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ATOM/1351: Was passiert im Reaktor des AKW Brokdorf? (Brokdorf-akut)


Was passiert im Reaktor des AKW Brokdorf?
Experten sind ratlos.

von Karsten Hinrichsen, Brokdorf-akut - 26. März 2018


Im AKW Brokdorf wurden im Februar 2017 gefährliche Oxidschichten auf Brennstäben festgestellt. Die Ursache der Oxidbildung wurde nicht gefunden. Statt den weiteren Betrieb zu untersagen, hat die Atomaufsichtsbehörde angeordnet, dass das AKW in einem "abgesicherten Modus" betrieben werden darf. Dazu gehört u.a., dass das AKW nicht in Volllast gefahren werden darf. Diese Maßnahmen waren bereits völlig unzureichend, um die erforderliche Betriebssicherheit nach der Revision im letzten Jahr einzuhalten, aber jetzt will PreussenElektra das AKW nach der Revision im April 2018 sogar wieder mit voller Leistung fahren.

Das Wiederanfahren des AKW Brokdorf nach der Revision muss verhindert werden!

Im Einzelnen:

Als bei der Revision des AKW im Februar 2017 der Deckel des Reaktors geöffnet wurde, hatte das Kühlmittel eine auffällige Trübung, und auf den Strukturen im Reaktordruckbehälter waren weiße Partikel zu sehen. Diese wurden als Abplatzungen von Oxidschichten der Brennstabhüllrohre identifiziert.

Diese Oxidschichten auf den Brennstäben sind von großer Bedeutung für die Sicherheit des AKW:
Die Brennstäbe stellen nämlich die wichtigste Barriere gegen das Freisetzen von radioaktiven Stoffen dar. Diese gut 4 m langen Rohre mit einem Durchmesser von nur rund 1 cm enthalten den Brennstoff aus Uran und Plutonium sowie die Spaltprodukte, die sich durch die Kernspaltung bilden, und die erbrüteten Transurane. Die Wandstärke der Hüllrohre beträgt nur ca. 0.6 mm und besteht aus Legierungen, die zu einem großen Teil Zirkonium enthalten. Durch den Neutronenbeschuss, den 160 bar hohen Druck, die starke Strömung des Kühlwassers sowie die hohen Temperaturen sind die Hüllrohre extremen Belastungen ausgesetzt. Sie können sich verbiegen, aufplatzen, oxidieren, dehnen.
Ab einer Temperatur von ca. 1200 Grad Celsius reagiert das Zirkonium mit Wasser in einer exothermen Reaktion, bei der Knallgas entsteht und die Temperatur weiter ansteigt - bis zum Schmelzen der Hüllrohre. Außerdem nehmen die Hüllrohre Wasserstoff auf, der zu einer Versprödung der Hüllrohre führt. Die Aufnahme von Sauerstoff führt zu einer im Laufe der Einsatzzeit (also bei höherem Abbrand) anwachsenden Oxidschicht.
Steigt die Oxidschicht auf mehr als 17% der metallischen Hüllrohrstärke an, ist bei mechanischer Belastung oder Temperaturschocks mit einem vermehrten Brechen der Hüllrohre zu rechnen.
Deren radioaktiver Inhalt gelangt dann ins Kühlwasser, und ein Teil davon wird über das Abwasser und den Schornstein in die Umgebung verbreitet.

Zur Beherrschung der Gefahren aus den anwachsenden Oxidschichtdicken ist das AKW Brokdorf 1986 mit der Auflage in Betrieb gegangen, dass die umfangsgemittelte Oxidschichtdicke 0,1 mm nicht überschreiten darf. Bei jeder Revision muss durch Messung an ausgewählten (repräsentativen) Brennstäben die Oxidschichtdicke gemessen werden. Mit diesen Messwerten wird ein Rechenmodell gespeist, mit dem berechnet wird, wie hoch die Oxidschichtdicke am Ende des nächsten Betriebszyklus (in der Regel ein Jahr) sein wird. Wird der Grenzwert überschritten, dürfen die Brennelemente, die diese Brennstäbe enthalten, nicht zum Weiterbetrieb eingesetzt werden.

Im Laufe der weiteren Betriebsjahre wurde dieses Verfahren allerdings nur sporadisch angewendet. Man ging davon aus, dass sich erst nach einer Nutzungszeit von 3 Jahren Oxidschichten größeren Ausmaßes bilden würden. Weiter wurde angenommen, dass es im Reaktor im Wesentlichen zu thermischer Oxidation kommen würde, d. h. dort, wo die Temperatur am höchsten ist, ist die Oxidbildung am höchsten, also im oberen Viertel der Brennstäbe. Bei der Revision im Jahr 2017 war dann das Erstaunen groß, dass sich die stärkste Oxidation ganz oben an den Brennstäben, wo gar keine Brennstofftabletten eingelagert sind, gebildet hatte. Dort hatte man bis zum Jahr 2013 gar nicht gemessen. Da das Modell nur für thermische Oxidation entwickelt worden war, hat es von Anfang an falsche Prognosen geliefert. Dies zeigt, dass die Konstrukteure die Vorgänge im Reaktor völlig falsch eingeschätzt bzw. gar nicht verstanden haben.

Bei der Revision 2017 wurde die Oxidschichtdicke von 5405 Brennstäben (bei insgesamt 24674 dieser Art) untersucht. Es wurden 464 übermäßig korrodierte Brennstäbe detektiert, 10 davon sogar oberhalb des zulässigen Grenzwerts.

Die Überschreitung der zulässigen Oxidschichtdicken hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Sicherheitskonzept:
Dies betrifft zum einen die radiologischen Auswirkungen eines Kühlmittelverluststörfalls. Bei deren Ermittlung wird unterstellt, dass nur maximal 10% der Brennstäbe brechen werden, weil das Anwachsen der Oxidschicht an den Brennstäben auf 17% der Hüllrohrdicke begrenzt werden kann. Nach den Vorgängen im AKW Brokdorf ist diese Annahme nicht mehr zutreffend.
Zum anderen sind schwerwiegende Störfallabläufe möglich. Durch die Freisetzung großer Mengen radioaktiven Materials aus den Brennstäben kann es in der Folge zu Kühlmittelblockaden, Reaktivitätsstörfällen und Dampfexplosionen kommen, die in katastrophalen Nuklidfreisetzungen münden.

Die Erklärung des zuständige Fachministers Habeck vom 20.2.2017 war daher zutreffend:

"Die zentralen Annahmen, wie Brennstäbe sich im Kern des Reaktors bei laufendem Betrieb verhalten, sind derzeit in Frage gestellt. Erst, wenn die Ursache geklärt und ausgeschlossen ist, dass sich das Problem an anderen Brennstäben wiederholt, kommt ein Wiederanfahren des AKW Brokdorf in Betracht."

Zur Klärung der Ursachen wurden mindestens 3 Gutachterbüros beauftragt, und es wurden diverse Fachgespräche geführt. Die Ursache(n) konnten nicht gefunden werden. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, in der ausgewählte, vom Bundesumweltministerium berufene Reaktorexperten tätig sind, verfasste die 72-seitige Weiterleitungsnachricht WL 2017/04, in welcher der Sachstand zum Thema "Bildungsursachen überhöhter Oxidschichtbildung an Brennstabhüllrohren" dargestellt wird. Als Ergebnis wird festgestellt:

"Die Ursachen für die übermäßige Korrosion sind bislang nicht hinreichend geklärt."

Es hätte konsequent der Weiterbetrieb des AKW untersagt werden müssen. Stattdessen gab es die Forderung von PreussenElektra, den Reaktor schnell wieder ans Netz zu bringen. Dazu erklärte sich PreussenElektra mit den Schreiben vom 14. und 20. Juli 2017 bereit, das AKW Brokdorf im "modifizierten Betrieb" zu fahren, um das Hüllrohrmaterial zu schonen.

Brokdorf-akut äußert daran Kritik:

1. Die Leistungsabsenkung um 5% ist in Wirklichkeit nur eine Absenkung von 1.4%; denn im Jahr 2006 wurde dem AKW Brokdorf eine Leistungserhöhung von 3.6% genehmigt. Bereits im Jahr 1994 wurden an 14 Brennelementen erhöhte Oxidationen beobachtet.

2. Die Lastwechselgeschwindigkeit wurde von 20 auf 10 Megawatt pro Minute begrenzt. In einer Arbeit aus dem Jahr 2010 von Mitarbeitern der Firma Areva zur Lastwechselfähigkeit deutscher AKW heißt es: "Die mit Blick auf einen Ausbau der Windenergie gewünschten Leistungsgradienten von 25 Megawatt pro Minute können in jedem Fall realisiert werden." Entweder haben sich die Autoren geirrt oder das Absenken der Lastwechselgeschwindigkeit bringt nicht die gewünschte Entlastung.

3. Um die Oxidation zu verringern wurde erlaubt, die Wasserstoffkonzentration im Kühlwasser von 3 auf 4 Gramm pro m3 zu erhöhen. Dadurch nimmt allerdings die Versprödung der Hüllrohre zu.

4. Die im Jahr 2009 genehmigte Erhöhung der Anreicherung von 4.0% auf 4.45% Uran 235 wurde nicht zurückgenommen.

Brokdorf-akut hält diese Maßnahmen nicht für zielführend, um die Korrosion zu verringern, und hat ihre Bedenken der Atomaufsichtsbehörde mitgeteilt. Es wurden auch Vorschläge gemacht, wie die Oxidschichtdicke im laufenden Betrieb gemessen werden könnte. Wir haben außerdem darauf hingewiesen, dass die Messungen die tatsächlichen Oxidschichtdicken unterschätzen, weil die Abplatzungen nicht berücksichtigt werden.

Fazit der Initiative Brokdorf-akut: Der "modifizierte" Betrieb hat lediglich die Qualität eines "trial and error". Er ist keine logisch begründbare Reaktion auf die übermäßige Korrosion. Es handelt sich um Russisches Roulette.

Die eingeschalteten Gutachterbüros sowie Tüv und die Atomaufsichtsbehörde erklärten den "modifizierten" Betrieb für sicherheitstechnisch unbedenklich, und der Reaktor wurde am 30. Juli - nach 6-monatigem Stillstand - wieder angefahren.

Die Verantwortlichen (PreussenElektra, Tüv, Atomaufsichtsbehörde) setzen die Bevölkerung damit einem zusätzlichen Risiko aus. Der Landtagsabgeordnete der Grünen, Bernd Voß, erklärte auf der Demonstration gegen das Wiederanfahren am 30.7.2017 die Haltung der Landespolitiker so:
"Die Landespolitik hat es nicht auf eine Klage ankommen lassen können."
Das hat uns sehr betroffen gemacht. Zur Rettung der HSH Nord-Bank haben Kiel und Hamburg Milliarden ausgegeben. Das Leben und die Gesundheit der Anwohnerinnen und Anwohner in der Wilstermarsch und vielleicht in ganz Schleswig-Holstein und Hamburg sind es offensichtlich nicht wert, finanzielle Risiken einzugehen.

Der jetzt im Reaktor befindliche 30. Kern wurde aus 121 bestrahlten und 72 unbestrahlten Brennelementen zusammengestellt. Davon sind 88 Focus-Brennelemente von Westinghouse und 105 Brennelemente von Areva mit M5-Hüllrohren. An diesem Typ trat im 29. Zyklus die übermäßige Korrosion auf. Auch wenn der Oxidationszuwachs an den Hüllrohren bei der diesjährigen Revision im erwarteten Bereich liegen sollte, gibt es keine Garantie, dass dies auch im kommenden 31. Zyklus so sein wird. Solange die Ursachen der vermehrten Oxidation nicht bekannt sind, besteht die Gefahr eines Unfalls.

Auf einer Informationsveranstaltung am 8.März 2018 hat PreussenElektra angekündigt, sogar wieder mit voller Leistung fahren zu wollen.

Das Wiederanfahren des AKW Brokdorf nach der diesjährigen Revision muss verhindert werden. Die Vorsorge muss Vorrang haben vor den Gewinnerwartungen der Aktionäre der Fa. PreussenElektra.

Die Initiative Brokdorf-akut und .ausgestrahlt haben nach dem Wiederanfahren am 30. Juli 2017 versucht, an die in der Atomaufsichtsbehörde vorhandenen Unterlagen, Berichte von PreussenElektra und Gutachten des Tüv heranzukommen. Mit unseren Fragen gemäß Informationszugangsgesetz wollten wir die Vorgänge im AKW Brokdorf in Erfahrung bringen.

Die Unterlagenbeschaffung gestaltete sich schwierig. Die Stellungnahmen der eingeschalteten Gutachterbüros erhielten wir in stark geschwärzten Fassungen. Das endgültige Gutachten des Tüv zum Rahmenprogramm vom 29. Juli 2017 wurde nur in Teilen zur Verfügung gestellt. Einige Auskünfte waren kostenpflichtig. Viele Unterlagen waren sogar bis zur Unkenntlichkeit geschwärzt, mit der Begründung, es würde sich dabei um Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse handeln. Der Versuch, "entschwärzte" Unterlagen zu bekommen, war nahezu erfolglos und wurde mit Kosten belegt.
Die neu erlassenen nachträglichen Auflagen zur Kernbeladung sowie das Rahmenprogramm des Tüv zur Vorbereitung der jetzt anstehenden Revision haben wir bisher (25.3.2018) nicht erhalten.

Wir sind enttäuscht, dass die Landesregierung ihre Zusage nach mehr Transparenz nicht erfüllt. Das Argument von PreussenElektra und Atomaufsichtsbehörde nach Geheimnisbedürftigkeit scheint uns in vielen Fällen nur vorgeschoben zu sein, um das Informationsrecht der Öffentlichkeit zu hintertreiben. Z. T. wurden einzelne Zahlen und Wörter, ganze Seiten über viele Kapitel hinweg und sogar Literaturangaben geschwärzt.

Zum Schutz von PreussenElektra wird der Demokratie damit ein Bärendienst erwiesen. Denn die (wohl beabsichtigte) Resignation der von der Mitwirkung ausgeschlossenen Bürgerinnen und Bürger schadet einer funktionierenden Demokratie.

*

Quelle:
© 2018 Karsten Hinrichsen
Initiative Brokdorf-akut
Dorfstr. 15, 25576 Brokdorf
E-Mail: info@brokdorf-akut.de
Internet: www.brokdorf-akut.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2018

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