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LAIRE/333: Hochwahrscheinlich ... (SB)



Landesweite Überflutungen in Pakistan, wütende Waldbrände in Kalifornien und zeitgleiche Dürren in Afrika, China und Europa in diesem Sommer liefern drastische Bilder vom planetaren Klimanotstand. Der tritt augenscheinlich nicht erst morgen ein, sondern wurde längst eingeleitet und bricht sich nun vielerorts Bahn.

Gewarnt wurde genug vor dieser Entwicklung. Nicht einmal die nationalen Zusagen zur Reduzierung von Treibhausgasen im 2015 beschlossenen Klimaabkommen von Paris würden reichen, um die Erde aus dem Klimanotstand herauszuführen. Was als "historisches" Abkommen gefeiert und mit gegenseitigem Schulterklopfen der Verhandlungsparteien quittiert worden war, hat den Trend in Richtung unumkehrbare Klimakrise weiter befestigt. Dem noch nicht genug, liegen die tatsächlich emittierten Treibhausgase weit über den aufgehübschten Zahlen der Absichtserklärungen.

Anstatt dass die Staatengemeinschaft alles dafür tut, dass der in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen berechnete und in seinen desaströsen Konsequenzen beschriebene Klimawandel niemals eintritt oder wenigstens entschieden abgemildert wird, werden die Menschen, die davon unmittelbar betroffen sind, ausgegrenzt.

Zu der Gemengelage, weswegen Menschen aus den Ländern des Südens in den klimatisch vorteilhafteren Norden flüchten wollen, gehören auch die regionalen Folgen der globalen Erwärmung, zum Beispiel Dürren in Syrien, Irak, der Sahelzone und Ostafrika. Doch die Europäische Union schottet sich ab. Im "Burggraben" Mittelmeer sind seit 2014 laut Statista mehr als 24.000 Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich darüber liegen.


Blick aus dem Hubschrauberfenster auf eine überschwemmte Landschaft, aus der Häuser und Bäume herausragen - Foto: Ali Hyder Junejo, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/, via Flickr

Überschwemmungen in der Provinz Sindh, Pakistan. Foto: Ali Hyder Junejo, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/, via Flickr

Wie eine Monstranz trägt Deutschland den Anspruch vor sich her, eine besonders klimafreundliche Politik zu betreiben. Doch monströs erscheint die Praxis. Kürzlich wurden laut dem Bayerischen Flüchtlingsrat rund 30 Personen, die vergeblich in Deutschland um Asyl gebeten hatten, nach Pakistan ausgeflogen. Ausgerechnet Pakistan! Nach den schwersten Monsunregenfällen seit Jahrzehnten ist ein Drittel des Landes überschwemmt. Das Auswärtige Amt behauptet, Deutschland helfe und zeige sich mit Pakistan "solidarisch". Das gilt offenkundig nicht für die Menschen, die dorthin zurückgebracht wurden. Einige können nicht mal in ihre Dörfer zurück - denn diese existieren gar nicht mehr. Sieht so Solidarität in Zeiten des Klimawandels aus?

Die Menschenrechtsorganisation Oxfam berichtete (16. September 2022), dass sich die Zahl der unter akutem Hunger leidenden Menschen in den Ländern Somalia, Haiti, Djibouti, Kenia, Niger, Afghanistan, Guatemala, Madagaskar, Burkina Faso und Zimbabwe, die in den letzten Jahren besonders schwer von Naturkatastrophen heimgesucht worden waren, binnen fünf Jahren auf nunmehr 48 Millionen verdoppelt hat. 18 Millionen von ihnen drohten zu verhungern. Wie war das noch mit der Solidarität?

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, dem kein eigenes Budget zugestanden wird und die Geberländer Jahr für Jahr um Spenden bitten muss, erreicht immer nur einen Bruchteil der weltweit Hungernden und muss im Zweifelsfall schon mal die Rationen kürzen. Ein weiteres Beispiel für angewandte Solidarität in Zeiten des Klimawandels ...

Wen berührt das? Einmal in den Medienzirkus eingespeist, werden solche Meldungen am nächsten Tag durch andere ersetzt. Die Politik verwaltet die Klimawandelfolgen nur noch. Auch keine der im Bundestag vertretenen Parteien verfolgt Klimaschutz mit der Konsequenz, wie sie die aktuelle Lage erforderlich macht, damit Menschen nicht in großer Zahl zu Schaden kommen. Eine der Oppositionsparteien hat sich von vornherein zu alternativen Fakten bekannt; von ihr wäre überhaupt kein Klimaschutz und damit kein Schutz für die Menschen in den Klimanotstandsgebieten zu erwarten. Andere, wie die Grünen, waren einst als Umweltpartei angetreten, um an den Schalthebeln der Macht etwas zu bewirken, und das tun sie jetzt auch, wenngleich anders, als ursprünglich angekündigt. Die Grünen bilden die neue gesellschaftliche Mitte.

Von einer Bewegung, die gesellschaftliche Teilhabe anstrebt, waren natürlich nichts anderes als gesellschaftliche Konsequenzen zu erwarten. Aber wie geschmeidig die Standpunkte gewechselt werden, ist dann doch bemerkenswert. Inzwischen befürworten die Grünen eine verstärkte Erdölförderung im Wattenmeer, den Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken, zögern den Ausstieg aus der Kernenergie hinaus und sind für die Kohlenstoffabscheidung und -lagerung (CCS) in der Nordsee - obgleich das Abfangen und Verflüssigen von Kohlenstoffdioxid beispielsweise aus Zementfabriken beim gegenwärtigen Strommix eine Menge Treibhausgase erzeugt. Eigentlich sollten sie durch dieses Verfahren eingespart werden. Außerdem ist es unsicher, ob ein in den Nordseeboden gepresstes CO2 langfristig dort bleibt. Zusätzlich zu den natürlichen "Klimabomben" von Gashydraten und Permafrostböden würde der Mensch mit CCS weitere, künstliche Klimabomben im Boden positionieren.

Vielleicht hat ja der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck den von ihm wiederholt bemühten Nationalökonomen Joseph Schumpeter (1883-1950) und dessen breit rezipierte Idee von der "schöpferischen Zerstörung" als Innovationsmotor der Gesellschaft so verstanden, dass er Feuer mit Benzin bekämpft. Denn Habeck lässt anstelle des russischen Pipeline-Erdgases nun Flüssiggas (LNG) über den Atlantik schippern, um die Gasversorgung von Industrie und Haushalten hierzulande sicherzustellen. Das Problem dabei: Das Erdklima lässt sich nicht schumpetern. Beschummeln und sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuspielen können nur Menschen untereinander. Das Verbrennen fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl oder Erdgas erzeugt Kohlenstoffdioxid als Abgas, und das trägt zum Treibhauseffekt bei. Bei Produktion, Transport und Regasifizierung von LNG, das beispielsweise nach der Fracking-Methode gefördert und aus den USA hierher gebracht werden soll, entstehen laut Umweltbundesamt doppelt so viele Treibhausgase wie durch russisches Pipeline-Erdgas.

Wie gesagt, es ist eine schlechte Idee, russisches Erdgas zu verbrennen. Aber eine noch viel schlechtere Idee ist es, statt dessen verflüssigtes Frackingerdgas zu nehmen. Einen folgenschweren Klimawandel kann man nicht mehr abwenden, aber die Chance, einen Klimawandel, der die menschliche Zivilisation oder gar die menschliche Spezies gefährdet, zu verhindern, liegt "noch bei mindestens 50 Prozent", sagte Hans-Joachim Schellnhuber, Gründer und langjähriger Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), im Gespräch mit Joachim Wille für klimareporter.de (14. September 2022). Das sei "keine schlechte Chance, wenn es um alles geht", sagte der Klimaforscher und er meinte das keineswegs zynisch.

Eine Fifty-fifty-Chance zum Überleben der menschlichen Zivilisation ... aber sicherlich nicht, wenn in Deutschland, Europa und anderen Weltregionen eine Infrastruktur mit Flüssiggas-Terminals aufgebaut wird! Mit diesen Investitionen werden die Treibhausgasemissionen und damit der Klimanotstand auf Jahrzehnte hinaus festgeschrieben. Sollte es in Zeiten der folgenschweren Erderwärmung nicht darum gehen, das Verbrennen sämtlicher fossiler Energieträger unverzüglich zu beenden?

Der Klimanotstand wird zur neuen Normalität, der dadurch entstehende Mangel bloß noch verwaltet. Das heißt, jene gesellschaftlichen Kräfte, die bis heute bestenfalls zögerlich und abwägend die Klimakrise behandelt haben, spielen sich nun als vermeintliche Retterinnen auf.

Gemessen am Anspruch der Regierungen, unverzichtbar für das gedeihliche menschliche Zusammenleben zu sein, herrscht ziemlich viel Krieg in der Welt. Offenbar werden andere Interessen verfolgt. Dazu gehört die Sicherung der eigenen Vormachtstellung innerhalb der Nationenkonkurrenz. Zu diesem Zweck wird dann wahlweise entweder das Existenzrecht eines Staates aberkannt, um ihn im gleichen Atemzug kriegerisch zu überfallen, oder es wird eine regelbasierte Ordnung reklamiert, der sich alle anderen zu unterwerfen haben, andernfalls ihnen Krieg und Vernichtung angedroht wird. Glaubwürdig angedroht wird, muss man ergänzen, denn seit dem zweiten Weltkrieg ist kein Jahrzehnt vergangen, in dem kein neuer Krieg angefangen wurde.

Am Ende laufen die unterschiedlichen Varianten der Herrschaftssicherung auf die gleiche Frage hinaus: Wer verfügt über die größeren Gewaltmittel, um die Beute auf seine Seite zu ziehen? Wer setzt sich durch und darf anschließend die von den Menschen in den eroberten Räumen geleistete Arbeit in Anspruch nehmen? Oder noch einfacher: Wer wird ausgebeutet und wer profitiert davon?

Anstatt mit allen Mitteln die Klimakrise zu bekämpfen, bekriegen sich die Menschen im wachsenden Ausmaß untereinander, und das vor dem Hintergrund, dass ein Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, in nur wenigen Jahren hochwahrscheinlich werden könnte. Zunächst einmal mehr Treibhausgase emittieren, um sie später, wenn der politische Gegner besiegt ist, zu verringern, funktioniert nicht.


Autobahn A9 vor einer Baustelle mit einem Schild zur Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 Stundenkilometer - Foto: DF08, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Bundesregierung gibt erst einmal so richtig Gas, nach dem Motto:
Bremsen können wir ja später immer noch ...
Foto: DF08, Public domain, via Wikimedia Commons

19. September 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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