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SOZIALES/104: Wenn Tiere Leben bedeuten - WanderviehhirtInnen im Fokus (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2019

Wenn Tiere Leben bedeuten
Wie Tierärzte ohne Grenzen e. V. WanderviehhirtInnen in den Fokus nimmt

von Constanze Bönig



Über Jahrtausende erwies sich die Wanderviehhaltung als anpassungsfähige und ressourcenschonende Lebensweise. Heute bedrohen aber Klimawandel, Konflikte und die Industrialisierung der Landwirtschaft die pastorale Lebensweise. Die Nichtregierungsorganisation Tierärzte ohne Grenzen e. V. (TOG) unterstützt daher seit 27 Jahren WanderviehhirtInnen in Ostafrika mit Projekten der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit dabei, den zunehmenden Herausforderungen zu begegnen.


Weltweit leben ca. 200 Millionen Menschen von der Wanderviehhaltung, auch Pastoralismus genannt. Sie leben in wüsten- und halbwüstenartigen Gebieten, in denen Ackerbau nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist. Ihre Nutztiere sind Nahrungsmittel- sowie Einkommensquelle und erfüllen weitere sozioökonomische Funktionen. PastoralistInnen leben nahezu ausschließlich von dem, was ihre Rinder, Schafe, Ziegen oder Kamele liefern. Sie haben keinen festen Wohnsitz und ziehen den Großteil des Jahres mit ihren Herden auf der Suche nach Weidegründen und Wasser umher. Daneben beziehen sogenannte AgropastoralistInnen einen Teil ihrer Lebensgrundlage aus dem Anbau von Feldfrüchten.

Über Millennia entwickelte sich die Wanderviehhaltung als eine äußerst effektive Lebensweise, die auch unter marginalen Bedingungen Leben ermöglicht. Vor allem ihre Mobilität erlaubt es ihnen, trockene Gebiete ebenso produktiv zu nutzen wie schwer zugängliche Hochtäler. In Ostafrika werden 80 Prozent der Landfläche pastoral genutzt. Pastorales Vieh deckt 90 Prozent des dortigen Milch- und Fleischbedarfs und der Export von Tieren stellt eine bedeutende Devisenquelle dar.

Ein Leben mit vielen Herausforderungen

Heute sind PastoralistInnen und ihr Lebensstil zunehmend vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt: Weidefläche und Wasser werden knapper, weil Dürren oder Springfluten häufiger auftreten. Ackerflächen werden mithilfe neuer Techniken ausgeweitet, traditionelle Landnutzungsrechte ignoriert und Flächen ohne Konsultation mit den PastoralistInnen zu Siedlungs-, Industrieland oder Nationalparks erklärt.

Nicht zuletzt, weil PastoralistInnen in der Regel weit entfernt von Regierungszentren leben, sind Verwaltungsstrukturen in pastoralen Gebieten meist schwach und öffentliche Dienstleistungen nur unzureichend verfügbar. So reicht auch die veterinärmedizinische Versorgung oft nicht aus. Impfungen, z. B. gegen die Pest der Kleinen Wiederkäuer oder Anthrax, die Epidemien verhindern könnten, werden nicht oder nicht flächendeckend durchgeführt. Parasitenbefall wird nicht vorgebeugt. Das schwächt die Tiere und macht sie anfälliger für weitere Krankheiten. Sie liefern weniger Milch, Fleisch, Haut und Fell, die in guten Zeiten gegen andere Lebensmittel getauscht oder gegen Geld verkauft werden. Ebenso gibt es kaum Strukturen zur Seuchenkontrolle oder Lebensmittelhygiene mit direkten negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und Ernährungssicherheit der Menschen.

Lebensbedrohlich wird es, wenn in Zeiten von Krisen die Anpassungsmechanismen der PastoralistInnen gar nicht mehr greifen. So führte die Dürre 2016/2017 in Kenia, Somalia und Äthiopien zu einer großen Hungersnot, weil nicht genügend Ausweichweideflächen oder Wasserstellen zur Verfügung standen oder die Wanderwege zu weit waren. Tiere, die ohnehin geschwächt sind, haben dann den harschen Bedingungen wenig entgegenzusetzen. Sterben die Tiere, folgen die Menschen direkt nach bzw. sind auf humanitäre Nahrungsmittellieferungen angewiesen. Sie drängen sich in Camps, in denen sie Unterstützung erhalten oder sie werden zur Flucht in Städte oder benachbarte Länder gezwungen, wo sie nach Arbeit suchen. An den wenigen Orten, an denen es noch Wasser und Nahrung gibt, drängen sich Menschen und Tiere. Verheerende sanitäre Zustände sind die Folge und bedrohen die Gesundheit der Menschen - wie zuletzt 2017/2018 als die Cholerafälle im Bürgerkriegsland Südsudan in die Höhe schnellten. Zudem nehmen gewaltsame Auseinandersetzungen zu und verringern den sicheren Lebensraum weiter.

Die Arbeit von Tierärzte ohne Grenzen e. V.

TOG implementiert Projekte in Kenia, Somalia, Äthiopien, im Sudan und Südsudan, um PastoralistInnen in der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen. TOG nutzt dafür integrierte Ansätze und vernetzt Themenbereiche, Menschen und Institutionen. Dabei unterstützt TOG Menschen hauptsächlich über ihre Tiere. Für die Gesundheit der Menschen ist es selbstredend ebenso wichtig, dass die humanmedizinische Versorgung gewährleistet und die Umwelt, in der sie leben, intakt ist und zur (schonenden) Ressourcennutzung zur Verfügung steht. So bleiben Wurmbehandlungen bei Menschen allein sinnlos, wenn nicht auch die Hunde und Wiederkäuer, die mit den Menschen zusammenleben, entwurmt werden. Hier ist der One-Health-Ansatz handlungsleitend: Nur durch das gleichzeitige Zusammenspiel von Tier- und Humanmedizin sowie Umweltschutz kann sichergestellt werden, dass Epidemien entgegengewirkt wird und v. a. armutsassoziierte Krankheiten bezwungen werden. Grundsätzlich setzt TOG je nach Situation Schwerpunkte in seiner Arbeit. So sind in Krisenzeiten lebensrettende Maßnahmen erforderlich, während in stabileren Zeiten entwicklungsorientierte Interventionen vorgenommen werden und so auch langfristig die Lebenssituation verbessert und stabilisiert werden kann.

Widerstandskräfte stärken und Leben retten

In humanitären Krisen richtet TOG seine Arbeit schwerpunktmäßig darauf aus, den Zugang zu Wasser nicht abreißen zu lassen und Hungerkrisen aufzuhalten, indem die Tiere als Nahrungsmittelquelle erhalten bleiben.

Bei langsam beginnenden oder wiederkehrenden Krisen - z. B. Dürren - kann früh oder präventiv angesetzt werden, sodass die Widerstandskraft der Tiere gestärkt wird. Tiermedizinische Versorgung stellt TOG über TiergesundheitshelferInnen sicher, die ausgebildet und mit Ausrüstung sowie Medikamenten ausgestattet werden. ViehhirtInnen wird Wissen zur Herstellung und Vorratshaltung von Heu als Futtermittel oder zur Wasserbevorratung vermittelt. Für die effektivere Beweidung werden Weidenutzungspläne mit den Gemeinden erstellt. Dabei werden auch Rivalitäten zwischen konkurrierenden Clans in den Blick genommen oder geeignete Flächen unangetastet gelassen, so dass sie in Trockenzeiten genutzt werden können.

Bei weiter fortgeschrittenen Krisen oder jenen, die überraschend bzw. sehr schnell verheerend sind - z. B. eskalierende Konflikte oder Springfluten - muss Unterstützung sofort greifen. Dann ist oft die Dezimierung der Herden angezeigt, sodass ein kleinerer Herdenbestand größere Überlebenschancen hat. Das Fleisch geschlachteter Tiere steht damit direkt als Nahrungsmittel zur Verfügung oder kann verkauft werden. Das somit eingeworbene Geld kann dann für die dringendsten Bedarfe eingesetzt werden. Bei Wasserknappheit kann der Bau oder die Instandsetzung von Brunnen die Wasserversorgung für Mensch und Tier wiederherstellen. Grundsätzlich folgt TOG bei humanitären Krisen dem LEGS-Handbuch[1] und somit international anerkannten Richtlinien und Standards, die auf Basis langjähriger Erfahrungen entwickelt wurden.

Lebensgrundlage stabilisieren und Entwicklung fördern

Entwicklungsorientierte Interventionen von TOG tragen zur Erreichung der Sustainable Development Goals[2] bei und haben zumeist zum Ziel, die Begünstigten in ihren Fähigkeiten zu stärken. Auch in diesem Kontext werden TiergesundheitshelferInnen darin unterstützt, präventive und kurative tiermedizinische Dienstleistungen zu stellen, um bestehende aber schwache Strukturen zu ergänzen.

Durch die Verbesserung der Wasserinfrastruktur, der sanitären Situation und Hygiene leistet TOG einen direkten Beitrag für die Gesundheit der Menschen. So wird unter anderem durch die räumliche Trennung von Wasserstellen die Krankheitsübertragung zwischen Mensch und Tier verhindert. Die Einführung von hygienischen Praktiken bei der Herstellung und Verarbeitung von Milch und Fleisch verbessert die Qualität und Haltbarkeit von Nahrungsmitteln.

Außerdem werden PastoralistInnen Kenntnisse vermittelt, mit denen sie bessere Zuchtergebnisse erzielen und die Produktivität ihrer Tiere steigern können. In Farmer Field Schools werden Anbaumethoden gelehrt, um entweder Erträge von Ackerbäuerinnen und -bauern zu steigern oder ViehhalterInnen alternative oder ergänzende Nahrungsmittel- oder Einkommensquellen zu erschließen. Daneben wird sehr erfolgreich unter Frauen die Bildung von Kooperativen und Spargruppen gefördert, um höhere Erträge zu erwirtschaften oder neue wirtschaftliche Aktivitäten auszuprobieren, wie z. B. Garküchen, Gewächshäuser oder Baumschulen. Die Gewinne werden oft für den Schulbesuch der Kinder eingesetzt oder dienen als Investition in weitere Unternehmungen und so eröffnen sich weitere Entwicklungsmöglichkeiten.


Autorin Constanze Bönig ist Referentin für Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit bei Tierärzte ohne Grenzen e. V.


[1] Practical Action (Hg., 2015): Livestock Emergency Guidelines and Standards.

[2] FAO (2018): World Livestock: Transforming the livestock sector through the Sustainable Development Goals.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 1/2019, Seite 34 - 35
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 910
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2019

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