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LAIRE/185: Taifun trifft auf Fukushima - Verstrahlungen einkalkuliert (SB)


Taifun "Roke" verteilt Radionukleotide über Japan - Dekontaminationsarbeiten in Frage gestellt

Anmerkungen zu der folgenschweren Entscheidung für die Atomenergie


Am Mittwoch haben Arbeiter die zerstörten Meiler des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi gegenüber dem herannahenden Taifun "Roke" zu sichern versucht. Von einem "Wettlauf gegen die Zeit" spricht die Nachrichtenagentur AFP [1]. Ein Sprecher der Betreibergesellschaft Tepco wird mit den Worten zitiert, man habe alle "erdenklichen" Maßnahmen ergriffen. Dazu zählte die Befestigung loser Kabel und Schläuche und die Sicherung beschädigter Gebäude durch Planen. Weder soll Wasser in die Atomruine eindringen noch sollen radioaktive Partikel austreten.

Beide Ziele werden nur bedingt erfüllt, da erstens nicht sämtliche gefährdeten Gebäude mit Planen gesichert werden können und zweitens sowohl auf dem Gelände als auch außerhalb hochverstrahlte Flächen existieren, von denen radioaktive Partikel von den Wassermassen abgetragen werden können.

Der Taifun war am Dienstag mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 216 Stundenkilometern in Zentraljapan eingeschlagen, hat ganze Stadtviertel unter Wasser gesetzt und bislang vermutlich sechs Todesopfer gefordert. Anschließend zog "Roke" nordwärts auf die Hauptstadt Tokio zu und wurde am Mittwoch in Fukushima erwartet. Bereits im Vorfeld kam es zu schweren Regenfällen; die Behörden empfahlen deshalb 1,14 Millionen Einwohnern in der Stadt Nagoya, der Provinz Shizuoka und der Hauptstadt Tokio, sich vorsorglich in Sicherheit zu bringen.

Selbst wenn Tepco alles "Erdenkliche" getan haben sollte, um eine weitere Ausbreitung der Radioaktivität zu vermeiden, bleibt da wohl noch das Unerdenkliche, also das, was sich kaum jemand - das Unternehmen schon gar nicht - gerne ausmalen würde. Nämlich daß radioaktive Strahlung erstens längst in unbekannter Menge aus der Akw-Ruine entwichen ist und zweitens es an unbekannten Orten zum Fallout kam. So große Planen gibt es nicht, um all die radioaktiv kontaminierten Stellen angemessen abzudecken! Mit anderen Worten, Tepcos Schutzmaßnahmen genügen nicht. Sie können gar nicht genügen, auch wenn das nicht bedeutet, daß deshalb auch nur auf eine von ihnen verzichtet werden sollte.

Wenn nun "Roke" über das Akw-Gelände von Fukushima Daiichi, die 20 Kilometer umfassende Evakuierungszone und die Hotspots in mehreren Provinzen Japans hinwegfegt, wird der Wirbelsturm seinem Namen gerecht und radioaktive Partikel aufwirbeln. Gebiete, die als nicht-kontaminiert gelten, können plötzlich belastet sein, umgekehrt können die Regenmassen Strahlenpartikel in tiefere Bodenschichten oder über Fließsysteme ins Meer spülen und damit aus dem unmittelbaren Kontaktbereich der Menschen entfernen. Dem Vorteil, daß radioaktiver Staub durch den Regen gebunden wird und nicht mehr so leicht aufgewirbelt werden kann, steht die Möglichkeit einer Akkumulation des Strahlenmaterials in bestimmten Sedimentbereichen wie Uferböschungen, Flußbiegungen oder auch zentralen Stellen der urbanen Abwassersysteme gegenüber.

Ähnlich wie die Arbeit von Minenräumkommandos durch Überschwemmungen zunichte gemacht wird, da anschließend niemand sicher ausschließen kann, daß Minen nicht in die bereits dekontaminierten Gebiete geschwemmt wurden, und die Experten ihre Arbeit von vorn beginnen müssen, müßten viele Regionen Japan nach dem Durchzug von "Roke" hinsichtlich möglicher Strahlenbelastungen von neuem ausgemessen werden. Wird das unterlassen, zeugte das von einem perfiden Kalkül des Unternehmens und der zuständigen Behörden, die so täten, als seien ein paar zusätzliche Krebsfälle als Folge der Neuverstrahlung irrelevant. Für die davon Betroffenen und deren Angehörigen sind sie das ganz sicher nicht!

Überraschend käme ein solches Kalkül allerdings nicht, hatten doch die japanischen Behörden zwischenzeitlich bereits die maximale Strahlenbelastung für Kinder auf das Niveau von Kernkraftwerksarbeitern - 20 Millisievert Jahresdosis - angehoben. Auch die Europäische Union hatte zwischenzeitlich per Eilverordnung die Grenze der Strahlenbelastung für bestimmte Produkte aus Japan nach oben geschoben. Das wurde zwar wieder zurückgenommen, aber noch immer nehmen die EU-Behörden anscheinend das frühzeitige Ableben in tausendfacher Zahl durch verstrahlte Lebensmittel in Kauf. Das behaupten die Organisationen IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) und foodwatch in einem neuen Report über die gesundheitliche Risiken radioaktiv belasteter Nahrung. Es gebe keine sicheren Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln, jede "noch so geringe radioaktive Strahlung" bedeute "ein gesundheitliches Risiko", weil sie ausreiche, um schwere Erkrankungen wie Krebs auszulösen. "Jede Grenzwertfestsetzung ist eine Entscheidung über die tolerierte Zahl von Todesfällen", heißt es [2].

Die schier unlösbare Aufgabe, sämtliche radioaktiven Emissionen aus dem am 11. März zerstörten Akw Fukushima Daiichi und den im weiten Umkreis kontaminierten Gebieten zu beseitigen, sollte eigentlich kein Grund sein, das Ausmaß der Strahlengefahr und das Einkalkulieren von vorzeitig Verstorbenen als Folge der Verstrahlung beim Namen zu nennen. Der sich allgemein breitmachende Tenor in der Berichterstattung, wonach von Fukushima Daiichi inzwischen keine nennenswerte Gefahr mehr ausgehe, gründet sich auf die zahlreichen Schönwetterberichte der Betreibergesellschaft und der Regierung, nicht jedoch auf den zutiefst humanen Grundsatz, daß kein Mensch verstrahlt werden will und somit bereits ein einziges Strahlenopfer inakzeptabel ist.

Man mag das als überzogenen Anspruch verwerfen, doch sollte man sich genau vor Augen führen, womit man es zu tun hat, wenn Behörden und Unternehmen aufgrund statistischer Aussagen Grenzwerte festlegen. Einmal angenommen, es erkrankte ein Prozent der rund 290.000 Einwohner der Stadt Fukushima strahlenbedingt an Krebs und stürbe vorzeitig innerhalb der nächsten zehn Jahre. Niemand wüßte genau, wen es träfe, aber daß 2900 Menschen als Folge der Verstrahlung ums Leben kommen, wäre gewiß. Die politische Entscheidung für die Atomkraft hätte somit zum Tod dieser Menschen geführt. Aber die Folgen werden in der Statistik verschleiert. Würden die politischen Entscheidungsträger dagegen 2900 Einwohner selektieren und über einen Zeitraum von zehn Jahren umbringen lassen, würden die Politiker als Massenmörder angesehen. Das Resultat wäre das gleiche: Im Jahr 2021 wären 2900 Fukushima-Einwohner zusätzlich tot. Niemand würde dafür zur Verantwortung gezogen, aber nur, weil die Menschenvernichtung verschleiert wird.

Dieses Beispiel veranschaulicht, daß Politiker, die sich für die Atomkraft aussprechen, ihren Ruf nur dadurch wahren können, daß sie für die Folgen ihre Entscheidung nicht belangt werden. Es wäre in unserer Gesellschaft sicherlich eine Reihe von ähnlich gelagerten Fällen der Massenvernichtung unter dem Deckmantel statistischer Methoden zu nennen, bedenkt man allein schon die Toten aufgrund des Autoverkehrs, medizinischer Fehlleistungen, militärischer Interventionen, etc. Aber sollte man deshalb die Augen davor verschließen, daß Politiker den Strahlentod in der Bevölkerung einkalkulieren, nur weil sich das Ausmaß der Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen als um vieles größer erweist? Könnte nicht die Absage an die Atomkraft ein erster Schritt in Richtung Ende der Kalkulation von Menschenleben sein? Dem könnten weitere Schritte folgen, die sich nicht auf die Wahl des Energieträgers beschränken ließen, sondern darauf ausgerichtet sind, daß nicht ein Mensch über das Leben eines anderen befinden sollte.

Im übrigen zeigt die Fukushima-Katastrophe, daß die Akw-Lobbyisten nicht nur Gesundheit und Leben anderer aufs Spiel setzen, sondern auch einen gesellschaftlichen Reparaturmechanismus in Anspruch nehmen, ohne in vollem Umfang für die verursachten Kosten der Eindämmung und Beseitigung der Verstrahlungsgefahr aufkommen zu müssen.


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Fußnoten:

[1] "Taifun bewegt sich auf Akw-Ruine Fukushima zu", AFP, 21. September 2011
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5gUTo862qKMbkkA-p_DGrryXvcpiQ?docId=CNG.6a62bb1e0a55cd654e5baa7a1823cdb7.11

[2] http://schattenblick.com/infopool/medizin/fakten/m2er1115.html

21. September 2011