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KATASTROPHEN/009: 25. Jahre seit Tschernobyl - Informationspolitik damals und heute (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 161 - April/May 2011
Die Berliner Umweltzeitung

25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl
Informationspolitik damals und heute

Von Christoph Vinz


Am 26. April 1986 explodierte Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl (bei Pripjat, Ukraine). Als Ursachen für den GAU gelten heute schwerwiegende konstruktive Mängel des Kraftwerktyps, ungenügendes Havarietraining sowie Planungsund Bedienfehler der Mannschaft.


Nur eine zügellose Kampagne?

Erst zwei Tage nach dem verheerenden Unglück in Tschernobyl meldete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS um 21 Uhr zunächst einen Unfall. Dreißig Minuten später sprach die Nachrichtensendung "Wremja" von einer Havarie und formulierte euphemistisch, dass der Reaktor in Tschernobyl beschädigt worden sei. Es musste noch ein weiterer Tag vergehen, bis eine sowjetische Nachrichtenquelle sich zu einer "Katastrophe mit zwei Toten" durchrang.

Auch in Staaten des damaligen Ostblocks operierten die zentral gesteuerten Medien nach gleichem Muster. So beglückte die "Berliner Zeitung" ihre Leser mit optimistischen Reportagen, die sich über die "vorbildliche Ordnung und Solidarität unter den Sowjetmenschen im Katastrophengebiet" verbreiteten.

Und Partei- und Staatschef Gorbatschow verstieg sich in einer Fernsehansprache zu einer der typischen Formulierungen, indem er - die Katastrophe bewusst herunterspielend - von einer "zügellosen antisowjetischen Kampagne" in den "Massenmedien einiger NATO-Länder" fabulierte. Einer der im AKW Beschäftigten phantasierte damals vor laufenden Kameras, auftragsgemäß und in Heldenpose: "Sowjetische Strahlung ist die beste Strahlung..." Ginge es hier nicht um Menschenleben, könnte man nur lachen.

Die sich in den Westmedien informierenden Ost-Berliner machten ab Mai/Juni 1986 einen weiten Bogen um plötzlich angelieferten "frischen" grünen Salat und andere ungewöhnliche Raritäten.

Die radioaktive Wolke, die in Tschernobyl freigesetzt wurde, verseuchte weite Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Ganze Landstriche in der Umgebung des AKW wurden völlig unbewohnbar. Hunderttausende Einwohner der Ukraine und des benachbarten Weißrussland mussten deswegen (zwangs-)umgesiedelt werden.

Gut einen Monat nach der verheerenden Explosion erklärte kaltschnäuzig der 1. Stellvertretende Gesundheitsminister der UdSSR:

"Der Genuss von täglich zwanzig Zigaretten schadet der Gesundheit mehr als gegenwärtig der ständige Aufenthalt rund um die 30-Kilometer-Gefahrenzone des Reaktors".

Soweit einige Schlaglichter auf Teile damaliger Informationspolitik.


Januskopf aktueller Berichterstattung

Wie werden heute, 25 Jahre danach, die atomare Katastrophe und ihre Folgen in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Im Jahre 2007 beschreibt ein deutsches Nachrichtenmagazin unter der bezeichnenden Schlagzeile "Legenden vom bösen Atom" die Zustände im sibirischen Atomwerk "Majak".

Hier sei lange Zeit die nukleare Verseuchung überschätzt worden, meint der Autor, der in seinem Beitrag die Arbeitsbedingungen zwar als nicht ungefährlich einschätzt, aber zu der Feststellung kommt, dass "die Schrecken weit geringer sind als gedacht." So hätten die "Sowjetarbeiter" nicht einmal Mundschutz bei aufsteigenden Plutoniumdämpfen getragen, "dennoch war die Schädigung der Betroffenen erstaunlich gering." Und weiter heißt es in der Reportage: Mitarbeiter eines EU-Projekts hätten über 6.000 Männer untersucht, von denen bisher 301 Personen an Lungenkrebs verstorben seien. Lediglich 100 Fälle könnten auf ionisierende Strahlung zurückgeführt werden - alle anderen auf Folgen hohen Zigarettenkonsums. Wie hatte doch der Stellvertretende Gesundheitsminister der UdSSR getönt?

Weiter wird eine Bilanz zitiert, die fünfzehn Jahre nach dem Tschernobyl-GAU veröffentlicht wurde. Hier seien angeblich etwa 500.000 Tote aufgelistet worden.

Das wäre "Untergangsfolklore", also schlicht Unsinn. Mehr Tote gäbe es - man höre und staune! - angeblich unter den Urankumpeln Ostdeutschlands. Der Autor des "aufklärenden" Beitrages unterstellt im weiteren Text "Bedrohungspsychosen" und gebraucht den Begriff "Nuklear-Phobiker" für Personen, die nur ungern kontaminierte Pilze aus bayerischen Wäldern verzehren.

Erst am Ende seines Elaborats deutet der Autor in einem Anflug von Realitätssinn an, dass die Wirkung der Transurane und schnellen Neutronen, der Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlen bedrohlich bleibe und den Forschern noch immer Rätsel aufgebe.

Im September 2010 vermeldet das gleiche Nachrichtenmagazin zur üppigen Flora von Tschernobyl, dass diese der Verstrahlung trotze. Es grüne und blühe ringsum, und das lokale Ökosystem habe sich an die kontaminierten Zustände erstaunlich gut angepasst. Nun muss sich nur noch der geneigte Leser mit seinen Vorbehalten ein wenig anpassen...

In seinem 1992 in deutscher Sprache erschienenen Buch "Tschernobyl: Die Wahrheit" schreibt dagegen der renommierte ukrainische Kernphysiker Wladimir M. Tschernousenko (1996 in Deutschland verstorben), einer der drei "Chefliquidatoren" von Tschernobyl, dass es 1988 bei allen beobachteten Pflanzenarten zu einer bemerkenswerten Zunahme der Chromosomenaberrationen kam. Und weiter führt er aus, dass bei Menschen zu den schwerwiegendsten physischen Auswirkungen einer Strahlenexposition Leukämie und Tumore zählen. Hinzu kämen die Verminderung der Fortpflanzungsfähigkeit, Grauer Star und allgemein die Verkürzung der Lebenszeit. Genetische Schäden zeigten sich erst bei den Nachkommen bestrahlter Personen und könnten über Generationen unentdeckt bleiben.

Zu den technischen Problemen meint Tschernousenko, dass kein Land der Welt genügend Erfahrung mit der Aufbereitung radioaktiv verseuchten Materials habe. Auch deshalb fordert er explizit die Entwicklung und Nutzung alternativer Energiequellen.

Plänen, die verstrahlte Zone wieder in den Zustand vor dem Unfall zurückzuversetzen, erteilt der Wissenschaftler eine klare Absage.

Abschließend ein Zitat aus der "Berliner Zeitung" vom März 1999, erschienen aus Anlass des 1979 erfolgten Störfalls in Harrisburg (USA): "Zwanzig Jahre nach dem Störfall von Harrisburg sind noch immer nicht alle radioaktiv belasteten Kraftwerksteile entsorgt. 20 bis 80 Millionen Dollar sollte die Sanierung...nach Schätzungen von 1979 kosten. Bis jetzt wurde bereits mehr als eine Milliarde Dollar ausgegeben. Ein Ende der Arbeit ist nicht absehbar."

Und der SPIEGEL (Nr. 51, 2010) informiert in einem kurzen Bericht ("Moskaus teure Sünden") zum Stand des sogenannten "Sarkophags" von Tschernobyl: "Die russische Regierung will für die Folgen des Atomunfalls von Tschernobyl nicht zahlen..."

"...Rund zwei Milliarden Euro kostet das Projekt (die neue Schutzhülle), derzeit fehlen jedoch noch 740 Millionen. Russland, das sich gern als Rechtsnachfolger der Sowjetunion bezeichnet, hat von allen Geberländern den kleinsten Beitrag zugesagt..."

"...Ungleich großzügiger zeigt sich der Kreml bei der Finanzierung neuer Atommeiler... Den Überlebenden von Tschernobyl zahlt der Kreml eine Monatsrente von nur rund 50 Euro."

Nach wie vor ist die Atomkraft eine nicht hundertprozentig zu beherrschende Technologie mit enormen Risiken. Trotz jahrzehntelangem Einsatz "im Dienste der Menschheit" kann die Atomindustrie noch immer keine Lösung der Abfallproblematik vorweisen. Warum also wider besseres Wissen und gegen alle Erfahrungen an dieser Technologie festhalten?

Bei Redaktionsschluss erreichen uns apokalyptische Bilder und Nachrichten aus Japan. Ohne die Situation endgültig beurteilen zu können, erscheint es jedoch zwingend, dass die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in Deutschland und der EU das Problem AKW neu bewerten und notwendige Schlussfolgerungen ziehen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Tödliche Idylle
Hilflosigkeit


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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 161 - April/May 2011, S. 3
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011