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KATASTROPHEN/069: Fukushima kleingeredet - Schockierte UNSCEAR-Mitglieder protestieren (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 638-639 / 27. Jahrgang, 1. August 2013

Folgen von Fukushima / Atompolitik / Atomwirtschaft
Schockierte UNSCEAR-Mitglieder aus Belgien protestieren

von Thomas Dersee



"Man geht sogar noch hinter die Lehren aus Tschernobyl und anderen Studien zurück." - Die deutschen Mitglieder schweigen.

Die belgischen Delegierten bei UNSCEAR, dem wissenschaftlichen Komitee der Vereinten Nationen zur Wirkung der Atomstrahlung, waren sehr ungehalten über den Bericht, der auf der letzten Sitzung dieses Gremiums Ende Mai 2013 in Wien über die Folgen der Katastrophe von Fukushima vorgelegt wurde. Das berichtete der Journalist Marc Molitor im Newsletter des Belgischen Rundfunks und Fernsehens rtbf.be/info am 6. Juli 2013. [1]

Molitor zitiert die belgische Delegation unter der Leitung von Hans Vanmarcke, Direktor der Abteilung Strahlenschutzforschung am belgischen Atomforschungszentrum in Mol (SCK), mit dem Resümee: "Alles erscheint hergerichtet und redigiert, um die Folgen der Katastrophe von Fukushima kleinzureden. Man geht sogar noch hinter die Lehren aus Tschernobyl und anderen Studien zurück." Vanmarcke berichtete demnach der belgischen Vereinigung für Strahlenschutz (ABR) sehr kritisch über die vorläufigen Schlußfolgerungen von UNSCEAR. Nach Informationen des Journalisten Molitor waren die Diskussionen bei der UNSCEAR-Tagung so angespannt und die belgischen Teilnehmer so schockiert, daß sie drohten, den Abschlußbericht nicht zu unterzeichnen. Einige wollten sogar die Tagung verlassen. Man habe ihnen deshalb in Aussicht gestellt, ihre Einwendungen und die einiger anderer, vor allem englischer Experten, in einem neuen, umgearbeiteten Dokument zu berücksichtigen. Die Vergangenheit habe allerdings gezeigt, so Vanmarcke laut Molitor, daß das Sekretariat und die Berichterstatter über die Agenda und die endgültige Orientierung der Texte entschieden. Daher sei größte Wachsamkeit geboten, damit die endgültige Version auch die Debatten genau wiederspiegelten. UNSCEAR soll den Bericht im Herbst 2013 der Vollversammlung der Vereinten Nationen vorlegen.

Im Allgemeinen, so berichtet Molitor, sei man sich einig, daß Japan großes Glück gehabt habe. Die Auswirkungen der Katastrophe von Fukushima würden geringer sein als die von Tschernobyl. Jedoch seien die radioaktiven Niederschläge auf das Land keineswegs zu vernachlässigen, ebensowenig die Konsequenzen für die Gesundheit und die Zukunft. Betroffen sei zudem ein Gebiet mit dicht besiedelten Städten wie Fukushima und Koriyama mit 300.000 Einwohnern.

Zahlreiche Daten des UNSCEAR-Berichts seien lükkenhaft oder würden auf kritikwürdige Weise dargestellt, wurde von den Belgiern gerügt. Die Dosisabschätzungen für die Bevölkerung würden durch wenig sachdienliche Mittelwertbildungen verwässert. Das gelte auch für die Strahlendosen der mehreren zehntausend Arbeiter auf dem Gelände des Unglückskraftwerks, über die die japanischen Behörden und TEPCO keine Einzelheiten bekanntgeben. Es sei offensichtlich, daß keine Jodtabletten verteilt wurden und die Schilddrüsenuntersuchungen im allgemeinen zu spät begonnen haben. Daher verbiete es sich im Augenblick, von lediglich geringen Effekten in der Zukunft zu sprechen, wie es der UNSCEAR-Bericht tut.

Die UNSCEAR-Analyse schließe a priori jedes potentielle Risiko für den Fötus und für Erbschäden aus, wird weiter kritisiert. Um das Krebsrisiko brauche man sich keine allzugroßen Sorgen machen, denn die Dosen seien zu schwach, um einen sichtbaren Effekt hervorzurufen, behauptet der UNSCEAR-Bericht. Solche Hypothesen haben einige Experten, darunter auch die belgischen, geärgert, berichtet Molitor. Denn erstens seien die Dosen schlecht dargestellt worden und zweitens hätten zahlreiche Forschungen der letzten Jahre und die Lehren aus Tschernobyl gezeigt, daß auch schwache Dosen einen Effekt hervorrufen können. UNSCEAR versuche erkennbar, diese Entwicklung der Wissenschaft wieder zurückzudrehen. In den letzten Jahren habe ein Teil der Vertreter verschiedener Länder mehrfach, wie auch in der jetzigen Diskussion, versucht, die Idee einer Schwelle von 100 Millisievert durchzusetzen, unterhalb der keine gesundheitlichen Auswirkungen zu befürchten seien. Zur Erinnerung: Die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) sprechen dagegen von einer Dosis von 1 Millisievert pro Jahr für die Allgemeinbevölkerung und 20 Millisievert pro Jahr für die Beschäftigten, die normalerweise nicht überschritten werden sollen, obgleich punktuell im Katastrophenfall und nicht auf Dauer Überschreitungen hingenommen werden sollen.

Studien hätten in der letzten Zeit gezeigt, daß Dosen im Bereich von 10 bis 100 Millisievert Effekte zeitigen können, und zwar nicht nur bei Krebserkrankungen, sondern auch bei Schäden am Embryo, bei erblichen Schädigungen, Herz-Kreislauferkrankungen und Grauem Star.

UNSCEAR arbeitet zur Zeit auch an einem Bericht über Kinder und Strahlenbelastung. Berichterstatter ist hier ein amerikanisches Team um Professor Fred Mettler. Er ist einer der Autoren des Berichts des Tschernobyl-Forums, der äußerst umstritten war, weil er die Auswirkungen der Katastrophe von Tschernobyl kleinredete. In seinem jetzigen Bericht über die Kinder schließe er a priori eine ganze Reihe von Gebieten, Studien und Befunden aus, die verschiedene Auswirkungen geringer Strahlendosen auf Kinder zeigen, schreibt Molitor. Er nehme noch nicht einmal die Berichte der Euratom-Expertengruppe zu diesem Thema zur Kenntnis.

Auch die innere Strahlenbelastung des Organismus durch inkorporierte Radionuklide leugne der Mettler-Bericht oder schneide das Problem kaum an. Es habe aber mehr und mehr den Anschein, daß die Auswirkungen unterschiedlich sein können, je nachdem, ob die Radionuklide gleichmäßig im ganzen Organismus verteilt sind oder aber sich in bestimmten Gegenden konzentrieren. Eine ähnliche Dosis habe demzufolge je nach Umgebung, in der sie wirkt, nicht dieselbe Wirkung. Das treffe sich mit den Hypothesen, die der belorussische Gelehrte Juri Bandashevsky schon vor Jahren bei der Untersuchung zahlreicher Auswirkungen von Tschernobyl aufgestellt habe.

Die Untersuchung erblicher Effekte sei beim Menschen schwierig, weil mehrere Generationen beobachtet werden müssen, gestehen die Kritiker zu. Mehrere Studien hätten aber bereits besorgniserregende Effekte bei Tieren gezeigt (etwa Mousseau und Moller über die Verschlechterung der Biodiversität in Tschernobyl, sowie Arbeiten von Gontcharova aus Belarus). Aber auch diese Arbeiten würden von Mettler nicht berücksichtigt, ebensowenig die wichtigen Studien der staatlichen französischen Forschungs- und Sachverständigenorganisation IRSN (Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit; Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire), die zahlreiche neurologische Veränderungen und Veränderungen am Herzen bei Ratten gezeigt haben. Diese Forschungen standen im Zusammenhang mit den kardiovaskulären Problemen der Kinder von Tschernobyl.

Woher kommen die Bestrebungen, die wesentlichen Konsequenzen von Fukushima und Tschernobyl kleinzureden und hinter die Ergebnisse verschiedener neuerer Studien zum Strahlenschutz zurückzugehen, fragt der Journalist Marc Molitor. Es gebe eine Strömung, die im wesentlichen russische, belorussische, amerikanische, polnische und argentinische Experten umfasse. Eine ganze Anzahl von ihnen betätige sich bei UNSCEAR und gleichzeitig bei der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) und der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP). Einer von ihnen, der Argentinier Abel Gonzales, habe so vielfältige Funktionen, auch in der argentinischen Nuklearindustrie, daß ein belgischer Experte bei einer früheren Sitzung diese Interessenvermischung in einem Brief offen kritisierte. UNSCEAR habe aber die Aufnahme dieses Schreibens in das Sitzungsprotokoll verweigert. Gonzales, Mettler und der Russe Belanov (ehemals ebenfalls IAEA und Redakteur eines UNSCEAR-Berichtes) seien auf einer Linie mit der Tendenz, die der französische Professor Tubiana vertrete, nämlich jeden Gedanken an einen negativen Effekts geringer Dosen strikt abzulehnen. Zusammen bildeten sie einen sehr aktiven Drehpunkt zur Verteidigung ihrer These. Auch besetzten sie strategische Positionen bei UNSCEAR und in der IAEA, in deren Räumlichkeiten UNSCEAR seine Versammlungen abhält. Die Japaner teilten zudem heutzutage diesen Standpunkt, denn sie seien bestrebt, die (gesellschaftlichen) Auswirkung der Katastrophe zu begrenzen und ihre stillgelegten Reaktoren wieder anzufahren.

Die Repräsentanten anderer Länder, wie etwa China oder Indien sagten nichts und ließen die Texte von UNSCEAR passieren, berichtet Molitor weiter. Die Experten des staatlichen französischen Zentrums für Kernenergie CEA (Commissariat à l'énergie atomique et aux énergies alternatives) und von IRSN äußerten sich ebenfalls kaum, hätten aber in der Vergangenheit die Zurückhaltung von Informationen durch die Japaner beklagt. Auch Schweden und Deutsche schwiegen.

Es gehe den offiziellen Repräsentanten der Mitgliedsländer ganz offensichtlich darum, die Ergebnisse von UNSCEAR und die Geopolitik der Kernenergie zu parallelisieren, obgleich in jedem Land unterschiedliche Tendenzen unter den Experten auftreten können, erklärt Molitor. Die Gegenposition sei von den belgischen Experten ausgegangen, unterstützt von einigen Engländern und dem Vorsitzenden der Australier. Auch die europäischen Experten, die an den Euratom-Versammlungen teilnehmen, seien wegen der Wirkungen geringer Strahlendosen sehr viel beunruhigter als die "Kleinredner" von UNSCEAR.

Wo, fragt der Journalist Marc Molitor, bleibt hier die wissenschaftliche Debatte und der Zweifel? Die Leugner eines Effektes geringer Dosen seien bestrebt, ihre Position im UNSCEAR-Bericht festzuschreiben und im kommenden Herbst von der UNO gewissermaßen verbürgen zu lassen. Die anderen, darunter die Belgier, sehen darin einen unakzeptablen Rückschritt hinter den neuesten Kenntnisstand im Strahlenschutz.



Anmerkung

[1] Marc Molitor: Les délégués belges indignés: "On minimise les conséquences de Fukushima", rtbf.be/info 6 juillet 2013,
www.rtbf.be/info/societe/detail_les-delegues-belges-indignes-onminimise-les-consequences-defukushima?id=8042566; nach einer Übersetzung aus dem Französischen von Annette Hack


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_13_638-639_S01-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, August 2013, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2013