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KLIMA/707: Erderwärmung - technologischer Opfergang ... (SB)



Die Europäische Union baut die Erdgasinfrastruktur massiv aus. Obschon Erdgas nicht die klimafreundlichere Alternative zu Kohle oder Erdöl ist, als die sie offiziell dargestellt wird, jedenfalls nicht unter allen Bedingungen. Wenn beispielsweise Erdgas in Nordamerika per Fracking gefördert, über lange Strecken bis zur Küste transportiert, dann verflüssigt und auf Tankschiffen nach Westeuropa gebracht wird, dann ist der Vorgang erstens mit hohen energetischen Verlusten und zweitens mit Leckagen von Methangas entlang der Infrastruktur verbunden. Auf einen Zeitraum von 20 Jahren bezogen ist Methan ein 87mal so wirksames Treibhausgas wie Kohlenstoffdioxid. Doch selbst wenn die Förderbedingungen vergleichsweise günstig wären, würde die Europäische Union sogar bei einem vollständigen Verzicht auf Erdöl und Kohle zugunsten von Erdgas zur Stromerzeugung noch immer so viele Treibhausgasemissionen erzeugen, daß sie die Klimaschutzziele des Übereinkommens von Paris verfehlt. Das sieht eine Begrenzung der globalen Erwärmung um zwei, möglichst 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit vor, was bedeutet, daß das Budget an Treibhausgasemissionen nach oben hin begrenzt ist.

Erdgas ist nicht zukunftstauglich, nicht einmal mittelfristig als Brückentechnologie auf dem Weg zu einer emissionsfreien Welt. Denn nach dem im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichten 1,5-Grad-Sonderbericht des Weltklimarats [1] müssen die Treibhausgasemissionen bis 2030 um etwa 45 Prozent gegenüber dem Basisjahr 2010 gesunken sein. Bis 2050 muß sogar Kohlenstoffneutralität erreicht sein. Die EU-Staaten müssen somit jetzt mit der Transformation zu einer anderen Welt anfangen. Jede Investition in die Erdgaswirtschaft führt in die falsche Richtung.

Daran gemessen begibt sich die EU derzeit auf ziemlich weite Abwege. Sage und schreibe 112 "Projekte gemeinsamen Interesses" (PCI - Projects of Common Interest) hat die EU-Kommission in diesem Jahr zum Ausbau der Gasindustrie ausgewiesen. Mal soll ein neuer Terminal für LNG (Flüssiggas), mal eine Pipeline, mal ein neuer Knotenpunkt für die Gasförderung gebaut werden. In die PCI fließen Milliarden Euro. Gerechtfertigt wird das mit dem Argument, daß darüber sowohl die Energieversorgung gesichert als auch die Einhaltung der Klimaschutzziele gesichert werden soll.

Aktivistinnen und Aktivisten gegen die Gasindustrie, die sich "Gastivists" nennen, sprechen hingegen das "gemeinsame" Interesse an dieser Art der Energieversorgung ab und haben PCI auf ihre Weise als "Proteste gemeinsamen Interesses" umgedeutet. Die Gastivists appellieren an die Öffentlichkeit, sich noch bis zum 29. Mai 2019 bei den Konsultationen der EU-Kommission zu den Gasprojekten zu äußern und einen von ihnen entworfenen offenen Brief zu unterzeichnen, in dem sämtliche 112 Projekte gemeinsamen Interesses abgelehnt werden. [2]

Die Kritik von Organisationen wie Food and Water Europe richtet sich unter anderem gegen die Verschwendung von Steuergeldern, weil die jetzt mit viel Geld aufgebaute Gasinfrastruktur auf "stranded assets", z. Dt. verlorene Investitionen, hinauslaufe. Das Argument hebt darauf ab, daß die Gasinfrastruktur überdimensioniert ist, denn wenn die EU ihre Verpflichtungen zum Klimaschutz erfüllen will, müsse sie auch auf die Verbrennung von Erdgas verzichten. Das würde bedeuten, daß die Investitionen in die Gaswirtschaft in einigen Jahren wertlos werden. Jedenfalls würde die vorgesehene Betriebszeit von 40 bis 50 Jahren für die Gasinfrastruktur niemals ausgeschöpft.

So folgerichtig dieser Kritikpunkt auch ist, wird mit ihm doch unterstellt, daß die EU-Kommission die Bedrohung durch den Klimawandel ernst nimmt. Da kommen jedoch Zweifel auf, denn anstatt die Unzulänglichkeiten der nationalen Verpflichtungen zum Klimaschutz im Übereinkommen von Paris auszumerzen, wird durch die Förderung der Gaswirtschaft ein klimapolitischer Kurs eingeschlagen, der sogar noch die eigenen (ungenügenden) Ziele verfehlt. Und die liefen bereits auf eine rund drei Grad wärmere Welt hinaus, was schwerste Katastrophen nach sich zöge.

Bemißt man die EU-Kommission nicht an ihren Worten, sondern Taten, so bevorzugt sie eine wirtschaftsfreundliche, der Gasindustrie zugute kommende Politik, die darauf hinauslaufen wird, verstärkt extrem klimaschädliches Flüssiggas aus den USA zu kaufen. Es läßt sich vermuten, daß die EU in einigen Jahren, wenn sie "plötzlich" erkannt hat, daß mit dem Umstieg auf Erdgas die Klimaschutzziele nicht einzuhalten sind, ein weiteres Geschäftsfeld eröffnet, um die Schäden zu beheben. So könnte sie Geoengineering betreiben, indem sie der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid wieder entzieht, der zuvor unter anderem durch die Gaswirtschaft emittiert worden war. Das geschieht entweder durch Aufforstungsmaßnahmen - wobei hier verschiedene Verfahren durchgespielt werden, die unter anderem darauf hinauslaufen, Biomasse herzustellen, zu verbrennen und anschließend die Kohlenstoffdioxidemissionen abzufangen und zu verflüssigen, oder durch direkte technische Verfahren des Kohlenstoffeinfangens. Beides brächte erneut die Gaswirtschaft ins Spiel, könnten doch ausgeschöpfte Erdgasfelder nunmehr in die andere Richtung genutzt und mit jenem Kohlenstoffdioxid befüllt werden, das zuvor emittiert worden war. Entsprechende Versuche führt Norwegen in der Nordsee durch.

Kapitalismuskompatible Lösungen sind das Mittel der Wahl der EU-Kommission, und sollten in der Zwischenzeit ein paar Millionen Menschen ihre Heimat verlieren, weil sich dort wie in Syrien, der Sahelzone und Mittelamerika Dürren ausbreiten, so hat man ja die Grenzschutzagentur Frontex, die zur Zeit mit immer mehr Kompetenzen, die bis dahin den Nationalstaaten vorbehalten waren, ausgestattet und zu einem immer wichtigeren Bestandteil im System der Flüchtlingsabwehr wird.

Die erdgasfreundliche Politik der EU-Kommission läuft nicht auf eine Welt hinaus, in der Menschen keinen Anlaß haben, aufgrund des Klimawandels ihre Heimat zu verlassen, sondern umgekehrt auf eine Welt, in der die Notlagen und die damit einhergehenden Konflikte wachsen.


Fußnoten:

[1] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0146.html

[2] https://www.foodandwatereurope.org/protecting-our-water/why-ban-fracking/pci-consultation/

27. Mai 2019


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