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KLIMA/699: Globale Erwärmung - Scheingewinne ... (SB)



Die Nordostpassage entlang der nordsibirischen Küste wird in den nächsten Jahren häufiger im Sommer eisfrei sein und deshalb von der Handelsschiffahrt intensiver genutzt werden. Zugleich bereitet sich die russische Regierung darauf vor, in der Arktis noch mehr Erdgas und Erdöl zu fördern als bisher. Rußland stehen zwar Probleme durch die globale Erwärmung ins Haus - beispielsweise aufgrund des auftauenden Permafrosts -, aber sieht sich als Gewinner des Klimawandels. Das geht unmißverständlich aus der Themenauswahl hervor, die auf dem 5. Internationalen Arktisforum vom 9. bis 10. April 2019 in St. Petersburg behandelt wurden. [1]

Solche Vorteilserwägungen, nach denen die Arktis zugänglicher wird und besser ausgebeutet werden kann - vor allem hinsichtlich fossiler Energieträger -, wirken angesichts des hohen Risikos kurzsichtig. Denn spätestens wenn der Meeresspiegel im Laufe dieses und des nächsten Jahrhunderts Meter für Meter steigt, der Lebensraum von zig Millionen Menschen verlorengeht, werden heftige Konflikte um Land und Ressourcen ausbrechen. Die werden vor der russischen Grenze nicht haltmachen, um es vorsichtig zu formulieren. Im Gegenteil: Der auffällige NATO-Aufmarsch in West-, Nord- und Südosteuropa entlang der russischen Grenze, die Sanktionen gegen das Land, die Aufkündigung des INF-Vertrags über den Bau und das Aufstellen von Mittelstreckenraketen seitens der USA und auch die vielen Hinweise auf die Feinbildproduktion sowie umgekehrt die Bereitschaft Rußlands, in seiner Peripherie militärisch zu intervenieren, lassen eher früher als später einen größeren Krieg erwarten. Die globale Erwärmung mit ihren verschiedenen Konsequenzen für die Natursysteme wird diese und weitere politische Spannungen in der Welt noch verstärken. Der Gewinn, den Rußland daraus erzielt, daß es fossile Energieträger fördert, deren Verbrennung hauptverantwortlich für die gegenwärtige Erderwärmung ist, könnte sich als Bumerang erweisen.

Rußlands Präsident Wladimir Putin schwärmt, daß im Jahr 2050 rund 30 Prozent aller Kohlenwasserstoffe wie Erdöl und Erdgas in der Arktis gefördert werden und diese Region deshalb wirtschaftlich extrem wichtig ist. [2]

Das sehen die Mitgliedsländer des Arktischen Rats - Kanada, USA, Norwegen, Dänemark, Island, Finnland und Schweden - durchaus ähnlich. Die Europäische Union beispielsweise umkleidet ihre wirtschaftlichen Erschließungsinteressen in der Arktis - Stichwort Blue Growth - mit wohlfeilen Worten, daß dies für die Umwelt so schonend wie möglich geschehen soll, aber auf "Entwicklung" will auch sie nicht verzichten. [3]

Die US-Regierung unter Donald Trump wiederum hat ein Moratorium seines Vorgängers Obama zur Förderung von Erdöl und Erdgas an der Nordküste Alaskas aufgehoben. Auch wenn Shell und andere Ölgesellschaften gar nicht so erpicht darauf sind, in dieses Risikogeschäft einzusteigen, solange Alternativen wie zum Beispiel Fracking auf dem Festland der USA bestehen, bedeutet das nicht das endgültige Aus für Bohrinseln und andere Infrastrukturen der fossilen Energiewirtschaft, die den Arktischen Ozean kontaminieren können.

Eine Zunahme der wirtschaftlichen Aktivitäten in der Arktis bedeutet bildlich gesprochen, daß man nahe am Herzen des globalen Klimas operiert. Denn wenn erst die Meereisfläche rund um den Nordpol sommers verschwindet, was beim gegenwärtigen Trend schon in wenigen Jahrzehnten der Fall sein kann, lädt sich das Meer kräftig mit Wärme auf, nagt an den grönländischen Gletschern, die um so schneller ins Meer gleiten, und könnte die nordsibirische Permafrostküste über weite Strecken zerrütten. Falls es dazu kommt, wird nicht nur eine rege biologische Aktivität einsetzen und das bis dahin im Dauerfrostboden gebundene pflanzliche Material von Bakterien zu Methan und Kohlenstoffdioxid zersetzt werden. Es droht auch die Freisetzung von Methanhydraten im Ostsibirischen Schelf. Wenngleich die Idee von einer plötzlichen Freisetzung des Methans ("Methanbombe") von vielen Forscherinnen und Forschern nicht geteilt wird, bergen beide Effekte zusammen ein Treibhausgaspotential, das die gegenwärtige Geschwindigkeit der globalen Erwärmung zumindest erheblich beschleunigen könnte.

Das wird durch eine Reihe von Studien gewissermaßen angekündigt. Aktuelle Untersuchungen haben gezeigt, daß die Transpolardrift schwächelt. Jedes Jahr lösen sich Eisschollen von ihrer "Kinderstube" an der nordsibirischen Küste und treiben in Richtung Zentrum des Arktischen Ozeans, wo sie sich der Transpolardrift anschließen und eine relativ geschlossene Meereisdecke bilden. Auf dem Weg dahin lösen sich inzwischen 80 Prozent des Meereises auf, im Jahr 2000 dagegen kam noch die Hälfte an.

Schon länger ist bekannt, daß die Zeit, an der die nordsibirische Küste im Sommer eisfrei ist, früher im Jahr einsetzt und später endet. Jenes Eis jedoch bildete ein natürliches Bollwerk gegen Wind und Wellen. Die greifen im Jahresverlauf immer länger die Küste an und beschleunigen die Erosion. Dadurch wird unter anderem Methan freigesetzt, das auf einen Zeitraum von zwanzig Jahren gerechnet das bis zu 87fache Treibhausgaspotential von Kohlenstoffdioxid hat.

Die Meereisfläche der Arktis ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch geschrumpft. Mehr noch, wie erst kürzlich noch einmal wissenschaftliche bestätigt wurde, wächst der Anteil des dünnen, einjährigen Meereises an, wohingegen das dickere, mehrjährige Meereis verschwindet. Diese Entwicklung läuft unter anderem darauf hinaus, daß die Handelsschiffahrt zunehmend weniger auf Eisbrecher angewiesen sein wird, die eine Fahrrinne durch das Eis freihalten. Nimmt aber der Seeverkehr zu, wird das auf Dauer ein nicht zu unterschätzender Faktor dabei sein, der das Meereis zerkleinert und noch anfälliger für klimatische Einflüsse macht.

Um zehn Tage verkürzt sich der Schiffahrtsweg von West nach Ost entlang der Nordostpassage gegenüber dem bisher üblichen Weg durch den Suezkanal. Die Strecke von Westeuropa nach Japan und den Fernen Osten über den Arktischen Ozean verkürzt sich um die Hälfte. Ebenfalls verkürzt sich voraussichtlich die Hochphase der menschlichen Zivilisation, sollte das wirtschaftliche Verwertungsmodell Rußlands und seiner Konkurrenten in der internationalen Gemeinschaft ungebremst auf die Erschließung der Arktis angewendet werden. Was in der Arktis geschieht, ist brandgefährlich für das gesamte Leben auf dem Planeten Erde.


Fußnoten:

[1] https://forumarctica.ru/en/programme/business-programme/

[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/forum-zur-zukunft-der-arktis-die-grosse-sorge-um-das.1008.de.html?dram:article_id=445763

[3] https://ec.europa.eu/maritimeaffairs/sites/maritimeaffairs/files/2018-09-17-1st-arctic-stakeholder-conference-report_en.pdf

9. April 2019


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