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KLIMA/614: Der Schatten des Anthropozäns (SB)


Klimawandel - australischer Ethiker fragt nach den Gründen der Ignoranz


Wir stehen am Rande des Abgrunds, aber schauen weg, behauptet der australische Philosoph und Ethiker Prof. Clive Hamilton in der britischen Zeitung "The Guardian". [1] Die besten Wissenschaftler erklärten immer wieder, daß sich ein Unglück anbahnt, die lebenserhaltenden Systeme der Erde zerstört werden und unser Überleben gefährdet ist. Aber unverdrossen planten die Menschen ihre Zukunft, als gebe es die Klimaforschung nicht. Als besonders verheerend erweise sich der Mangel an Empfinden für die Tragödie. Nach 200.000 Jahren der modernen Menschheitsgeschichte auf einer 4,5 Milliarden Jahre alten Erde sei ein neuer Punkt in der Geschichte erreicht, das Anthropozän.


Beim Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Clive Hamilton [2]
Foto: © 2014 by Schattenblick

Hamilton lehrt allgemeine Ethik am Zentrum für angewandte Philosophie und Ethik (CAPPE) in Melbourne und ist Professor für Public Ethics an der Charles Sturt Universität. Er publiziert regelmäßig zu ethischen Fragen insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Der "Guardian"-Artikel ist ein bearbeiteter Auszug aus dem für Juni angekündigten Buch "Defiant Earth: The fate of humans in the Anthropocene" (Aufmüpfige Erde: Das Schicksal der Menschen im Anthropozän).

Wie kann es sein, fragt Hamilton, daß der Mensch zwar in der Lage ist, mittels seiner Treibhausgasemissionen beispielsweise die nächste Eiszeit, die eigentlich in 50.000 Jahren zu erwarten wäre, aufzuschieben und die übernächste noch dazu, er aber anscheinend unfähig ist, eine angemessene Antwort auf die Probleme zu geben, die das Anthropozän mit sich bringt? Wie läßt sich das schlimme Versagen des heutigen Denkens, mit dem zurechtzukommen, was uns bevorsteht, begreifen? Hamilton faßt den Versuch einer Antwort in ein Bild: Einige Jahre nach dem Abwurf der Atombombe über Nagasaki habe der Autor Kazuo Ishiguro einen Roman über dessen Bewohner geschrieben. In diesem Roman werde die Bombe mit keinem Wort erwähnt, und doch falle ihr Schatten über jeden von ihnen. Ebenso lege sich der Schatten des Anthropozän über uns, so Hamilton.

Ohne den Anspruch zu erheben, hier eine Aussage zu dem gesamten Buch abgeben zu können, fällt auf, daß Hamilton zwar die Lage beschreibt, in der sich die Menschen befinden, aber faktisch nicht auf deren unterschiedliche Interessen eingeht. Das gilt auch für das Vorwort selbst, auf dessen Grundlage der Artikel verfaßt wurde. [3] Allein durch die häufige Verwendung von Begriffen wie "wir", "uns" und "Menschheit" unterstellt er eine Gemeinsamkeit, die sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen, denen sich ein Großteil der hungernden, verarmten oder auf andere Weise notleidenden Bevölkerung ausgesetzt sieht, nicht in Einklang bringen läßt. Während sich beispielsweise ein Donald Trump, wenn er an den Klimawandel denkt, womöglich um den Erhalt seiner Golfplätze sorgt, sorgt sich ein Bewohner der Sahelzone um sein unmittelbares Überleben und das seiner Familie. Den Verlust eines Golfplatzes aufgrund der Klimaveränderung könnte Trump vermutlich einigermaßen verschmerzen, wohingegen das Leben der Sahelbewohner selbst existenzgefährdend betroffen wäre, sollte der Regen Jahr für Jahr ausbleiben.

Wenn "wir", "uns" und "Menschheit" Begriffe wären, die ihren Anspruch erfüllten, müßte es da überhaupt noch internationale Klimaschutzverhandlungen geben? Was wird denn da ausgehandelt? Anders gefragt: Wenn es ein gemeinsames Interesse aller Menschen gäbe, warum mußten dann die flachen Inselstaaten bei den Klimakonferenzen darum kämpfen, daß die Industrie- und Schwellenländer ihre Treibhausgasemissionen drastisch zurückfahren, so daß die globale Durchschnittstemperatur um nicht mehr als 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau steigt? Denn laut der Wissenschaft besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß bereits die im Abkommen von Paris beschlossene Einhaltung der 2-Grad-Grenze verheerende Folgen für Teile der Menschheit nach sich zöge.

Warum werden bei solchen Konferenzen viele Lippenbekenntnisse abgegeben, deren Einhaltung allem Anschein nach nie beabsichtigt war? Warum sieht die Bundesregierung den Klimawandel auch als Chance, wenn es doch angeblich darum geht, Menschenleben heute und in Zukunft zu retten?

Die internationalen Klimaverhandlungen erwecken nicht den Eindruck, als zögen alle Nationen an einem Strang, sondern seien eher damit befaßt, Vorteilspositionen zu erringen. Die Kette des Konkurrierens trägt sich durch: Die gesellschaftlichen Bedingungen innerhalb einer Nation erwecken ebenfalls nicht den Eindruck, als kämen sie allen Mitgliedern auf gleiche Weise entgegen. Um eine von zahlreichen Konsequenzen davon zu nennen: Die Einkommensschere innerhalb Deutschlands klafft von Jahr zu Jahr weiter auseinander.

Indem Hamilton konstatiert, daß die Menschheit am Abgrund steht, aber dies nicht sehen will, ignoriert er die Interessenkonflikte der Menschen auf zwischenstaatlicher, innerstaatlicher und noch tieferer Ebene, kurzum, er berücksichtigt offenbar nicht die Relevanz des Sozialkampfs. Wenn die Aussage, daß der Mensch des Menschen Feind ist, auch nur ansatzweise zutrifft, dann dürfte Hamilton in der Konsequenz die Gemeinsamkeit unterstellende Begriffe "wir", "uns" und "Menschheit" nicht mehr in dem Sinne verwenden, wie er es tut.

Politische Entscheidungsträger wie Trump handeln nicht irrational, wenn sie den Klimawandel ignorieren, sondern sie nehmen für sich genauso in Anspruch, einer Ratio zu folgen, wie andere Menschen auch. Die Ratio richtet sich allerdings stets nach dem Interesse, nicht umgekehrt. Wenn man unbedingt eine Gemeinsamkeit der Menschen benennen möchte, dann wäre es die Unvereinbarkeit ihrer Interessen. Um das Bild Hamiltons aufzugreifen: Die Menschheit steht am Rande des Abgrunds, doch solange jemand seine Manöver so gestaltet, daß der Nachbar zuerst hinunterfällt, kann er dem Eindruck unterliegen, davonzukommen.


Fußnoten:

[1] https://www.theguardian.com/environment/2017/may/05/the-great-climate-silence-we-are-on-the-edge-of-the-abyss-but-we-ignore-it

[2] Ein Schattenblick-Interview mit Clive Hamilton auf der Climate Engineering Conference 2014: Critical Global Discussions in Berlin finden Sie hier: http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0153.html

[3] https://de.scribd.com/document/342035565/Defiant-Earth-The-fate-of-humans-in-the-Anthropocene-by-Clive-Hamilton-Extract

8. Mai 2017


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