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MEER/147: Ein anderes Meer ist möglich - Kritik an der EU-Politik des Blauen Wachstums (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2014
Wer die Netze hat, hat die Macht? Infrastrukturen und Nachhaltigkeit

Ein anderes Meer ist möglich!
Kritik an der EU-Politik des Blauen Wachstums

von Kai Kaschinski



Als Jules Verne 1884 "20.000 Meilen unter dem Meer" schrieb, schuf er einen Klassiker der fantastischen Literatur. Im besten Stil des Science Fiction ließ er Kapitän Nemo mit fortschrittlichen maritimen Technologien bis dahin scheinbar unüberwindbare Grenzen überschreiten und mit seiner Nautilus in die unbekannten Tiefen der Meere eintauchen. Der Roman entstand zu einer Zeit, als die HMS Challenger die erste umfangreiche Forschungsreise zur Erkundung der Tiefsee abgeschlossen hatte. Es waren erste Schritte auf dem Weg dahin, unser Verständnis von den Ozeanen grundlegend zu verändern.

Annähernd 100 Jahre später legte Elisabeth Mann Borgese dem Club of Rome ihren Bericht "Die Zukunft der Weltmeere" vor. Auch ihre Arbeit veränderte die Perspektive auf die Ozeane. Generell forderte sie eine Politisierung, eine Demokratisierung des Verhältnisses zum Meer. Eine umweltpolitisch verantwortliche und global gerechte Meerespolitik war ihre Utopie. Energie, Rohstoffe und Nahrung aus dem Meer sollten die Probleme ihrer Zeit lösen, Ebenso wie heute galt es, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Umwelt und Entwicklung zu bestimmen.

Industrialisierung zunächst nur in der Fischerei

Wie 1884 klang die 1982 erschienene Studie von Mann Borgese wie Zukunftsmusik. Obwohl sich in der Zwischenzeit einiges getan hatte (Offshore-Förderung von Erdöl, Aquakulturbetriebe oder geringe Rohstoffförderung vom Meeresboden) war dies jedoch weit weniger fortgeschritten als die entsprechenden Entwicklungen an Land. Eine wirkliche Industrialisierung der Meeresnutzung fand bis dahin allein in der Fischerei statt. Die politische Bedeutung und das ökonomische Potential der Weltmeere hatten sich lediglich in den internationalen Verhandlungen zur UN-Seerechtskonvention angedeutet, während sie in der Öffentlichkeit lange Zeit ein Randthema blieben.

Dies änderte sich nur schrittweise unter anderem dank der Kampagnen zum Meeresschutz seitens der Umweltverbände. Wichtige Themen wie der Schutz der Wale, die Proteste gegen Ölverschmutzung und die Einleitung von Abwässern sowie die Kritik an der Überfischung trieben die Politisierung unseres Verhältnisses zum Meer voran. So wurde weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht erst nach dem Deepwater-Horizon-Desaster bewusst, wie verheerend die Konsequenzen einer zunehmenden Ausbeutung der Meere sein können. Der Meeresschutz wurde zu einem zentralen Bezugspunkt für die Meerespolitk insgesamt, führte diese aus ihrem Nischendasein und gab ihr in Deutschland politische Relevanz.

Parallel ist jedoch auch der Prozess der Erschließung der Meere kontinuierlich vorangeschritten. Das Zusammenspiel von Technologie und Wirtschaftswachstum bei der Eroberung neuer Naturräume hat mittlerweile einen gänzlich anderen Charakter als noch zur Zeit von Jules Verne. Mythen weichen Forschungsrobotern und Satellitenüberwachung. Beschleunigt hat sich diese Entwicklung in den letzten 10 Jahren. Der weltweit wachsende Nahrungs-, Energie- und Rohstoffbedarf hat die Offshore-Aktivitäten drastisch ansteigen lassen. Mehr als ein Drittel des Erdöls wird im Meer gefördert, über 40% der vermarkteten Fische und Meeresfrüchte stammen aus Aquakultur und zunehmend mehr Förderlizenzen werden gehortet, um alsbald auch den Unterwasser-Bergbau großflächig betreiben zu können. Konflikte um lukrative Meeresgebiete nehmen zu, da Nutzungsinteressen und nationalstaatliche Ansprüche miteinander konkurrieren. Es ist eine unruhige Phase des Umbruchs.

Ressourcenkrise als Legitimation

Die Ressourcenkrise scheint nicht nur der Treibstoff zu sein für die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich aufs Meer gestürzt wird, sondern zugleich auch Legitimation für die Vorhaben auf See. Dem rasanten Bevölkerungswachstum, stetig wachsenden globalen Rohstoffbedarf und Umweltschutz soll damit angeblich Rechnung getragen werden. Internationale Fachleute argumentieren in ihren Beiträgen zum Tiefseebergbau, dass dieser unausweichlich ist, wenn allen Menschen die gleichen Rohstoffmengen zur Verfügung stehen sollen, wie wir sie aktuell in Europa pro Kopf verbrauchen. Tiefseebergbau als utopisches Projekt, als Vehikel globaler Gerechtigkeit. Doch die Praxis entspricht diesen Argumentationen nicht.

EU-Meerespolitik

Die EU reagiert bereits seit einiger Zeit auf diese Dynamiken mit zahlreichen Initiativen, womit sie eine Vorreiterin in der politischen Neustrukturierung der Meereswelt ist. Ökonomische Expansion bleibt hierbei trotz aller Verweise auf soziale und umweltpolitische, marine Probleme das wesentliche Kennzeichen der EU-Meerespolitik, was an der zunehmenden Integration der Küstenräume und europäischen Meeresbecken in die Wirtschaftsstrategien sowie die Erschließung der Meeresnatur und ihre Inwertsetzung durch die unterschiedlichen Vorhaben erkennbar ist.

Schon in den 70er Jahren unternahm die Union, parallel zu den Verhandlungen um das UN-Seerechtsübereinkommen, mit der Gemeinsamen Fischereipolitik einen ersten isolierten Schritt hin zu einer übergreifenden Meerespolitik. Erst mit dem Integrierten Küstenzonenmanagement von 2002 wurde dann ein tatsächlich sektorübergreifendes Konzept eingeführt, dass die Küste als einheitlichen Wirtschaftsraum versteht und so versucht zusätzliches Wachstum zu generieren. Zentraler Bezugspunkt dieser Meerespolitik ist mittlerweile das "Blaue Buch" von 2007, das in seiner strategischen Ausrichtung weit über den Küstenraum hinausreicht. Darin wird die Strategie der integrierten Meerespolitik durch die EU-Mitgliedsstaaten festgehalten: "Europa verfügt über 70.000 km Küste an seinen Ozeanen und Meeren. (...) Etwa 40% des BIP und der Bevölkerung entfallen auf die Küstengebiete. Der Wohlstand Europas ist somit unlösbar mit dem Meer verflochten. (...) Europa kann dank seiner Seehäfen und seiner Schifffahrt vom rapiden Wachstum des internationalen Handels profitieren und eine führende Rolle in der Weltwirtschaft spielen, während die Gewinnung von Bodenschätzen, die Aquakultur, die blaue Biotechnologie und die neuen Tiefseetechnologien unternehmerische Chancen von zunehmender Bedeutung bieten. Ebenso wichtig sind der Nutzen, den uns das Meer in Bezug auf Erholung, Ästhetik und Kultur bietet, und seine Bedeutung für das Ökosystem. Die genuine Nachhaltigkeit der Meeresumwelt ist eine Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit dieser Wirtschaftszweige." Alle aktuellen Projekte der EU wie das Blaue Wachstum, die Sammlung von Meeresdaten und Meereskenntnissen, die maritime Raumordnung, die integrierte Meeresüberwachung und die Strategien für die Meeresbecken verweisen auf diese integrierte Strategie. Wissenschaft wird dabei im großen Stil in den Dienst der Eroberung der Meere gestellt.

Blaues Wachstum als Leitlinie

Am deutlichsten wird die kritisierte Zielrichtung der EU-Meerespolitik am Konzept des Blauen Wachstums von 2012. Die von neoliberalen Wirtschaftsideen geprägte Lissabon-Strategie soll mit dem "Blauen Wachstum" in See stechen. Neue Wachstumsbranchen werden in Aussicht gestellt: Aquakultur, Küstentourismus, Meeresbiotechnologie, Meeresenergie und Meeresbodenbergbau sind die zentralen Elemente, die dies gewährleisten sollen. Wie die Gesamtstrategie vernachlässigt auch das "Blaue Wachstum" dabei umwelt-, sozial- und entwicklungspolitische Fragen. Ein Weiter so erscheint vor diesem Hintergrund in der EU wesentlich naheliegender zu sein als eine Entwicklung, die überzeugend einen verantwortungsvollen Meeresschutz und Ziele Nachhaltiger Entwicklung formuliert. Wachstumsziele verdrängen Fragen nach planetaren Grenzen, Alternativen und gerechter Verteilung.

Mit der Meeresstrategierahmenrichtlinie existiert zwar eine umweltpolitische Ergänzung der europäischen Meerespolitik, aber auch hier macht die vorwiegend ökonomische Dynamik jede Chance zunichte eine tatsächlich umweltschonende Meerespolitik zu entwickeln. Die Integration entwicklungs- und ernährungspolitischer Aspekte in eine übergeordnete maritime Gesamtstrategie fehlt gänzlich. Eine Debatte, die die Öffentlichkeit einbezieht und die Meerespolitik breit diskutiert, findet in keinem der Bereiche statt. Transparenz und Partizipation sind nachrangig. Es ist ein weitestgehend intern stattfindender Prozess, der die nassen 70% unseres Planeten erschließt. Es werden Fakten geschaffen, ohne dass jemals die Gelegenheit bestand eine Antwort auf die Frage "Welches Meer wollen wir?" zu geben.

Regulierung der Eingriffe in die Natur

Daher muss der Wettlauf um die Meeresressourcen, die sich zuspitzenden Konflikte und die unkontrollierte Eroberung der letzten marinen Naturräume soweit es geht gestoppt werden. Im Gegenzug gilt es eine Nutzung der Meere einzufordern, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, die betroffenen Menschen einbezieht und die Eingriffe in die Natur umfassend reguliert. Die Meere müssen als Gemeingut erhalten bleiben und die Privatisierung von Meereslebewesen, Fangrechten und Rohstofflagerstätten verhindert werden. Internationale Übereinkommen wie die UN-Seerechtskonvention sind entgegen allen Tendenzen zur Nationalisierung zu reformieren und zu erweitern. Transparenz und Partizipation müssen von der regionalen Ebene an gestärkt werden. Meeresschutz hat auf Rückholbarkeit, ökosystemaren Betrachtungen und Regenerierungsfähigkeit zu beruhen. Zudem müssen Schutzgebiete mit Nullnutzungszonen geschaffen werden. Ebenfalls sind Ernährungssicherheit und Verteilungsgerechtigkeit weltweit zu gewährleisten. Ein Baustein dafür sollten Prioritäten beim Zugang zum Meer für die lokalen Bevölkerungen und die Kleinfischerei sein.

Der Autor ist Projektleiter von "Fair Oceans", Koordinator der AG Meere und einer der Vorsitzenden des »Vereins für Internationalismus und Kommunikation e. V.«.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 2/2014, Seite 4-5
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2014