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ATOM/428: Rückbau des Nuklearkomplexes Sellafield verschlingt Unsummen (SB)


Erblast Sellafield oder warum die Bezeichnung "nukleare Kettenreaktion" eine zusätzliche Bedeutung verdient



Es bedürfte eigentlich nicht des Blicks über die Grenze zum Vereinigten Königreich, um festzustellen, daß die Technologie der Uranverbrennung in Atomkraftwerken nicht nur umwelt- und gesundheitsschädlich ist, sondern auch gewaltige Kosten verursacht. Das zeigen die vielen Unfälle bzw. Ereignisse in der deutschen Nuklearindustrie und das totale Scheitern einer sicheren Verbringung auch nur für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im ehemaligen Salzbergwerk Asse, aus dem nun weit über 100.000 Fässer aus der Hinterlassenschaft der Nuklearwirtschaft geborgen werden sollen. Für hochradioaktive Abfälle dagegen existiert nicht einmal ein plausibles Entsorgungskonzept.

Würde man der hierzulande häufig kolportierten Behauptung Glauben schenken, daß deutsche Atomkraftwerke zu den sichersten der Welt zählen, dann bestätigen die vielen, vielen Vorfälle auf der gesamten Strecke der nuklearen Infrastruktur, daß die Technologie unbeherrschbar ist. Das ist nicht ungewöhnlich und wäre vielleicht gar nicht so problematisch, wenn deswegen nicht zahllose Menschen gefährdet wären.

Nun hört man aus der britischen Nuklearindustrie das gleiche: Unsere Atomkraftwerke sind sicher, sie zählen zu den besten der Welt. Keine anderen Töne werden in den Ländern angeschlagen, die erst noch vorhaben, Akws zu bauen. Es gibt keinen Staat, der behaupten würde, seine Akws seien unsicher und gefährlich. Es sei denn, die Steuerzahler sollen Gelder für den Rückbau der verstrahlten Anlagen freisetzen. In dem Fall wird selbstverständlich gern auf die potentiellen Gefahren hingewiesen.

Beispielsweise für den Nuklearkomplex Sellafield, einem unfallträchtigen Dauerbrenner seit den Anfängen der kommerziellen Atomenergieproduktion. 1957, als diese Nuklearanlage in der Grafschaft Cumbria im Nordwesten Englands noch Windscale hieß, kam es in einem Kernreaktor zu einem schweren Brand, durch den radioaktive Partikel freigesetzt wurden, die über den britischen Inseln und dem europäischen Festland niedergingen. Noch heute strahlt der havarierte Bereich auf dem Betriebsgelände von Sellafield vor sich hin.

Bei diesem Unfall blieb es nicht. 1981, nach einer jahrzehntelangen Serie von "Pannen" - eine Bezeichnung, die von der systemischen Anfälligkeit der Atomenergienutzung ablenkt -, genoß Windscale einen so schlechten Ruf, daß die Anlage in Sellafield umbenannt wurde. Heute könnte man sie wieder Windscale nennen, denn die Erinnerung an die Anfangszeit der Plutoniumproduktion und ihres Nebeneffekts, der Generierung elektrischen Stroms für den zivilen Gebrauch, verblaßt; wohingegen Sellafield mittlerweile ein Renomee genießt wie einst Windscale.

Zu einer Umbenennung wird es aber wohl nicht mehr kommen. Denn der Nuklearkomplex wird "zurückgebaut", wie die Aufwände, um das hochgefährliche Strahlenmaterial in handliche Teile zu zerlegen und von A nach B zu fahren, nur um es irgendwann von B nach C zu verlagern, weil A und B inzwischen zu verstrahlt sind, euphemistisch umschrieben werden.

Nach rund sechs Jahren, in denen das private Konsortium Nuclear Management Partners (NMP) angefangen hat, die gefährlichen Hinterlassenschaften der Nuklearindustrie aufzuräumen, wird diese Aufgabe zukünftig wieder vom Staat erledigt, wie Fred Pearce im Wissenschaftsmagazin "New Scientist" berichtet. [1]

Trotz wachsender Sicherheitsbefürchtungen werde sich die dringende Beseitigung zwei der weltweit gefährlichsten radioaktiven Abfallsammellager um mindestens fünf Jahre verzögern, so der bekannte britische Umweltjournalist und Autor. In der vergangenen Woche ist die britische Regierung der Empfehlung ihrer Nuclear Decommissioning Authority (NDA) gefolgt und hat die Kontrolle über die mit den Aufräumarbeiten beauftragte Sellafield Ltd. von der NMP übernommen. Der Privatsektor wird fortan die Funktion eines strategischen Partners erfüllen.

Vier größere Sammelbecken und Silos stehen ganz oben auf der Prioritätenliste und müssen schnellstens entschärft werden. Sie enthalten Hunderte Tonnen an hochradioaktivem Material aus sechzig Jahren Nuklearenergieproduktion, das Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt gekühlt werden muß. Anscheinend weisen diese Provisorien zur Aufbewahrung des Atommülls inzwischen Risse auf, so daß radioaktive Schlämme ins Erdreich eindringen. Laut Pearce besteht darüber hinaus das Risiko, daß sich Wasserstoff bildet, der hochexplosiv ist.

Die Sicherung eines hundert Meter großen Sammelbeckens für jahrzehntealten Strahlenmüll, dessen genaue Zusammensetzung die Experten erst noch ermitteln müssen, sollte den Regierungsplänen zufolge 2025 fertig sein; es wird aber wohl eine Verzögerung von mindestens fünf Jahren geben. Und ein 21 Meter hoher Siloturm, der seit 1964 mit Strahlenflüssigkeit gefüllt ist, wird absehbar nicht 2024, sondern erst 2029 dekontaminiert sein. Allein für die Beseitigung dieses Silos werden Kosten von umgerechnet fast einer Milliarde Euro veranschlagt.

Die Regierung gibt jährlich 2,4 Mrd. Euro für Sellafield aus. [2] Die Aufräumarbeiten sollen erst im Jahr 2120 abgeschlossen sein, was auch mit dem Konzept zu tun hat, abzuwarten, bis die Strahlung eines Teils des radioaktiven Abfalls auf natürliche Weise abgeklungen ist und dann leichter gehandhabt werden kann. Ein Nachteil dieser Methode besteht darin, daß sich im Laufe der Zeit natürlich auch Lager und Behältnisse, die den Strahlenmüll vom Austritt in die Umwelt abhalten sollen, aufgrund der strukturellen Belastung durch den radioaktiven Zerfall zersetzen. Ein zweiter Nachteil: In hundert Jahren weiß kein Mensch mehr, was die Atommüllbecken enthalten. Ein dritter Nachteil: Die Kosten der Dekontamination werden nachfolgenden Generationen aufgedrückt.

Aber egal, ob das strahlende Erbe sofort beseitigt wird oder erst in hundert Jahren. Wie weiter oben beschrieben, kann man den Strahlenmüll von A nach B bringen, irgendwann wird man auch B aufgeben müssen und einen Standort C einrichten. Der nukleare Abfall enthält Substanzen wie Plutonium, die nicht zu bändigen sind und noch einen so langen Zeitraum strahlen werden wie von der Jungsteinzeit bis heute.

Übrigens errichtet das Vereinigte Königreich neue Atomkraftwerke, so daß die Menge an radioaktivem Abfall auch langfristig nicht weniger, sondern mehr wird. Somit könnte man der Bezeichnung "nukleare Kettenreaktion" eine weitere Bedeutung verleihen, nämlich als fortgesetzte Verkettung und Reaktion auf Bedingungen und Umstände, von denen fraglich ist, ob man ihrer zu jeder Zeit Herr ist.


Fußnoten:

[1] http://www.newscientist.com/article/mg22530053.800-shocking-state-of-worlds-riskiest-nuclear-waste-site.html#.VMD8JM2G-Y3

[2] http://www.nda.gov.uk/publication/new-management-arrangements-for-sellafield-stakeholder-briefing/?download

22. Januar 2015