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LAIRE/240: Nuklearer Winter - die vernachlässigte Folge eines Atomkriegs (SB)


Selbst ein begrenzter Schlagabtausch zwischen den NATO-Staaten und Rußland mit Kernwaffen löst einen nuklearen Winter aus



In den Strategiezentralen der Vereinigten Staaten ist die Ära des Gleichgewichts des Schreckens seit langem passé. Ein Erstschlag ist machbar geworden - ob tatsächlich oder in der Phantasie seiner von der eigenen Suprematie überzeugten Apologeten spielt keine Rolle. Sobald er ausgeführt wird, könnte ein Effekt eintreten, den die US-Forscher R. P. Turco, O. B. Toon, T. P. Ackerman, J. B. Pollack und C. Sagan in einem "Science"-Artikel [1] von 1983 als "nuklearen Winter" in die öffentliche Debatte über die klimatischen Folgen eines Atomkriegs einbrachten. Das zugrundegelegte Szenario sah einen Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion vor, bei dem Kernwaffen mit einer Zerstörungskraft von mehreren tausend Megatonnen eingesetzt werden.

Man sollte meinen, daß sich in dem Fall sowieso niemand mehr Sorgen um das Klima machen wird, weil dann alles in Schutt und Asche liegt und große Weltregionen verstrahlt werden. Dennoch ist der Klimafaktor nicht zu vernachlässigen, weil er zu all den Zerstörungen noch hinzukommt. Die bei einem Atomkrieg aufgewirbelten Staubwolken und die Rußentwicklung durch zahlreiche Brände in den Städten und Wäldern würden die obere Atmosphäre so sehr mit Partikeln kontaminieren, daß das Sonnenlicht weitgehend abgefangen wird. Und zwar in einem Ausmaß, daß darunter die Erde gefriert und ein dauerhafter Winter Einzug hält.

Gegenwärtig leiden rund 850 Millionen Menschen Hunger - sollte sich der Himmel verdunkeln und die globale Durchschnittstemperatur unter den Gefrierpunkt fallen, würde kaum noch Landwirtschaft betrieben und es träte ein Massensterben unter Menschen, Tieren und Pflanzen ein.

Im Jahr 2007 schrieben Alan Robock, Luke Oman und Georgiy L. Stenchikov im "Journal of Geophysical Research: Atmospheres" [2], daß zwar in den letzten gut zwanzig Jahren das Kernwaffenarsenal stark reduziert worden ist, aber daß mehr Länder als je zuvor über Kernwaffen verfügen, beispielsweise Indien und Pakistan. Würden diese beiden Staaten in einen begrenzten Atomkrieg eintreten, bei dem jeder der Kontrahenten 50 Kernwaffen von der Größe der Hiroshimabombe zündet, hätte das ebenfalls die Auswirkung eines nuklearen Winters für die gesamte Erde. Die früheren Berechnungen, so die Forscher, hätten den Rückstrahlungseffekt der Aerosole in der Stratosphäre unterschätzt. Zugleich wisse man heute, daß die Ozonschicht zerstört wird, wenn die Staubpartikel das Sonnenlicht absorbieren und sich die Stratosphäre aufheizt. Dann würde die gesamte Erde verstärkt von harter UV-Strahlung getroffen, ähnlich wie sie heute durch das Ozonloch der Antarktis bis zur Erdoberfläche vordringt.

Im Unterschied zu der Studie aus den 1980er Jahren gehen die Forscher im Jahr 2007 davon aus, daß der Staub bis zu 40 Kilometer hoch aufgewirbelt wird und damit die Stratosphäre kontaminiert. Was bedeutet, daß sich die Partikel noch oberhalb der Wolkendecke um die Erde legen und somit nicht durch Regen herausgewaschen werden können. Die landwirtschaftliche Produktivität in den USA und China würde die nächsten vier Jahre nach dem begrenzten Atomkrieg um 20 Prozent zurückgehen, nach einem Jahrzehnt noch immer um zehn Prozent.

Vor zwei Jahren bekräftigten Robock und Toon im "Bulletin of the Atomic Scientists" die Auswirkungen des nuklearen Winters und schrieben: "Ein regionaler Konflikt hat das Potential, eine weltweite Hungerkatastrophe aufgrund von Umweltfolgen auszulösen." [3]

Ohne daß damit die Option eines Konflikts zwischen Indien und Pakistan vom Tisch wäre, hat inzwischen wieder das ursprüngliche, noch um vieles gewaltigere Szenario vom nuklearen Winter als Folge eines Kriegs gegen Rußland an Aktualität gewonnen. Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Zerfall der Sowjetunion erhöhen die NATO-Staaten massiv den Druck auf das Land. Begleitet von einem medialen Feuerwerk der Bezichtigung und dem Beschluß der EU, Sanktionen zu verhängen, zieht die NATO ihre eigenen Streitkräfte immer dichter an Rußland heran oder beliefert Staaten wie Georgien und die Ukraine mit Waffen.

Seit dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts nehmen die Ost-West-Spannungen in einer Geschwindigkeit zu, daß der Eindruck entsteht, ein Waffengang mit Rußland sei fester Bestandteil des Kalküls der Militärstrategen in den USA und der Europäischen Union.

Auf Besonnenheit drängende Stimmen vernimmt man dieser Tage wenig, weshalb es allemal gerechtfertigt erscheint, sich zu verdeutlichen, mit welch hohem Einsatz hier gepokert wird. Ein Atomkrieg zwischen den NATO-Staaten und Rußland hätte neben den unmittelbaren, schwerwiegenden Zerstörungs- und radioaktiven Verstrahlungsfolgen eben auch Auswirkungen auf das globale Klima. Robock und Toon lassen keinen Zweifel aufkommen: "Ein Nuklearkrieg zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten könnte selbst nach dem geplanten Abbau des Atomwaffenarsenals durch den New-START-Vertrag einen nuklearen Winter auslösen." [3]

Die Forscher gehen allerdings noch von der Abschreckungsdoktrin aus, derzufolge ein Staat, der den anderen mit Atomwaffen angreift, seinen eigenen Untergang herbeiführt, weil der Angegriffene seinerseits noch in der Lage ist, mit Atomwaffen zurückzuschlagen. Deswegen würde keine der beiden Seiten die andere angreifen, lautet die Erwartung an dieses sogenannte Gleichgewicht des Schreckens.

Was russische Militärstrategen schon länger befürchtet haben, scheint sich inzwischen zu bewahrheiten: Der von den USA tief in den ehemaligen Einflußbereich der Warschauer-Pakt-Staaten herangebrachte Raketenabwehrschirm richtet sich, anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, nicht in erster Linie gegen Iran, sondern gegen die Fähigkeit Rußlands zu einem Zweitschlag. Aus dem Gleichgewicht des Schreckens wird die Einseitigkeit des Schreckens.

Nur einmal angenommen, es gelänge den NATO-Staaten die Langstreckenraketen Rußlands auszuschalten, noch bevor sie gestartet sind, und es gelänge ihnen ebenfalls, die mobilen Systeme zu vernichten, noch bevor damit Atomraketen gestartet werden können, so würde der Westen - vielleicht - vorübergehend einen militärischen Sieg erringen, aber auch dann träte ein nuklearer Winter ein. Davon bekäme man in der Europäischen Union wahrscheinlich nicht viel mit, denn genau hier befindet sich das Hauptschlachtfeld für einen nuklearen Schlagabtausch ...


Fußnoten:

[1] http://www.sciencemag.org/content/222/4630/1283.abstract

[2] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1029/2006JD008235/abstract

[3] http://climate.envsci.rutgers.edu/pdf/RobockToonSAD.pdf

30. Juli 2014