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TIERE/111: Kurz gehalten - Rinder und Pferde gestalten die Landschaft (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Heft 4/10
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Kurz gehalten
Rinder und Pferde gestalten die Landschaft

Von Helge May


Die aufgeschreckten Tanten beobachten das Geschehen aus der Ferne. Mit einer besorgten Mutter aber ist nicht zu spaßen. Gerhard Mauer fährt den Geländewagen über die Weide bis zur kleinen Mulde, in dem das einen Tag alte Kalb liegt. Noch kann es den Erwachsenen nicht folgen.

Einer der Helfer behält die Mutterkuh im Auge, ein weiterer packt das Kälbchen und drückt ihm das Maul zu, damit es nicht blökend die Mutter doch noch zu einer Attacke verleitet. Nun kann Mauer rasch die beiden gelben Ohrmarken anbringen. Das wäre geschafft. Keine Komplikationen, das Narkosegewehr bleibt ungenutzt im Wagen.

Als landwirtschaftlicher Leiter des vom NABU betriebenen Woldenhofes im ostfriesischen Wiegoldsbur hat Gerhard Mauer Erfahrung im Umgang mit Heckrindern, Konik-Pferden und Heidschnucken. Das Setzen der Ohrmarken ebenso wie die jährlichen Blutuntersuchungen bereiten aber nicht nur den Tieren Stress. "Die Veterinärvorschriften sagen, dass ein Jungtier spätestens am siebten Lebenstag gemarkt werden muss. Im Stall oder auf einer kleinen Koppel geht das vergleichsweise einfach, aber auf unseren unübersichtlichen Weideflächen ist es immer wieder eine Herausforderung."


Produktionsziel Artenvielfalt

Die Ohrmarken sind Ausweis und Herkunftsnachweis der Tiere. Ohne Markierung und Eintrag in der offiziellen Datenbank wäre keine Vermarktung möglich und es gäbe auch keine Subventionsgelder. Der Woldenhof ist anerkannter Biobetrieb. Im Vordergrund steht zwar das "Produktionsziel Artenvielfalt", so Woldenhofchef Michael Steven. "Aber wirtschaftlich stehen die Beweidungsprojekte auf drei Beinen: den Agrarsubventionen, Prämien für die Landschaftspflege und dem Verkauf der Tiere oder tierischer Produkte."

"Beweidung dient der Wiederherstellung natürlicher Zustände und soll natürliche Prozesse ermöglichen", betont Steven, der auch Sprecher des NABU-Bundesfachausschusses "Weidelandschaften und Neue Wildnis" ist. "Ein gut durchgeführtes Beweidungsprojekt führt zu einer höheren Artenvielfalt als dort, wo rein statischer Naturschutz betrieben wird."


Wer hat's erfunden?

In den benachbarten Niederlanden werden heute zahlreiche Schutzgebiete beweidet, insgesamt 45.000 Hektar. Auch Großbritannien, Frankreich und Spanien setzen auf dieses Naturschutzinstrument. In Deutschland gibt es inzwischen ebenfalls zahlreiche Beweidungsprojekte, darunter viele vom NABU getragene vom Geltinger Birk im Norden bis zum Bodensee im Süden. "In der Fläche aber hinken wir der Entwicklung noch um Jahre hinterher", meint Michael Steven.

Oostvaardersplassen etwa, das Projekt am Ijsselmeer unweit Amsterdam, mit dem 1992 die Praxiserprobung begann, erstreckt sich über fast 6.000 Hektar. Hier weiden rund 1000 Koniks, 400 Heckrinder und 900 Rothirsche. Von solchen Dimensionen kann man in Ostfriesland nur träumen. Die Grünlandflächen Thedingaer Vorwerk, Coldam und Uhlsmeer messen zusammen gerade mal 220 Hektar. Begonnen hat die Ganzjahresbeweidung mit Heckrinder und Koniks 2003 auf Flächen der Stadt Leer, wo nach dem Brachfallen als artenreiches Feuchtgrünland erhalten werden sollten. "Uferschnepfe und Brachvogel verschwinden halt, wenn aus der Feuchtwiese ein Schilfgebiet oder Weidendickicht wird", erläutert Michael Steven.


Lehren aus der Krise

In den ersten Jahren lief die Beweidung wie gewünscht und ohne größere Probleme, doch im extrem regnerischen Frühjahr 2008 wurde plötzlich alles anders. Gleich mehrere der 60 Rinder kamen um, ein einjähriges Kalb ertrank. Was war geschehen? Der NABU Niedersachen rief ein "Krisenreaktionsteam" zusammen, das mit den Behörden Ursachenforschung betrieb und Sofortmaßnahmen ergriff. Es stellte sich heraus, dass unter anderem die Futterverfügbarkeit auf den nun stark vernässten Flächen überschätzt worden war.

Herzstück der innerhalb weniger Monate umgesetzten Änderungen ist ein steuerbares Entwässerungssystem. So können die Lebensräume für bedrohte Wiesenvögel optimiert werden, ohne die Lebensbedingungen der Weidetiere zu vernachlässigen. Verbessert wurden auch die Passagen über Gräben und Nassbereiche. Im Herbst 2008 schließlich wurde als neuer Leiter des Woldenhofes Michael Steven verpflichtet, der sich bereits mit dem Aufbau des NABU-Beweidungsprojektes in den Emsauen bei Münster einen Namen gemacht hatte.


Natürliche Tragfähigkeit

"Die Vorfälle 2008 zeigen, dass man an Beweidungsprojekte nicht dogmatisch herangehen sollte", meint Steven. "Dazu gehört auch, die Tierdichte an der natürlichen Tragfähigkeit auszurichten, also am Futterwert. Im Naturstand wäre hier auf unseren Feuchtflächen wahrscheinlich nur eine recht ertragreiche Sommerweide, zur Winterweide sind die wilden Herden dann weitergezogen."

Heute findet im Sommer eher eine Unternutzung statt. Nach dem Flüggewerden des Wiesenvogelnachwuchses können Teilflächen sogar gemäht werden, um Winterfutter zu gewinnen. "Man darf das nicht mit der Schafbeweidung am Küstendeich verwechseln, wo jeder Quadratzentimeter gleichmäßig kurz gefressen wird", betont Michael Steven. Durch die Unternutzung entsteht ein Mosaik unterschiedlichster Kleinflächen, so dass immer auch Lebens- und Ruheräume für Wildtiere aller Art bleiben - und das ist schließlich Zweck der Übung. "Koniks und Heckrinder sind zwar faszinierende Tiere, aber im Prinzip nur 'Werkzeuge' zum Erreichen der Naturschutzziele", so Steven weiter.

Ein weiteres Ziel ist, noch besser über die Ganzjahresbeweidung zu informieren. Im kommenden Frühjahr soll deshalb eine vierte Fläche samt integriertem Naturlehrpfad beweidet werden. Für dieses "begehbare Weideprojekt" auf einem ehemaligen Baumschulgelände werden Konikpferde aus dem eigenen Bestand eingesetzt.


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Heckrinder Wulfener Bruch

Die Geburtsstunde des Taurusrindes oder Heckrindes schlug 1920, als die Brüder Heck aus ursprünglichen Hausrinderrassen ein Rind züchteten, das dem ausgestorbenen Auerochsen sehr ähnlich ist. Die Größe des Auerochsen erreicht das Heckrind aber nicht ganz. Seit 1996 werden im Zuchtprogramm "Taurus" große südeuropäische Rinderrassen eingekreuzt.


Koniks

Die Rasse der genügsamen Koniks entstand um 1800, als in Polen die letzten mitteleuropäischen Wildpferde, die Waldtarpane, mit alten Hauspferderassen gekreuzt wurden. Koniks sind recht zutraulich und mehr dem Äußeren als ihrem Wesen nach Wildpferde. Die aus den mittelasiatischen Steppen stammenden Przewalskiperde dagegen, wie sie zum Beispiel der NABU Köthen in den Elbauen des Wulfener Bruchs hält, sind echte Wildpferde


Woldenhof

Der Woldenhof des NABU ist ein Bauernhof aus dem Jahr 1858. Bewirtschaftet werden rund 220 Hektar Grünland, dazu kommen 50 Hektar Moorheide, die von der eigenen "Schäferei am Ewigen Meer" mit Weißen Gehörnten Heidschnucken gepflegt werden. Der Hof ist Sitz der NABU- Regionalgeschäftsstelle Ostfriesland und auch Schulbauernhof. Die Außenanlagen bestehen aus einer Schweineweide, dem Gänseauslauf, dem Hühnerstall und einem alten Bauerngarten mit vielen seltenen Nutzpflanzen. Im ehemaligen Kornspeicher des Haupthauses können Schulklassen untergebracht werden, eine Heuherberge ist in Vorbereitung.


Raute

Urwald oder Weide?

Wie sähe unsere heutige Landschaft ohne Einfluss des Menschen aus? Abseits von Mooren und Hochgebirgen riesige dichte Urwälder überall wo es der Boden zulässt, lautet die weit verbreitete Annahme. Urwälder schon, aber weniger dicht und auf kleineren Flächen, meinen die Anhänger der sogenannten Megaherbivoren-Theorie. Demnach gäbe es neben Wäldern auch weite mehr oder minder offene Areale, genutzt und gestaltet von großen Pflanzenfressern.

Daran, dass es diese wildlebenden Pflanzenfresserherden nicht mehr gibt, hätten unsere Steinzeit-Vorfahren erhebliche Mitschuld. Die Bejagung bis hin zur Ausrottung von Arten wie Waldelefant und Steppennashorn habe bereits während der letzten Eiszeit begonnen. Die Knochenfunde an den Lagerplätzen steinzeitlicher Jäger zeigten, dass damals reichlich große Weidetiere erbeutet wurden. Um eine vom Menschen unbeeinflusste Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt zu finden, müsse man deshalb gut 100.000 Jahre zurück in die letzte Warmzeit gehen.

Geht man von einem prägenden Einfluss der Pflanzenfresser aus, dann würde sich diese gerade auf den fruchtbaren Böden mit hohem Futterwert der Auen und des Flachlands konzentrieren und dort die Landschaft offenhalten. Im Hügelland und im Gebirge dagegen würde der Waldanteil deutlich höher liegen.

Mit den heute noch vorhandenen Wildtieren lässt sich die angenommene Urlandschaft kaum mehr zurückholen. Die Lücken können aber zum Teil mit Nutztieren wie Rindern und Pferden ausgefüllt werden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Das Rote Höhenvieh ist eine der alten, genügsamen Nutztierrassen, die bei Beweidungsprojekten bevorzugt eingesetzt werden.

Da es keine prophylaktische Parasitenbehandlung gibt, erfolgt durch die Weidetiere eine ganzjährige Düngung mit unbehandeltem Dung. Das ist gut fürs Bodenleben, die Dunghaufen bilden zudem einen Speziallebensraum für zahlreiche Tierarten. Untersuchunen zeigen, dass umgerechnet fast drei Viertel der Pflanzenbiomasse aus dem Weidetierkot in Insektenbiomasse umgewandelt werden. Und darüber freuen sich Insektenfresser wie Fledermäuse und Vögel.

Neben der Ganzjahresbeweidung gibt es zahlreiche Projekte, wo zeitweise wechselnde Flächen besetzt werden. Bei "Ried und Sand" in Südhessen zum Beispiel pflegen Schafe, Ziegen und Esel wertvolle Trockenflächen und verbreiten via Fell, Klauen und Kot die Samen seltener Pflanzenarten auf den weit auseinander liegenden Arealen.


Einen vertiefenden Einblick in die bundesweite Vielfalt der NABU-Beweidungsprojekte sowie der dort gehaltenen Arten und Rassen gibt unsere Online-Ausgabe.


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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 4/10, S. 8-11
(Text in der Internet-Fassung)
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
und erscheint vierteljährlich. Für Mitglieder
ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2011