

Und was unternimmt die Politik gegen die verheerenden Folgen des Klimawandels? Sie schließt Kompromisse. Beispielsweise mit den Autoherstellern, Reedern, Luftfahrtgesellschaften, Energiekonzernen und allen anderen Wirtschaftszweigen und gesellschaftliche Sektoren, die klimawirksame Treibhausgase emittieren und eigentlich dafür bezahlen müßten, daß sie Schäden verursachen, aber nicht dafür aufkommen. Mit dem Klima kann man jedoch keine Kompromisse schließen, es ist kompromißlos. Es macht keinen Unterschied, es trifft Arme wie Reiche, doch letztere können sich besser gegen die Auswirkungen wappnen. Beispielsweise indem sie mehrere Wohnsitze ihr eigen nennen, ihren Wohnsitz in sichere Umgebungen verlegen, in stabileren Häusern leben, Versicherungen abschließen, sich Vorräte anlegen und überhaupt genügend Geldmittel zur Seite schaffen, um nicht in Not zu geraten. Das alles können ärmere Menschen nicht. Für sie sind Dürren, Überschwemmungen, Hitzewellen und Wirbelstürme unmittelbar lebensbedrohlich. Darum ist die Bedrohung durch den Klimawandel in erster Linie eine Bedrohung der sozial Benachteiligten.

Die diesjährige Hitzewelle in den Hohen Breiten entstand, nachdem warme Luftmassen aus gemäßigteren Zonen eingeflossen waren. Bekanntlich wurden auch in Europa Rekordtemperaturen verzeichnet, beispielsweise in Frankreich, den Beneluxländern und Niedersachsen. Das dynamische Klimagefüge der Erde gerät offenbar stärker in Bewegung, angetrieben von einem Stau der Wärmerückstrahlung, die durch atmosphärische Gase daran gehindert wird, ins Weltall zu entweichen. Vor dem Hintergrund der unmißverständlichen Alarmsignale in den Natursystemen wird deutlich, daß die Kompromisse, die die Regierungen mit der Industrie schließen, sich zugleich gegen all die Abgehängten, Marginalisierten und zur bloßen Verfügungsmasse abgestempelten Menschen auf der ganzen Welt richten.

17. September 2019


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