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WILDNIS/023: Einfach mal loslassen (BUNDmagazin)


BUNDmagazin - 2/2017
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland - BUND
Friends of the Earth Germany

Wildnispolitik in Deutschland
Einfach mal loslassen

von Nicola Uhde


Deutschland - ein armes Entwicklungsland. Arm an wilder Natur, rückständig beim Thema Wildnis. Bei einem oberflächlichen Blick auf die Deutschlandkarte sind die kleinen wilden Überbleibsel kaum sichtbar. Doch das soll sich ändern.

Einst prägten weite Wälder, Moore und Auen unser Land. Sie wurden im Laufe der letzten Jahrhunderte gerodet, trockengelegt, urbar gemacht. Eine Kulturlandschaft entstand, mit neuen Lebensräumen: Streuobstwiesen und Trockenrasen, Heiden und Hutewäldern.

Ihre Existenz verdankt sich der Tatsache, dass der Mensch sie nutzt. Auch diese Lebensräume sind heute bedroht, weil die Land- und Forstwirtschaft immer intensiver wurde und der Bau von Siedlungen und Straßen immer mehr Fläche beansprucht. Wildnis hat in einer solchen Industrielandschaft kaum noch Platz.

Fünf Prozent Wildnis

Das muss sich endlich ändern. Nach Meinung des BUND sollen mittelfristig wieder fünf Prozent der deutschen Landfläche Wildnis sein. Hier soll die Natur »Prozessschutz« genießen, sich also ungestört entwickeln dürfen, frei von menschlichen Eingriffen. Lebensräume sollen sich in ihrer natürlichen Dynamik frei entfalten können, ohne dass der Mensch planend und lenkend eingreift. Hier soll Raum sein für evolutionäre Prozesse, ein Reich für das Spiel der Natur, für »Zwecklosigkeit«, für Ungeplantes und Unvorhergesehenes.

Hier ist Loslassen gefragt, hier gilt »Mut zum Nichtstun« und »Zuschauen statt Gestalten«, gerade auch für engagierte NaturschützerInnen!

Wo steht das Wildnis-Entwicklungsland Deutschland heute? Auf internationalen Konferenzen fordern wir gerne den Schutz der Regenwälder im Amazonas, im Kongo, in Papua-Neuguinea. Doch gerade einmal 0,6 Prozent der Landfläche sind bei uns Wildnis. Dabei hat sich die Bundesregierung vor bald zehn Jahren in ihrer Nationalen Biodiversitätsstrategie das Ziel gesetzt, bis 2020 auf wenigstens zwei Prozent der Fläche Deutschlands Wildnisgebiete auszuweisen.

Seit Jahresanfang ist nun endlich geklärt, welche Flächen auf dieses Ziel angerechnet werden können. Definition und Kriterien sind mit den Bundesländern abgestimmt. Der BUND hat diesen Prozess zusammen mit anderen Verbänden intensiv begleitet.

Zugeständnisse bei der Größe

»Wildnisgebiete im Sinne der Biodiversitätsstrategie sind ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene und nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten.« Diese Definition des Bundesamtes für Naturschutz gilt nun als anerkannt.

Wildnisgebiete sollen vorzugsweise mindestens 1000 Hektar umfassen, in flussbegleitenden Auwäldern, in Mooren und an Küsten mindestens 500 Hektar. Die Kernzonen von Nationalparks gelten unabhängig ihrer Größe und anderer Kriterien als Wildnisgebiete.

Ausnahmsweise können Wälder, ehemalige Militärgebiete oder Bergbaufolgelandschaften auch dann als Wildnisgebiete eingestuft werden, wenn sie unter 1000 (aber mindestens 500) Hektar groß sind. Deutschland bleibt damit klar hinter der Minimalgröße von 3000 Hektar zurück, die für europäische Wildnisgebiete gilt - ein Zugeständnis an unsere hohe Bevölkerungsdichte und stark zersiedelte Landschaft.

Dauerhafter Prozessschutz

Als Wildnisgebiete kommen vorrangig Flächen infrage, die der öffentlichen Hand oder Stiftungen oder zum Nationalen Naturerbe gehören. Ein wichtiges Kriterium ist, dass sie dauerhaft rechtlich gesichert sind, mit dem Schutzzweck »Wildnis« oder »Prozessschutz«. Auch sollen die Gebiete möglichst kompakt geschnitten und spätestens nach zehn Jahren frei von künstlichen Strukturen wie Straßen, Leitungen und Windrädern sein. Sie sollen keine Siedlungen enthalten, selbst einzelne Gaststätten oder Hotels werden ausgegrenzt.

Zu Beginn können Wildnisgebiete noch eine »Entwicklungszone« enthalten. Hier dürfen Maßnahmen vollzogen werden, die zu mehr Naturnähe führen - zum Beispiel alte Entwässerungsgräben geschlossen oder Fichtenschonungen gerodet werden. Spätestens nach zehn Jahren aber sollen »ausschließlich natürliche Prozesse wirken«. Das bedeutet: Auch wenn sich etwa der Borkenkäfer in Massen vermehrt oder bislang nicht heimische Pflanzen und Tiere ausbreiten, wird in das Wildnisgebiet nicht mehr eingegriffen.

Loslassen

Prozessschutz bedeutet also: Es ist offen, was sich im Laufe der Jahrhunderte im Wildnisgebiet entwickeln wird. Geschützt wird nur der Prozess des Nicht-Eingreifens, des Loslassens. Mancher Förster wird erst mal schlucken, wenn die herkömmliche Jagd beendet wird und der Wald sich verändert.

Und wenn in einer Bergbaufolgelandschaft oder auf einem Truppenübungsplatz die natürliche Sukzession beginnt, müssen auch NaturschützerInnen mit Verlusten leben: Viele seltene Tagfalter, Heuschrecken oder Vögel, die heute noch über die offenen Flächen fliegen, werden mit der Wiederbewaldung verschwinden.

Doch mit der neuen Wildnis ist auch viel gewonnen: In Deutschland wird es künftig mehr urwüchsige Wälder, unverbaute Küsten, dynamische Flussauen und unberührte Bergtäler geben. Wir werden viel zu lernen haben, und viel zu entdecken. Auf zwei Prozent unseres Landes, und eines Tages hoffentlich auf fünf.


Nicola Uhde ist die Wildnisexpertin des BUND-Bundesverbandes.

Am 18. März starb einer der engagiertesten Mitstreiter für mehr Wildnis in Deutschland, Karl-Friedrich Sinner. Der langjährige Leiter des Nationalparks Bayerischer Wald und Vorstand von Europarc Deutschland war ein fachlich hoch kompetenter Kämpfer für die Natur. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust für alle, die ihn kannten und schätzten.

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Quelle:
BUNDmagazin 2/2017, Seite 1 - 17
Herausgeber:
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)
Friends of the Earth Germany
Am Köllnischen Park 1, 10179 Berlin
Redaktion: Severin Zillich
Tel. 030/27586-457, Fax. 030/27586-440
E-Mail: redaktion@bund.net
Internet: www.bund.net/bundmagazin
 
Das BUNDmagazin ist die Mitgliederzeitschrift
des BUND und erscheint viermal im Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2017

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