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WALD/064: Unterschätzte Biodiversität im Unterwuchs der Wälder (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum - Universität Bayreuth
Ausgabe 1, Mai 2011

Wälder weltweit
Den Wald vor lauter Bäumen sehen!
Unterschätzte Biodiversität im Unterwuchs der Wälder

von Ulrich Meve und Sigrid Liede-Schumann


Die pflanzliche Vielfalt in Wäldern wird oft unterschätzt, weil sie nicht allein durch die Anzahl der Baumarten bestimmt wird, sondern durch die Kräuter, Sträucher und Kletterpflanzen im Unterwuchs des Waldes, oder auch von Epiphyten im Geäst der Bäume. In den Tropen ist nicht nur die Baumflora viel diverser als in den Wäldern der gemäßigten Breiten, sondern insbesondere der Unterwuchs und natürlich die Epiphytenflora. Die tropischen und subtropischen Bergwälder, ob altweltlich oder neuweltlich, gehören dabei zu den artenreichsten Formationen überhaupt. Schätzungen zufolge können jedoch nicht selten bis zu 30% des Arteninventars in diesen Habitaten überhaupt bis auf Artniveau bestimmt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Baumflora, die den ökonomischen Wert der Wälder bestimmt, ist in der Regel entsprechend gut erforscht, allerdings wird oft gar nicht erst versucht, die (kleinräumige) floristische Vielfalt im Unterwuchs komplett zu inventarisieren. Methodisch beschränkt man sich dann darauf, nur solche Pflanzengruppen zu erfassen, die ökologisch für einen bestimmten Waldtyp besonders wichtig sind, oder, ganz profan, für die vielleicht gerade ein Spezialist zu Verfügung steht. Entsprechend gibt es bei der Erfassung von Gesamtinventaren vor allem im Unterwuchs große Defizite. Weitere Erschwernisse ergeben sich daraus, dass viele Unterwuchspflanzen unzuverlässig blühen. Komplette Inventarisierungen ziehen sich so über viele Jahre und viele Besuche im Wald hin, bis nach und nach die Mehrheit oder im besten Fall sämtliche Arten erkannt beziehungsweise als neu und noch unbeschrieben identifiziert werden. Pflanzentaxonomen haben unvermindert alle Hände voll zu tun, der Artenvielfalt beschreibend Herr zu werden. Weltweit sind es alljährlich tausende neuer Arten, vor allem in Südamerika und Asien, die trotz schmerzhafter Flächenverluste durch Rodungen neu beschrieben werden.

Neben Sträuchern und Jungbäumen spielen zwei Pflanzengruppen im Unterwuchs der Wälder eine herausragende Rolle, dies sind krautige Pflanzen und Farne sowie Kletterpflanzen inklusive Lianen (verholzte Kletterpflanzen). Letztere können bis zu 40% der Gehölzarten in tropischen Wäldern ausmachen. Kletterpflanzen sind auch für den einzigen wirklichen Unterschied in der Physiognomie der Wälder der Tropen gegenüber denen der gemäßigten Breiten verantwortlich - oberhalb des 30. Breitengrades nimmt die Artenzahl der Lianen drastisch ab. In tropischen Tieflandwäldern wie in Westafrika oder dem Amazonasgebiet ist nicht selten jeder 3. Baum von Lianen bewachsen, und im Unterwuchs können bis 20% der Pflanzendeckung aus jungen Kletterpflanzen bestehen. Kletterpflanzen treten also in bestimmten geographischen Regionen und Waldformationen gehäuft auf. Eine Häufung können wir auch in bestimmten Pflanzenfamilien beobachten, wo sie die dominante Wuchsform repräsentieren. "Weltmeister" sind die Hundsgiftgewächse (Apocynaceae) mit über 3.000 Kletterpflanzenarten, gefolgt von den Schmetterlingsblütlern (Fabaceae).

In "reifen" Wäldern ist der Lichtgenuss am Boden bedingt durch die starke Kronenentwicklung sehr eingeschränkt (oft erreichen kaum 2% des Sonnenlichts den Waldboden), was vor allem schattentoleranten Samenpflanzen und Farnen zugute kommt. Besonders konkurrenzkräftig sind hier außerdem Spezialisten, die in Symbiosen mit Pilzen leben oder ganz ohne eigenes Blattgrün auskommen, wie mykotroph oder parasitisch lebende Pflanzen (vergleiche Artikel S. 32)(*). Lianen (verholzte Kletterpflanzen) schließlich können dem Lichtmangel entkommen, in dem sie bis in die Kronen klettern. All diese Pflanzen sind dabei wichtige Nahrungsgrundlage für unzählige Insekten und Wirbellose Tiere und spielen eine große Rolle im Nahrungskreislauf der Wälder. Viele Unterwuchspflanzen sind aber auf Störungen wie Erdrutsche oder Schneisen durch umgestürzte Bäume angewiesen, um sich reproduzieren zu können, weil sie nur bei erhöhtem Lichtgenuss und Nährstoffversorgung blühen - Umstände, die manchmal erst nach vielen Jahren eintreten. Einige photoautotrophe Pflanzenarten sind jedoch an die permanent lichtarmen Verhältnisse am Waldboden angepasst und bringen somit eine hervorragende Eigenschaft für die (oft lichtarme) einheimische Zimmerpflanzenkultur mit sich. Man denke an das Usambara-Veilchen (Saintpaulia), welches im Unterwuchs ostafrikanischer Bergwälder zuhause ist, oder an die Flamingoblume aus der in Mittel- und Südamerika weit verbreiteten Gattung Anthurium. Diese artenreiche Sippe ist auch ein gutes Beispiel für die lange unterschätzte Diversität krautiger Begleitflora in feuchten Wäldern Südamerikas: Allein aus Ecuador wurden in den letzten fünf Jahren 18 neue Anthurium-Arten beschrieben!

Einen Schwerpunkt der systematisch-taxonomischen Arbeit des Lehrstuhls für Pflanzensystematik in Bayreuth repräsentieren die Kletterpflanzen aus der Familie der Apocynaceae in der Neuen Welt. Viele ihrer Arten lassen sich nicht unmittelbar beim Sammeln am Standort bestimmen, sondern aufgrund ihrer zum Teil extrem kleinen Blütenstrukturen erst im Labor mit Hilfe von Mikroskopen. Ein Umstand, der leicht dazu führt, dass diese Pflanzen - weil eben wenig attraktiv für Botaniker und Ökologen - im Gelände übersehen oder ignoriert werden. Dabei lohnt es sich genauer hinzuschauen, die Diversität ist enorm, die blütenbiologischen Anpassungen von Apocynaceen sind faszinierend. Für die Ökologie der Lebensgemeinschaft Wald mögen diese unscheinbaren Pflanzen meist von geringerer Bedeutung sein, die Erforschung ihrer Stammes- und Ausbreitungsgeschichte kann aber viel über die Genese der Wälder verraten. Die taxonomische Aufarbeitung wie das Anfertigen von Revisionen und Publizieren von Artneubeschreibungen ist allerdings sehr zeitaufwendig und neben dem "regulären" Lehr- und Forschungsbetrieb einer Universität leider kaum noch zu leisten.

Autoren
Prof. Dr. Sigrid Liede-Schumann PD
Dr. Ulrich Meve

Prof. Dr. Sigrid Liede-Schumann, Inhaberin des Lehrstuhls für Pflanzensystematik, und PD Dr. Ulrich Meve, Akad. Oberrat am Lehrstuhl für Pflanzensystematik und Kurator des Herbariums der Universität Bayreuth, bearbeiten Fragestellungen zur Stammesgeschichte, Systematik und Taxonomie innerhalb verschiedener Pflanzenfamilien, vorrangig der Apocynaceae (Hundsgiftgewächse), Rubiaceae (Rötegewächse) und Aizoaceae (Mittagsblumengewächse). Außerdem stehen blütenökologische Themen im Fokus ihrer Forschung.

• www.pflanzensystematik.uni-bayreuth.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Scyphostelma pichinchensis (Apocynaceae), eine Kletterpflanze aus N-Ecuador, die zu einer großen, weit verbreiteten Gattung gehört, von der erst ein Bruchteil der Arten wissenschaftlich beschrieben ist.

Metastelma penicillatum (Apocynaceae), ein Endemit aus Ost-Cuba.

Derzeit wird noch geprüft, ob die abgebildete Pflanze aus S-Ecuador zu Anthurium lingua (Araceae) gestellt werden kann oder als neues Taxon beschrieben werden muss.


(*) Anmerkung der SB-Redaktion:
siehe unter www.schattenblick.de → Infopool → Umwelt → Internationales
WALD/063: Wie Waldbodenpflanzen mit Lichtlimitation in ihrem Lebensraum umgehen (spektrum - Uni Bayreuth)


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Quelle:
spektrum, Ausgabe 1, Mai 2011, Seite 36-38
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 23, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de

"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011