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RECHT/094: Möglichkeiten, den Atomausstieg zu unterlaufen oder zu beschleunigen (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 6 / Herbst 2009

"Nur die Zahlen verändern"

Gerhard Roller, Spezialist für Atomrecht, über die Schlupflöcher des Atomgesetzes und die Möglichkeiten, den Atomausstieg zu unterlaufen oder zu beschleunigen

Interview: Armin Simon


Nach neun Jahren erst zwei von 19 AKW vom Netz: Wie verlässlich ist der Atomausstieg?

GERHARD ROLLER: Der "Atomkonsens" selbst ist nur ein Gentlemen's Agreement, entscheidend ist das Atomgesetz. In das sind die Regelungen des "Konsens" eingeflossen. Aber ein Gesetz ist niemals für die Ewigkeit gemacht.

Eine neue Bundesregierung könnte also den Atomausstieg verändern?

GR: Sie könnte ihn verlangsamen oder beschleunigen oder aus dem Ausstieg wieder aussteigen. Aber nur in gewissem Umfang: Anlagen, die einmal abgeschaltet sind, können kaum wieder ans Netz genommen werden. Das geht technisch nicht.

Die Demo in Berlin hat gezeigt, wie stark die Anti-Atom-Bewegung noch immer ist. Wer den Atomausstieg aufweichen will, dürfte also nach unauffälligen Wegen suchen. Welche Schlupflöcher bietet das Atomgesetz?

GR: Es gibt Stellschrauben, an denen man drehen kann. Das heißt, man muss nicht unbedingt eine sehr große Veränderung vornehmen. Die Restlaufzeiten etwa sind ja in Form von Stromkontingenten für die einzelnen Reaktoren festgelegt, und die stehen in einem Anhang zum Gesetz. Es würde daher ausreichen, diesen Anhang zu verändern. Für die viel diskutierte Laufzeitverlängerung etwa bräuchte man nur die Zahlen darin zu erhöhen.

Um die Abschaltung weiterer AKW zu verhindern, haben deren Betreiber bisher versucht, Laufzeiten von neueren auf ältere Anlagen zu übertragen.

GR: Die rechtlichen Voraussetzungen dieser Übertragung sind umstritten. Das Bundesumweltministerium hat diese Anträge bisher auch nicht genehmigt. Eine neue Regierung könnte den Grundsatz "Strommengenübertragung nur von älteren auf neuere Reaktoren" jedoch aufweichen.

Einige Parteien und Verbände fordern, besonders unsichere AKW schneller stillzulegen. Ist das realistisch?

GR: Die Atomaufsicht muss einschreiten, wenn es Sicherheitsprobleme gibt, das gilt unabhängig vom Ausstieg. Und das Atomgesetz bietet schon immer die Möglichkeit, ein AKW, das gravierende Sicherheitsmängel aufweist, stillzulegen. In einem solchen Fall kann die Betriebsgenehmigung nach 17 widerrufen werden. Aber das ist ein schwieriger Weg. In der Praxis ist dieser Paragraf noch nie zur Anwendung gekommen.

Was passiert nach einer Zwangsstillegung, wie sie nun etwa für das AKW Krümmel diskutiert wird, mit den verbliebenen Stromkontingenten?

GR: Wenn eine Betriebsgenehmigung entzogen wird, dann verfallen die Elektrizitätsmengen. Nur bei einer freiwilligen Stilllegung durch den Betreiber können die Strommengen übertragen werden.

Und wenn der AKW-Betreiber einer behördlich erzwungenen Stillegung mit einer "freiwilligen zuvorkommt?

GR: Dem derzeitigen Atomgesetz zufolge dürfte er die verbliebenen Stromkontingente dann frei auf andere Anlagen übertragen.

Auch auf ältere Reaktoren?

GR: Ja. Ein freiwilliges Aus für das AKW Krümmel könnte also andere Reaktoren viele Jahre vor der Abschaltung bewahren.

Stellschrauben lassen sich meist in zwei Richtungen drehen. Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es denn, den Atomausstieg zu beschleunigen?

GR: Da ist vieles möglich. Genauso wie man die Stromkontingente erhöhen kann, um die Laufzeiten zu verlängern, kann man sie auch verringern. Dann müssten die Reaktoren früher abgeschaltet werden. Das ist aus meiner Sicht auch der sinnvollste Weg, um eine schnellere Abschaltung der ältesten und damit unsichersten Reaktoren zu erreichen.

Könnte man Atamkraft nicht auch ökonomisch unattraktiver machen?

GR: Auch das ist möglich. Etwa mit einer realistischen Haftpflichtversicherung, einer Steuer auf Uran, einer Überführung der milliardenschweren steuerfreien Entsorgungsrückstellungen der Konzerne in einen öffentlich-rechtlichen Fonds.

Im Atomkonsens hat die Bundesregierung aber zugesichert, dass sie van für die Stromkonzerne nachteiligen Gesetzesänderungen Abstand nimmt.

GR: Erstens haben die Betreiber sich von diesem "Konsens" längst gelöst. Sie legen das Gesetz in einer Weise aus, wie es dem Geist des Atomkonsens nicht entsprochen hat - etwa mit ihren Anträgen, Stromkontingente von neueren auf ältere Anlagen zu übertragen und Stillstandszeiten bewusst zu verlängern, um über die Legislaturperiode hinwegzukommen. Vor diesem Hintergrund verliert der Konsens auch an politischer Bindungswirkung. Im Übrigen ist der Gesetzgeber rechtlich nicht an diese Vereinbarung gebunden.

Besteht nicht die Gefahr, dass die AKW-Betreiber gegen strengere Regeln klagen?

GR: Doch. Aber die Chancen, dass sie gewinnen, sind meiner Ansicht nach eher gering, sofern die Regelungen insgesamt verhältnismäßig bleiben. Das geltende Atomgesetz hat die Anliegen der Betreiber in sehr ausgiebiger Weise berücksichtigt. Und insbesondere die älteren Anlagen genießen nur noch in sehr geringem Umfang Bestandsschutz. Insofern ist es auch verfassungsrechtlich durchaus möglich, den Ausstieg zu beschleunigen.


Prof. Dr. jur. Gerhard Roller, 49, ist Experte für Atom-, Umwelt- und Verfassungsrecht. Er ist Lehrstuhlinhaber an der FH Bingen und Leiter des dortigen Institute for Environmental Studies and Applied Research.


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Quelle:
.ausgestrahlt Rundbrief 6, Herbst 2009, S. 3
Herausgeber: .ausgestrahlt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2009