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EUROPA/111: EU-Naturschutzrichtlinien - Im Fadenkreuz von Junckers Deregulierungsagenda (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2016
Völlig losgelöst
Lässt sich die EU noch demokratisieren?

Die EU-Naturschutzrichtlinien
Im Fadenkreuz von Junckers Deregulierungsagenda

Von Kristina Richter und Dr. Raphael Weyland


Mitte Juni lief der 'Fitness-Check' der Naturschutzrichtlinien der Europäischen Union (EU) bereits mehr als 1.000 Tage, und auch zum jetzigen Zeitpunkt liegt noch kein offizielles Ergebnis vor. Der gesamte Prozess dieses konkreten Beispiels offenbart geradezu lehrbuchhaft, dass die EU-Kommission nicht bereit scheint, die eigenen Vorgaben der primär auf Wirtschaftsaspekte fokussierenden "besseren" Rechtsetzung einzuhalten.


Die Unzufriedenheit der Mitgliedstaaten mit den Ergebnissen der Gesetzgebung der Europäischen Union ist keinesfalls ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Vor allem in Zeiten großer europäischer Krisen gehen die Regierungen den einfacheren, aber zumeist toxischen Weg: Sie machen "Brüssel" verantwortlich und fordern, mehr Kontrolle an die nationalen Parlamente zurückzugeben. Um das Vertrauen der Mitgliedstaaten sowie der BürgerInnen in die EU-Institutionen zu stärken, beschloss die EU-Kommission bereits 2003 in einer interinstitutionellen Vereinbarung die "Agenda zur besseren Rechtsetzung", die in den darauffolgenden Jahren hin zur angeblich "intelligenten Rechtsetzung" fortgeführt wurde.

Deregulierung unter dem Deckmantel der "besseren" Rechtsetzung

Unter dem Deckmantel dieser Agenda stellte der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Dezember 2012 das Regulatory Fitness and Performance Programme (REFIT) vor. Dieses "Programm zur Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung" kann als Initiative gesehen werden, um bürokratische Hürden für die Wirtschaft abzubauen und bestehende EU-Rechtsvorschriften zu vereinfachen. Das unter dem neuen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker weiter vorangetriebene Programm unterzieht sowohl Gesetzesvorschläge als auch bestehende Gesetze einer umfassenden Prüfung und fokussiert sich auf eine Politik der kurzfristigen Effekte für Wachstum, Jobs und Wettbewerbsfähigkeit. Hierdurch gerät der Umwelt- und Sozialbereich naturgemäß unter die Räder. Mittlerweile wurden unter REFIT bereits 141 Gesetzesvorhaben zurückgezogen,(1) darunter die Bodenschutzrahmenrichtlinie. REFIT wird deshalb unter anderem von Umwelt- und Sozialverbänden kritisiert, da es die kurzfristigen Kosten eines Gesetzes für die Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt, und die Gewinne für die Gesellschaft wie etwa den Umwelt-, Gesundheits- und VerbraucherInnenschutz vernachlässigt.

Ein Instrument des REFIT-Programms sind die sogenannten 'Fitness-Checks'. Es handelt sich dabei um umfassende Evaluierungen, die bewerten, ob ein gesetzlicher Rahmen (noch) dem vorgesehenen Zweck dient - also "fit for purpose" ist. Wesentlicher Knackpunkt ist hierbei die Frage, ob eine eventuell unbefriedigende Wirksamkeit dem Rechtsrahmen selbst, dem Mangel an politischem Willen oder finanziellen oder personellen Ressourcen geschuldet ist.

EU-Naturschutzpolitik im Visier

Im Oktober 2014 startete die damals neue EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker den 'Fitness-Check' der Fauna-Flora-Habitat-(FFH-) und der EU-Vogelschutzrichtlinie. Sie sind die wichtigsten Instrumente der Europäischen Union, um unser wertvolles Naturerbe zu schützen und auch für zukünftige Generationen zu sichern. Europaweit befürchteten die Umweltverbände massive Standardabsenkungen, denn Juncker hatte seinem Umweltkommissar das Mandat erteilt, zu prüfen, ob sich die beiden Richtlinien nicht verschmelzen und "modernisieren" lassen - und nahm das (gewünschte) Ergebnis somit bereits vorweg.

Faktensammlung und Stellungnahmen

Ende 2014 nahmen die von der Kommission beauftragten Institute ihre Arbeit auf und prüften die EU-Naturschutzrichtlinien mittels diverser Befragungen und Literaturrecherchen auf Herz und Nieren. Auf der Kommissionsseite zum REFIT-Programm steht: "Auch Sie [als die Bürgerinnen und Bürger] können mit Daten und Fakten einen Beitrag zur Verschlankung des EU-Rechts leisten" - so wohl die Hoffnung der Kommissionsspitze. An der öffentlichen Konsultation beteiligten sich 552.470 Menschen. Davon sprachen sich mehr als eine halbe Million für den Erhalt der beiden Richtlinien aus und leiteten damit die Kampfansage gegen die Pläne des Kommissionspräsidenten lautstark ein. In den nachfolgenden Monaten verdichtete sich die Beweislage für den Erhalt der EU-Naturschutzgesetzgebung zunehmend. Sowohl der von der Kommission selbst vorgelegte Zwischenbericht zur Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie(2) als auch die im November 2015 veröffentlichten vorläufigen Ergebnisse des 'Fitness-Checks'(3) belegten, dass Arten und Lebensräume dort profitiert haben, wo die Naturschutzrichtlinien ordnungsgemäß umgesetzt und angemessen finanziert wurden. Auch das EU-Parlament und die EU-Umweltminister sprachen sich mittlerweile für eine Beibehaltung der Richtlinien aus.

Naturschutzblockade

Nachdem die Kommission immer wieder angekündigt hatte, die finale Fassung der Gutachterstudie sowie ihre politischen Schlussfolgerungen bis zum Frühjahr 2016 vorzulegen, war spätestens Ende Mai klar, dass es in der Kommission klemmte. Nachdem sich auch bis Anfang Juni nichts regte, verkündete die zu dem Zeitpunkt amtierende niederländische Ratspräsidentschaft, eine hochrangig besetzte Naturschutzkonferenz kurzfristig absagen zu müssen, da die "substanzielle Basis" für die Diskussion fehle.(4) In einer Stellungnahme begründete ein Kommissionssprecher die Verzögerung im Entscheidungsprozess mit der derzeit alle verfügbaren Ressourcen bindenden Flüchtlingskrise - man habe schlicht keine Zeit und könne sich erst im Herbst wieder dem Thema widmen.

Kurz darauf veröffentlichte die Nachrichtenplattform EurActiv eine geleakte Entwurfsfassung der Studie. Diese bewies nicht nur, dass die Ergebnisse der Gutachter bereits seit Anfang 2016 vorliegen, sondern auch, dass die Richtlinien von den ExpertInnen für "fit" erklärt wurden.

Wenig später musste die EU-Kommission zumindest partiell einlenken: Anfang Juli gab sie auf erheblichen Druck der Umweltverbände hin die Endfassung des Expertengutachtens über den 'Fitness-Check' heraus. Die finale Entscheidung über die Zukunft der Richtlinien will sie jedoch erst im Herbst 2016 fällen. Dann wird sich zeigen, ob sie den Empfehlungen der ExpertInnen folgt, die Gesetzgebung beizubehalten und einen Aktionsplan zur Rettung der Biodiversität vorzuschlagen oder doch noch dem Druck der Landnutzer- und Wirtschaftslobby nachgibt, die die Gesetze schwächen wollen.

Die EU-Kommission setzt mit ihrer nicht fachlich begründeten Hinhalte-Taktik erneut die Glaubwürdigkeit der EU aufs Spiel, denn die nach den eigenen Vorgaben maßgeblichen wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen längst vor und könnten zudem eindeutiger kaum sein. Es stellt sich die berechtigte Frage: Ist ein Evaluierungsprozess, der sich über anderthalb Jahre hinzieht, zu Rechtsunsicherheit führt, Kapazitäten bindet und die so dringend notwendige Umsetzungsoffensive für die Artenvielfalt in Europa ausbremst, etwa "bessere und intelligente Rechtsetzung"?

Nachhaltigere Rechtsetzung und Gesetzesvollzug erforderlich

Damit die Agenda der "besseren" Rechtsetzung tatsächlich ihren Namen verdient, muss die EU-Kommission zunächst den Prüfmaßstab anpassen, denn Jobs und Wachstum sind nicht die einzige Zielsetzung der EU und wahrlich nicht die einzigen Herausforderungen, welchen sich die Union stellen muss. Darüber hinaus muss die Kommission aufhören, überwiegend Umweltgesetze in den Fokus der Überprüfungsverfahren zu stellen. Stattdessen sollte sie die eingehenden Empfehlungen im Rahmen der von ihr eröffneten Beteiligungsmöglichkeiten auch ernst nehmen. So schlug eine der beiden die "REFIT-Plattform"(5) bildenden Gruppen jüngst vor, auch die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) einem 'Fitness-Check' zu unterziehen. Die Entscheidung darüber hat die EU-Kommission aber verschoben, denn der Vorschlag stieß auf heftigen Widerstand bei den Regierungsvertretern, die die zweite Gruppe der REFIT-Plattform bilden.

Tatsächlich erfordert unsere Zeit aber genau dies: ein nachhaltiges Handeln nicht nur im Umweltressort, sondern übergreifend in allen Politikbereichen. Dies schließt auch ein, dass die bestehende EU-Umweltgesetzgebung in den Mitgliedstaaten umgesetzt und anschließend vollzogen wird. Wenn sich bei BürgerInnen der Eindruck festigt, Unternehmen etwa aus dem Automobilbereich könnten gesetzliche Grenzwerte ohne nennenswerte Konsequenzen brechen, wohingegen sie selbst immer strengeren Vorgaben unterliegen, ist nicht nur die europäische Idee, sondern auch der Rechtsstaat als solcher in Gefahr.


Autorin Kristina Richter und Autor Dr. Raphael Weyland sind seit 2015 ReferentInnen für EU-Naturschutzpolitik beim NABU in Berlin und Brüssel.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.


Fußnoten

(1) Darstellung der "Achievements since 2012".
http://ec.europa.eu/info/law-making-process/evaluating-and-improving-existing-laws/refit-making-eu-law-simpler-and-less_en

(2) http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52015DC0478&from=EN

(3) http://ec.europa.eu/environment/nature/legislation/fitness_check/conference_en.htm

(4) NABU-Blogbeitrag unter
https://blogs.nabu.de/naturschaetze-retten/absage-amsterdam/

(5) http://ec.europa.eu/info/law-making-process/evaluating-and-improving-existing-laws/refit-making-eu-law-simpler-and-less/refit_en

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Quelle:
Rundbrief 3/2016, Seite 18-19
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2016

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