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KATASTROPHEN/083: Fukushima, nach Jahr drei (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt - Rundbrief 23, Winter 2013/2014

Fukushima, nach Jahr drei
Das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden wird erst langsam deutlich, Bevölkerung und Aufräumarbeiter sind auf sich allein gestellt.

Ein Reisebericht von Angelika Claußen



Stellen wir uns vor, dass zum Beispiel im AKW Gundremmingen ein Super-GAU geschähe. Und dass es die Bundesregierung in erster Linie RWE und der bayrischen Staatsregierung überließe, die Folgen zu bewältigen. Und dass sie Unterstützung aus dem Ausland aktiv verhinderte. Absurd? In Fukushima ist das Realität. Die Regierung hat die Verantwortung an Tepco abgegeben und an die Yakuza, die japanische Mafia, die eng mit zahlreichen Baukonzernen verbandelt ist. Diese führen als Subunternehmer mit angeworbenen armen Hilfsarbeitern die Dekontaminationsarbeiten durch. Gesundheitsaufsicht und medizinische Kontrollen für die Arbeiter fehlen ebenso wie jegliche Kontrolle der Subunternehmen. Die Präfekturverwaltung Fukushima sowie betroffene Kommunalbehörden sind mehr oder weniger auf sich gestellt; Bevölkerung und Aufräumarbeiter mit den Folgen der Katastrophe weitgehend allein.

Strahlenbedingte Erkrankungen

Die Bevölkerung der Präfektur Fukushima und mancher an Tokio angrenzender Distrikte sowie die Aufräumarbeiter leiden schon jetzt an verschiedenen strahlenbedingten Erkrankungen, wie wir sie aus Tschernobyl kennen. So zeigen Kinder aus den belasteten Gebieten deutliche Zeichen von Immunschwäche im Blut: Banale Infektionskrankheiten heilen schlecht, chronische Krankheiten wie Asthma sind schwerer zu behandeln. Die meisten Folgen des Super-GAUs werden erst nach vier bis 30 Jahren sichtbar werden, vor allem die Krebserkrankungen, die kindlichen Missbildungen und die Nichtkrebserkrankungen wie schwere Störungen der Schild- und Bauchspeicheldrüse und Gefäßerkrankungen. Alarmierende Zeichen jedoch gibt es schon heute. So diagnostizierten Ärzte bei Kindern und Jugendlichen aus der Region bisher 26 Fälle von Schilddrüsenkrebs, bei 33 weiteren besteht der Verdacht. Kindlicher Schilddrüsenkrebs ist eine der ersten sichtbaren Folgen erhöhter Strahlenbelastung. Normalerweise tritt er unter einer Million Kindern etwa ein bis zwei Mal auf. In Fukushima wurden bislang Testergebnisse für etwa 226.000 von 400.000 Kindern veröffentlicht. Bei der Hälfte wurden Knoten und Zysten in der Schilddrüse entdeckt. Über Kinderleukämien, Fehlgeburten und erhöhte Säuglingssterblichkeit ist nichts bekannt - es werden schlicht keine entsprechenden medizinisch-epidemiologischen Untersuchungen durchführt.

Dekontaminationsarbeiter dürfen seit Dezember auch offiziell in der 20- bis 30-Kilometerzone um Fukushima übernachten; die Strahlenbelastung im Jahr liegt dort bei bis zu 20 Millisievert. Örtliche Behörden hatten sich beklagt, die Arbeiten gingen zu langsam voran, weil die Arbeiter jeden Morgen erst von außerhalb anreisen müssten. Auch die Bevölkerung wird dazu ermutigt, in solchermaßen belastete Gebiete zurückzukehren. Zum Vergleich: In Tschernobyl zählten Gebiete, in denen mit einer Strahlenbelastung von 20 Millisievert im Jahr zu rechnen war, zur Sperrzone, ab fünf Millisievert pro Jahr bestand Umsiedlungspflicht, zwischen ein und fünf Millisievert pro Jahr hatte die Bevölkerung zumindest das Recht umzusiedeln.

Spielen auf Atommüll

In Shirakawa haben die mit der Dekontaminierung beauftragten Unternehmen die mit radioaktiv belasteter Erde gefüllten Müllsäcke einfach in öffentlichen Parks liegen gelassen. Auf den Müllsackbergen spielten Kinder ...

Ärzten, die bei ihren Patienten gründliche Gesundheitschecks durchführen wollen, verbieten die Behörden und die zuständigen Krankenversicherungen häufig, diese Untersuchungen zu machen. Ein betriebsärztliches Programm für Vorsorgeuntersuchungen auf Symptome der akuten Strahlenkrankheit, Krebs und Linsentrübung fehlt. Mediziner berichteten sogar, dass sie Arbeiter mit Verdacht auf akute Strahlenkrankheit kostenlos behandelten, weil sich Betriebskrankenkassen für nicht zuständig erklärten.

Dazu passen die jüngst bekannt gewordenen Knebelverträge, welche die IAEO mit den Provinzregierungen von Fukushima und Fukui abgeschlossen hat: Auf Verlangen eines Partners sollen etwa die Daten von Gesundheitserhebungen geheim gehalten werden.

Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und frühere Vorsitzende der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW). Sie reiste im Oktober 2013 nach Fukushima.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Selbstorganisierter Import unverstrahlten Gemüses
Atommüllsäcke

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Quelle:
Rundbrief 23, Winter 2013/2014, Seite 7
Herausgeber: .ausgestrahlt
Marienthaler Straße 35, 20535 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2014