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KLIMA/332: Neue Studie - raschere Erwärmung der Ozeane festgestellt (SB)


Neuberechnung des vergangenen Meeresspiegelanstiegs

Ozeane haben sich rascher erwärmt als angenommen


Eines der schwierigsten Kapitel innerhalb der Klimaforschung betrifft die Bestimmung von Schwellenwerten. Aus der Naturbeobachtung ist bekannt, daß ein System plötzlich eine extreme Dynamik entfalten kann und es sich so lange weiter verändert, bis ein neuer stabiler Zustand erreicht ist. Wobei das System weder vor noch nach der Veränderung als absolut stabil bezeichnet werden kann - andernfalls hätte gar keine Veränderung eintreten können. Der Klassiker unter den viel diskutierten Schwellenwerten in der Forschung ist die Frage, ab welcher globalen Durchschnittstemperatur die arktischen Eismassen anfangen, unaufhaltsam abzutauen.

Soweit sich das rekonstruieren läßt, hat es erdgeschichtliche Warmphasen gegeben, in denen die Arktis vollständig, mindestens aber größtenteils eisfrei war. Genauso wie umgekehrt während der Eiszeiten weite Gebiete der Erde von Gletschern und Schnee bedeckt waren. Das Problem bei der Bestimmung von Grenzwerten: In fast allen Fällen weiß man erst hinterher, nachdem solch ein dynamischer Prozeß in Gang gesetzt wurde, daß es an einer bestimmten Stelle einen Schwellenwert gibt und dieser überschritten wurde.

Vor diesem Hintergrund ist eine diese Woche in "Nature" [1] veröffentlichte Studie von australischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern bemerkenswert. Ihnen zufolge haben sich die Weltmeere in den letzten vier Jahrzehnten um 50 Prozent stärker erwärmt, als es der UN-Klimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) in seinen im vergangenen Jahr veröffentlichten Abschlußbericht angenommen hat.

Die Forschergruppe um Dr. Catia Domingues vom Centre for Australian Weather and Climate Research hat zig Millionen Temperaturmeßdaten, die seit 1950 bis zu einer Meerestiefe von 700 Metern erfaßt wurden, von neuem ausgewertet und diese Angaben mit Prognosen aus Klimasimulationen abgeglichen. Demnach ist der globale Meeresspiegel allein aufgrund der Wärmeausdehnung seit 1961 um 22 Millimeter gestiegen. Bislang waren Forscher von einem Anstieg um 15 Millimeter ausgegangen. Weitere 20 Millimeter kamen aufgrund der Gletscherschmelze hinzu.

Die australisch-amerikanische Studie deckt sich mit Berechnungen anderer Forscher, die in jüngerer Zeit ebenfalls einen höheren Meeresspiegelanstieg prognostizierten. So berichtete die in Großbritannien arbeitende Hydrologin Svetlana Jevrejeva auf der Jahrestagung der Europäischen Geowissenschaftlichen Union im April in Wien, daß der Meeresspiegel in diesem Jahrhundert voraussichtlich nicht um 18 bis 59 Zentimeter steigen wird, wie der UN-Klimarat im vergangenen Jahr angenommen hat, sondern um 80 bis 150 Zentimeter.

Prof. Mark Meier vom Institut für arktische und alpine Forschung der Universität von Colorado in Boulder und seine Kollegen schrieben im Juli 2007 im Wissenschaftsmagazin "Science", daß das Abschmelzen von Gletschern und Eisflächen bis Ende dieses Jahrhunderts deutlich mehr zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen wird als die Schmelzvorgänge von Antarktis und Grönland. Das hätte in den Prognosen des IPCC keinen ausreichenden Eingang gefunden.

Während Meier und seine Kollegen lediglich um Zentimeter bis Dezimeter "feilschen", warnte eine Forschergruppe um James Hansen aus den USA im selben Monat [2], daß der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um mehrere Meter steigen wird. In den bisherigen Berechnungen seien nicht-lineare beziehungsweise Rückkopplungs-Effekte nur ungenügend berücksichtigt worden.

Auch unter deutschen Wissenschaftlern wurden Stimmen laut, die sagten, daß das Meer höher steigen wird als bislang angenommen. So berichtete Prof. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung im Dezember 2006 laut der Onlineausgabe des Wissenschaftsmagazins "Science", daß im Jahr 2100 der globale Meeresspiegel bis zu 1,40 Meter höher steigen wird als heute. Mit dieser Einschätzung lag Rahmstorf sogar noch über den erst zu einem späteren Zeitpunkt herausgegebenen IPCC-Bericht 2007 und prognostizierte schon damals einen Wert, zu dem auch die oben erwähnte australisch-amerikanische Forschergruppe gelangt ist.

Eine kräftigere Erwärmung der Meere wird eine Vielzahl von direkten und indirekten Folgen nach sich ziehen: Die Ozeane dehnen sich stärker physikalisch aus, sie absorbieren weniger des Treibhausgases Kohlendioxid und setzen weniger Sauerstoff frei. Darüber hinaus kommt es zur Verlagerung von Meeresströmungen und Windsystemen, und es wird ein Rückgang des Meereslebens, insbesondere der permanent von Überfischung bedrohten Nutzarten, eintreten.

All diese Entwicklungen betreffen die menschliche Sphäre unmittelbar. Durch den höheren Meeresspiegel werden flachere Inseln und Küstenabschnitte vom Meer eingenommen; darauf aufgesattelt werden Sturmfluten entlang der großen Flüsse tiefer ins Landesinnere vordringen - ein mahnendes Beispiel ist die jüngste Sturmflut im Irrawaddy-Delta von Myanmar.

Ein Zusammenbruch der gewohnten marinen Nahrungskette bleibt nicht aus. Verantwortlich dafür wird erstens die Zunahme sauerstoffarmer, sogenannter toter Zonen sein und zweitens die Entkalzifizierung von Lebewesen - angefangen von pflanzlichen Einzellern bis hin zu Muscheln und Korallen - aufgrund des höheren Säuregehalts der CO2-gesättigten Meere. Dadurch wird die Nahrungsversorgung vieler Menschen, die auf Fischfang angewiesen sind, massiv beeinträchtigt.

Falls die Erwärmung der Ozeane zu einem nicht-linearen Vorgang führt, läge dafür der Zeitpunkt logischerweise näher, nachdem die Neuberechnung einen schnelleren Meeresspiegelanstieg ergeben hat. Unter Forschern wird darüber diskutiert, ob nicht in wärmeren Ozeanen die am Meeresgrund lagernden Methanhydrate freigesetzt werden. In dem Fall gelangten schlagartig große Mengen des hochwirksamen Treibhausgases Methan in die Atmosphäre, was eine Erwärmung der Erde und folglich weitere Methanhydrat-Freisetzungen nach sich ziehen könnte.

Vorstellbar ist nach Ansicht von Wissenschaftlern auch, daß das photosynthese-betreibende Plankton, das laufend Wasser aufspaltet und dadurch Sauerstoff freisetzt, in wärmeren, saureren Ozeanen abstirbt. Das hätte verheerende globale Auswirkungen, bilden doch Ozeane eine wichtige Quelle für atmosphärischen Sauerstoff. Ohne die laufenden Zufuhr aus dem Meer würde dessen Anteil rasch sinken.

Niemand vermag mit Bestimmtheit zu sagen, ob und wann die Erwärmung der Meere einen Schwellenwert erreicht, bei dem eine globale Dynamik in Gang gesetzt wird. Als gesichert sollte jedoch angenommen werden, daß das mit weitreichenden, negativen Konsequenzen für die Menschheit verbunden wäre.

Anmerkungen:

[1] Domingues, C.M. et al.: Improved estimates of upper-ocean warming and multi-decadal sea-level rise. In: Nature 453, S. 1090-1094, 2008.

[2] "Philosophical Transactions of The Royal Society A" (Vol. 365, Nr. 1856, 15. Juli 2007)

20. Juni 2008