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KATASTROPHEN/107: Nepal - Überschwemmungsopfer weitgehend auf sich allein gestellt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. März 2015

Nepal: Wenn ein Baum die einzige Rettung ist - Überschwemmungsopfer weitgehend auf sich allein gestellt

von Mallika Aryal


Bild: © Mallika Aryal/IPS

Raj Kumari Chaudhari vor dem Mangobaum, der sie vor dem Ertrinken bewahrte
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Bardiya, Nepal, 2. März (IPS) - Jeden Morgen macht sich Raj Kumari Chaudhari zum anderen Ende ihres Heimatdorfes Padnaha im nepalesischen Distrikt Bardiya auf, um unter einem imposanten Mangobaum ein Dankgebet zu sprechen. "Der Baum trägt zwar keine Früchte", sagt sie. "Aber er hat mehr für uns getan als die Regierung, indem er uns vor dem sicheren Tod bewahrte."

In der Nacht des 14. August 2014 hatten anhaltende Niederschläge die gesamte Ortschaft weggespült und die Menschen zur Flucht gezwungen. Auch Chaudharis Familie rannte um ihr Leben. Während ihr Mann mit der ältesten Tochter entkam, schaffte sie selbst es mit den jüngeren Zwillingen nur bis zum Mangobaum. Mutter und Töchter, gefolgt von elf weiteren Dorfbewohnern, kletterten den Baum hinauf und waren gerettet.


Bild: © Mallika Aryal/IPS

Raj Kumari, Hira Lal Chaudhari, ihre elfjährige Tochter und die beiden achtjährigen Zwillinge
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Bardiya, einer von drei Distrikten im mittleren Westen Nepals, wurde im vergangenen Jahr am schlimmsten von Überschwemmungen heimgesucht. Nach Angaben des dortigen Komitees für Katastrophenhilfe waren mehr als 93.000 Menschen betroffen. 32 ertranken, 13 gelten bis heute als vermisst. Allein in Padnaha, wo die Chaudhari-Familie lebt, verloren etwa 5.000 Menschen ihr Hab und Gut.

2014 war für Nepal das Jahr mit der bislang höchsten Zahl von Naturkatastrophenopfern. Das Innenministerium zählte landesweit 492 Tote. Die Unwetter zwischen April 2014 und Februar 2015 schädigten insgesamt 37.000 Familien.


Fehlen langfristiger Strategien

Beobachtern zufolge fehlt es an nachhaltigen staatlichen Strategien, um die Gefahren für die Menschen abzumildern. "Diejenigen, die ihr Land verloren, sind gewissermaßen staatenlos geworden", berichtet Madhukar Upadhya, ein Experte für Überschwemmungen und Erdrutsche.

Nachdem 2008 der Koshi-Fluss im Osten Nepals über seine Ufer getreten war, richtete die Regierung ein Zentrum für Katastrophenhilfseinsätze ein. Auch verfügen Polizei und Armee inzwischen über eigene Katastrophenschutzabteilungen, die allerdings in erster Linie für Rettungseinsätze zuständig sind.

Die Chaudhari-Familie und die meisten ihrer Nachbarn gehören der Gemeinschaft der Tharu an, einer indigenen Volksgruppe im Westen des Landes. Sie sind ehemalige 'Kamaiya', Menschen, die einst in der Schuldknechtschaft lebten, die erst seit 2002 abgeschafft ist.

Nach ihrer Befreiung mussten die Chaudharis das Land ihrer Dienstherren verlassen. Jahrelang lebten sie unter freiem Himmel. Vor zwei Jahren wies ihnen die Regierung ein Grundstück in Padnaha zu. "Es hat lange gedauert, bis wir endlich ein Dach über dem Kopf hatten. Die Kinder fühlten sich gerade heimisch, als die Überschwemmung über uns hereinbrach", erzählt Chaudhari.

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Die elfjährige Saraswati Chaudhari and ihre Zwillingsschwestern Puja und Laxmi haben sich für die Schule fertiggemacht
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24 Stunden hatte sie mit ihren Kindern und Nachbarn auf dem Baum zugebracht. Erst dann konnten sie herabsteigen und in einer Schule Zuflucht suchen. "Wenigstens ist uns unser Land geblieben", meint die 18-jährige Sangita, eine Schicksalsgenossin.

Mit Unterstützung des Kinderhilfswerks 'Save The Children', das die Baumaterialien bereitstellte, und einem nepalesischen Hilfsprogramm, das den Wiederaufbau durch die Betroffenen zwei Wochen lang täglich mit umgerechnet 3,50 US-Dollar pro Familie unterstützte, konnte die Not gelindert werden. Innerhalb weniger Tage konnten die ersten Hütten aufgebaut werden.


Land extrem katastrophenanfällig

Heute pflanzt Chaudhari wieder Gemüse im ihrem Garten an. Doch die Angst vor einem neuen Unglück hat sie nicht verlassen. Experten warnen, dass in Nepal der Klimawandel in der Monsunzeit jederzeit zu Überschwemmungen und Erdrutschen führen kann. Das 'Climate and Development Knowledge Network' (CDKN) schätzt, dass die Klimaveränderungen und extremen Wetterphänomene den Staat jedes Jahr zwischen 1,5 und zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten.


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Kalpana Gurung in ihrem Gemüsegarten
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Zwölf Überschwemmungen im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte haben jedem betroffenen Haushalt durchschnittlich 9.000 Dollar Verluste beschert. Das jährliche Durchschnittseinkommen in dem Land liegt bei etwa 2.700 Dollar pro Familie. Die ärmsten Menschen in den katastrophenanfälligen Gebieten sind finanziell noch schlechter dran.

Seit 1983 kommen bei den Überschwemmungen in Nepal im Durchschnitt jährlich 283 Menschen ums Leben. Mehr als 8.000 Häuser werden zerstört und fast 30.000 Familien geschädigt. "Wir sind inzwischen daran gewöhnt, unsere Existenzen immer wieder neu aufbauen zu müssen", sagt Chaudhari. "Ich wünsche mir aber nichts sehnlicher, als dass meinen Töchtern dies irgendwann einmal erspart bleibt." (Ende/IPS/ck/2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/02/sometimes-a-single-tree-is-more-effective-than-a-government/

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IPS-Tagesdienst vom 2. März 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2015

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