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LAIRE/271: Klimakrise - soziale Krise (SB)


Wie die Flut im Wattenmeer ...


Wenn in der Klimawissenschaft von regionalen Kippelementen die Rede ist, bei deren Überschreiten unaufhaltsame Entwicklungen mit weitreichenden globalen Folgen in Gang gesetzt werden, dann kann das leicht zu einer Fehleinschätzung der Bedeutung weniger spektakulärer Vorgänge führen. Der Blick auf die ganz großen Ereignisse lenkt von den kleineren ab, deren Folgen vielleicht nicht so drastisch ausfallen wie beispielsweise das Versiegen des Golfstroms, das Abschmelzen des grönländischen Eispanzers oder der Verlust des Amazonas-Regenwalds. Die kleineren klimatischen Vorgänge sind jedoch wie die Flut im Wattenmeer: Das Wasser brandet nicht vom Meer kommend an, sondern steigt allmählich auf allen Seiten höher, und ehe man sich's versieht, ist die Flut plötzlich da.

Zu den kleineren - wenngleich nicht harmlosen - Ereignissen könnte man die Dürre in der Sahelzone zählen, die dazu beigetragen hat, daß über 20 Millionen Menschen akuter Nahrungsnot ausgesetzt sind, oder das Abbrechen eines riesigen Stücks vom westantarktischen Eisschelf. Ebenso könnte man dazu die anhaltende Rodung von Wäldern in Südamerika und Südostasien für den Plantagenanbau rechnen sowie die aktuellen Rekordwaldbrände in der kanadischen Provinz British-Columbia.

Nicht nur, daß der Verlust an kanadischem Wald immer damit verbunden ist, daß hier zusätzlich das Treibhausgas Kohlendioxid in die Atmosphäre emittiert wird, sondern es geht auch eine Quelle zur Freisetzung des lebenswichtigen Sauerstoffs verloren. Zudem legt sich der Ruß der Waldbrände auf die Schnee- und Eisflächen Nordamerikas und Grönlands, senkt deren Albedo (Rückstrahlung) und beschleunigt die Schmelzprozesse. Im Amazonas-Becken können Soja-, Palmen- und andere Plantagen dem Tropischen Regenwald nicht das Wasser reichen. Dessen gewaltige Blattoberfläche sorgt stets dafür, daß es regnet, und das noch vor Beginn der eigentlichen Regenzeit. Die Monokulturlandwirtschaft dagegen, in der hauptsächlich Viehfutter und pflanzlicher Treibstoff erzeugt wird, wird irgendwann auf Bewässerungswirtschaft angewiesen sein.

Über die Trockenheit in der Sahelzone wiederum läßt sich streiten, ob und inwieweit sie menschenverursacht ist. Unstrittig dürfte allerdings sein, daß sich zu der Klimakrise noch eine soziale Krise dazugesellt, und die ist älter als der Begriff "Klimawandel".

Wenn einige Menschen nichts zu essen haben, andere hingegen Hunger nur vom Fernsehen her kennen, dann zeigt sich hieran der fundamentale Widerspruch der Eigentum generierenden und legitimierenden Gesellschaft. Eigentum bedeutet, daß zum Beispiel jemand drei Häuser sein eigen nennt, er aber immer nur in einem zur Zeit wohnen kann. Die wesentliche Funktion von Eigentum besteht offensichtlich darin, andere Menschen davon abzuhalten, etwas in Gebrauch zu nehmen - in unserem Beispiel die beiden ungenutzten Häuser.

Der sogenannte Klimawandel - eine Chiffre für vielfache Veränderungen dessen, was als "Natursysteme" bezeichnet wird -, nimmt weiter seinen Lauf, doch die Menschen kommen nicht etwa auf die Idee, jene Mangel und Not generierende Eigentumsordnung auf den Prüfstand zu stellen, sondern sie bezeichnen den Klimawandel als "Verstärker" oder "Vervielfacher" der sozialen Konflikte, ohne auf deren Voraussetzung einzugehen. Entsprechend werden seitens Wissenschaft, Politik und allergrößten Teilen der Zivilgesellschaft Antworten auf die Klimakrise vorgeschlagen, denen auffälligerweise eines gemeinsam ist: Die Eigentumsfrage wird vermieden.

Das hat Konsequenzen. Alle Lösungsvorschläge, von welcher gesellschaftlichen Interessengruppe auch immer vorgetragen, in denen die Grundfrage der Vernichtungsgewalt menschlichen Zusammenlebens ausgespart bleibt, laufen absehbar darauf hinaus, daß Menschen auf irgendeine Weise im Stich gelassen werden, ins Hintertreffen geraten und auf der Strecke bleiben. Hierfür stehen die tausendfach vergeblichen, tödlichen Fluchtversuche unter anderem aus Afrika - nicht symbolisch, sondern konkret. Wenn jetzt alle kommen, aus den Palästinensergebieten und aus Afrika, "das können wir auch nicht schaffen", sagte einst Angela Merkel zu einer 14jährigen Palästinenserin, die von Abschiebung bedroht war. Als ob nicht die Bundeskanzlerin und die übrige deutsche Regierung Tag für Tag von neuem mit daran wirken, daß das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle erhalten bleibt, was nicht zuletzt die Funktion hat, deutsche Innenpolitik zu betreiben. Ohne eine solche Not im Rücken könnten doch die Menschen hierzulande ansonsten auf die Idee kommen, ihre eigene Lage und ihre Lohnarbeit für fremdnützige Interessen in Frage zu stellen. Welche Möglichkeiten die Menschen hätten, die sich immer mehr an allen Ecken und Enden des Planeten aufbauende Klimakrise in Angriff zu nehmen, würden sie nicht mit dem Sozialkampf beschäftigt sein, wurde nicht einmal angefangen auszuloten.

21. August 2017


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