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LAIRE/168: Atomausstieg - eine fortschrittsfreundliche Forderung (SB)


Pseudokritiker der Anti-Akw-Bewegung beanspruchen Definitionshoheit über "Fortschritt"


In der hiesigen Berichterstattung über das außer Kontrolle geratene Atomkraftwerk Fukushima I in Japan wird vielfach das Klischee von den besonnenen Japanern und demgegenüber ängstlichen Deutschen bedient. Die Bezeichnung "german angst" - deutsche Angst - hat sogar Eingang in den englischen Sprachraum gefunden und wird inzwischen als Vorwurf gegen alle Bedenkenträger reimportiert. Es wird dadurch der Eindruck vermittelt, als seien Vorsicht, Bedachtsamkeit oder Fortschrittsfeindlichkeit verallgemeinerbare Charaktereigenschaften der Deutschen.

Vorweg: Wer mit solchen Kategorisierungen argumentiert, ignoriert die Geschichte der Anti-Atomkraftbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bewegung setzte nicht in den neunziger oder achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein, ihre Wurzeln reichen bis zu den Ostermärschen der fünfziger Jahre zurück. Demnach hätte schon damals die "german angst" vor der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland bestanden. Damals galten die Bedenkenträger durchaus als fortschrittlich. Sie konnten sich nur nicht gesellschaftlich durchsetzen.

Jene Leute [1], die nun vor einem raschen Ausstieg aus der Atomenergie warnen und der deutschen Bevölkerung eine Neigung zu Angst und Panikmache unterstellen, beanspruchen die Definitionshoheit darüber, was fortschrittlich und was fortschrittsfeindlich sei. Gegen Atomenergie zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, technologischen Fortschritt abzulehnen, da der Fortschritt darin besteht, auf Atomenergie zu verzichten.

Vielleicht würde eine künftige Generation von Historikern in der Entscheidung Deutschlands und anderer Nationen für den Atomausstieg den Kern einer überraschenden Fortschrittsbewegung erkennen, die nicht mehr der Maßgabe folgte, daß das, was möglich ist, auch gemacht wird. Fortschrittsfeindlich wäre dann nicht der "in Panik verfallende" Deutsche, sondern derjenige, der mit Argumenten aufwartet wie, daß jede Technologie mit Risiken behaftet sei, auch die Atomtechnologie.

Keine andere Energieproduktionsform birgt so hohe Risiken für Mensch und Umwelt wie die Atomtechnologie. Ein Lemming mag es als fortschrittlich empfinden, sich dem Zug seiner Artgenossen anzuschließen - aber der Mensch ist nicht gezwungen, den einmal eingeschlagenen Kurs beizubehalten.


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Anmerkungen:

[1] Stellvertretend sei hierzu auf den BILD-Kommentar von Ralf Schuler (http://www.bild.de/BILD/news/standards/kommentar/2011/03/16/kommentar-von-ralf-schuler.html) und auf ein Interview des Magazins stern mit dem Kulturjournalisten Wolfgang Herles (http://www.stern.de/politik/deutschland/wolfgang-herles-ueber-atomkraft-wir-sind-panischer-als-die-japaner-1663951.html) verwiesen.

17. März 2011