Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → INDUSTRIE


ATOM/1338: Der Staat darf Atomkraftwerke abschalten (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 720-721 / 31. Jahrgang, 5. Januar 2017 - ISSN 0931-4288

Atommüllwirtschaft
Der Staat darf Atomkraftwerke abschalten - und es kostet wenig

von Thomas Dersee


AKW-Betreiber bekommen nur einen kleinen Bruchteil entschädigt - aber viel geschenkt

Am 6. Dezember 2016 hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Urteil zu den Klagen von Eon, RWE und Vattenfall gegen die Laufzeitverkürzungen nach Fukushima verkündet. Was das Gericht genau entschieden hat, und welche Folgen das Urteil haben wird, darüber gab es in der medialen Berichterstattung ein großes Durcheinander. Viele Medien haben gemeldet, daß die AKW-Betreiber ihre Klagen gewonnen hätten und der Staat Entschädigungen zahlen müsse. Die Realität ist deutlich differenzierter und zum großen Teil positiv. Deshalb hat ­.ausgestrahlt das Urteil einer gründlichen Analyse unterzogen und die wichtigsten Fragen und Antworten veröffentlicht. [1]

Der Text ist nicht kurz, aber die Lektüre lohnt sich. Die möglichen Auswirkungen sind vielfältig, von drohenden Laufzeitverlängerungen bis zu neuen eleganten Wegen zu einem schnelleren Ende der Atomkraft-Nutzung. Die geforderten 19 Milliarden Euro für den Ausstieg werden die AKW-Betreiber nicht erhalten. Karlsruhe hat die Klagen der Stromkonzerne zum großen Teil abgewiesen. Der Staat hat das Recht, Laufzeiten von Atomkraftwerken zu beschränken. Das Gericht sieht lediglich in einem Randbereich des Ausstiegsgesetzes zu den beiden AKW Krümmel und Mülheim-Kärlich einen Sonderfall. Für diese beiden Anlagen muß der Gesetzgeber einen Ausgleich schaffen, der lediglich im Millionenbereich gesehen wird.

Ein großes Geschenk: Die Kernbrennstoffsteuer ist abgeschafft

Um die Bevorzugung der Atomkraft vor anderen Energieträgern zu beenden, hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung im Jahr 2010 eine Brennelementesteuer eingeführt. Ohne Begründung wurde diese Steuer zum Jahresende 2016 abgeschafft. Im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages scheiterte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 30. November 2016 mit dem Versuch, die Steuer bis Ende 2022 weiter zu erheben. Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD lehnte das Gremium einen entsprechenden Antrag der Fraktion ab.

Die CDU/CSU-Fraktion erklärte dazu, an ihrer Haltung, die Steuer auslaufen zu lassen, habe sich nichts geändert. Eine Verlängerung wäre ein Wortbruch gegen die Betreiber. Die SPD-Fraktion zeigte zwar Sympathie für den Antrag, verwies aber auf den Koalitionsvertrag. Eingeräumt wurde von der SPD-Fraktion, daß Betreiber die Steuerpflicht umgehen würden, indem sie den Austausch von Brennelementen in das dann steuerfreie Jahr 2017 verschieben würden. Die Linksfraktion erinnerte daran, daß sie selbst auch schon einen entsprechenden Antrag gestellt habe. Die Zahlung der Steuer sei weiterhin notwendig, weil die Einzahlungen der Atomindustrie in den Entsorgungsfonds nicht ausreichten.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verwies darauf, dass die Einnahmen aus der Kernbrennsteuer durch die verzö-gerten Wechsel der Brennelemente im Jahr 2016 um 700 Millionen Euro niedriger ausfallen würden als erwartet.

Am 15. Dezember 2016 lehnte schließlich auch der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen von SPD und CDU/CSU den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Verlängerung der Brennelementesteuer ab. Campact, die Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt und das Umweltinstitut München beklagen in einer gemeinsamen Erklärung, daß die Bundesregierung den Betreiberfirmen damit ein Steuergeschenk in Milliardenhöhe macht. Die Bundesregierung verpasse so erneut die Chance, Eon, RWE und EnBW angemessen an den Folgekosten der Atomkraft zu beteiligen. Dem Bundeshaushalt entgingen dadurch allein für 2016 Steuern in Höhe von rund 750 Millionen Euro. Bis 2022 würden die Energiekonzerne durch den Wegfall der Brennelementesteuer knapp sechs Milliarden Euro sparen. Das entspreche in etwa dem sogenannten Risikoaufschlag, durch dessen Zahlung sie sich aus der Verantwortung für die Kostenrisiken der Atommüll-Lagerung freikaufen können. Letztlich nehme der Staat den AKW-Betreibern die Haftung für ihren Müll also ohne jegliche finanzielle Gegenleistung ab.

Die Milliarden-Geschenke, die der Bundestag den AKW-Betreibern heute macht, haben nicht nur finanzpolitische Auswirkungen, so Jochen Stay, Sprecher von .ausgestrahlt. Niemand müsse sich bei solchen Entscheidungen wundern, wenn die Politikverdrossenheit und das Unverständnis für staatliches Handeln in der Bevölkerung weiter wachsen.

Steuertrick der AKW-Betreiber erhöht die radioaktive Belastung der Bevölkerung

Die Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt hat am 12. Dezember 2016 Strafanzeige gegen EnBW, Eon und RWE erstattet. Grund sind die erhöhten radioaktiven Emissionen durch die Steuerspartricks der AKW-Betreiber zur Umgehung der Brennelementesteuer. Dazu erklärt Armin Simon, Sprecher von .ausgestrahlt: "Um die Brennelemente-Steuer zu umgehen, nehmen die AKW-Betreiber eine technisch absolut vermeidbare, völlig unnötige zusätzliche Strahlenbelastung der Bevölkerung und ihrer Beschäftigten in Kauf. Die AKW-Betreiber setzen Wirtschaftlichkeit vor Gesundheitsschutz. Die Aufsichtsbehörden decken diese Prioritätensetzung auch noch. Das ist nicht hinnehmbar. Deswegen haben wir heute bei den Staatsanwaltschaften Karlsruhe, Hannover und Essen Strafanzeige wegen des Verstoßes unter anderem gegen die Strahlenschutzverordnung erstattet."

Weil die Brennelementesteuer Ende 2016 auslief, haben EnBW, Eon und RWE ihre Reaktoren bei der Revision im Jahr 2016 nicht wie sonst üblich neu beladen, sondern nur wenige neue Brennelemente eingesetzt. Stattdessen wollen sie alle Reaktoren um den Jahreswechsel 2016/2017 erneut öffnen, um - dann steuerfrei - weitere Brennstäbe nachzuladen. Bei jedem Öffnen des Reaktordeckels steigen die radioaktiven Emissionen der AKW auf ein Vielhundertfaches des sonst üblichen Wertes an. Diese Emissionsspitzen stehen im Verdacht, für die erhöhten Kinderkrebsraten in der Umgebung von Atomkraftwerken verantwortlich zu sein.

Sicherer Einschluß statt vollständiger Rückbau per Gesetz ausgeschlossen

Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie hat die Neuregelung der kerntechnischen Entsorgung am 14. Dezember 2016 beschlossen. Dem mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommenen Gesetzentwurf [2] zufolge sollen Betreiber von Kernkraftwerken für den Rückbau ihrer Anlagen zuständig bleiben, werden aber - wie bereits in der vorigen Ausgabe des Strahlentelex berichtet [3] - gegen Einzahlung in einen Fonds von der Pflicht zur Zwischen- und Endlagerung befreit. Zuvor hatte der Ausschuss einen gemeinsam von den Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestellten Änderungsantrag beschlossen.

Die CDU/CSU-Fraktion begrüßte die mit dem Änderungsantrag vorgenommene Klarstellung, dass der komplette Rückbau der Anlagen zwingend sei und ein sogenannter sicherer Einschluss nicht in Frage komme. Ein Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßte ebenfalls die gefundene Regelung und auch die Schaffung des Fonds, der für die Zwischen- und Endlagerung zuständig werde. Die Beteiligungsrechte des Bundestages seien gestärkt worden, da laut Änderungsbeschluss Mitglieder des Parlaments dem Kuratorium des Fonds angehören sollen. Außerdem gebe es eine jährliche Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag. Der erste Bericht muß zum 30. November 2018 erstellt werden. Die meisten Klagen der Konzerne seien zurückgezogen worden.

Ein Sprecher der Linksfraktion kritisierte, der Gesetzentwurf belaste die Steuerzahler und bedeute ein "Schnäppchen" für die Atomkonzerne. Es sei ein "höchst riskanter Festpreis" vereinbart worden. Obwohl Kostensteigerungen absehbar seien, gebe es keine Nachschusspflicht für die Konzerne.

Nach dem Deutschen Bundestag hat inzwischen auch der Bundesrat in seiner Sitzung am 16. Dezember 2016 dem "Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung" zugestimmt. Bis zum 1. Juli 2017 müssen die Konzerne nun einen Grundbetrag in den Fonds eingezahlt haben. Von der Einzahlung können Entsorgungskosten, die im ersten Halbjahr 2017 entstehen, abgezogen werden.

Die bisherigen Zwischenlager sollen bis zum 1. Januar 2019 (teilweise auch bis zum 1. Januar 2020) auf den bundeseigenen Zwischenlagerbetreiber übertragen werden.

Außerdem wird die Betreiberhaftung neu geregelt. Herrschende Unternehmen müssen für die Betreibergesellschaften die Nachhaftung übernehmen. Die Nachhaftung umfasst die Kosten von Stilllegung und Rückbau der Kernkraftwerke, die fachgerechte Verpackung der radioaktiven Abfälle, die Zahlungsverpflichtungen an den mit diesem Gesetzentwurf errichteten Fonds sowie die im Falle der Nichtzahlung des Risikoaufschlags bestehende Haftung für Kostensteigerungen bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle.

Die geplante Einrichtung eines Fonds zur Finanzierung der atomaren Zwischen- und Endlagerung ist zuvor in einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Energie am 2. Dezember 2016 überwiegend begrüßt worden. An der konkreten Ausgestaltung des von der Bundesregierung sowie von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurfs gab es jedoch auch Kritik.

Technische Fehler bei der Umsetzung sah Gert Brandner von der Kanzlei Haver & Mailänder. Er führte aus, daß die Nachhaftungsregelung jedes herrschende Unternehmen neben dem Kernkraftbetreiber für dessen Verbindlichkeiten haften lasse. Damit würden nicht nur die Energiekonzerne neben dem Betreiber für die Kosten für Stilllegung, Rückbau und Entsorgung aufzukommen haben, sondern auch deren beherrschende Gesellschafter, "obwohl diese als Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft nach bisheriger Gesetzeslage für Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht haften". Dies sei ein Verstoß gegen den Grundsatz, daß Anteilsinhaber nicht für die Schulden der Gesellschaft haften würden. Die Neuregelung könne zum Beispiel dazu führen, daß das Land Baden-Württemberg für den Energiekonzern EnBW haften müsse. "Die rückwirkende Aufhebung dieses Trennungsprinzips verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip und sei verfassungswidrig, warnte Brandner.

Auch Marc Rutloff (Kanzlei Gleiss Lutz) formulierte verfassungsrechtliche Zweifel und "Bedenken im Lichte des Gleichheitsgebots, da faktisch ein singuläres und punktuelles gesellschaftsrechtliches Sonderregime geschaffen wird, hingegen vergleichbare Risiko- und Gefahrenpotenziale anderer Wirtschaftsbranchen nicht in annähernd vergleichbarer Weise einem Haftungsverbund unterworfen werden, das ein herrschendes Unternehmen einschließt".

Die Kommission habe nicht verstanden, was der Unterschied zwischen Rücklagen und Rückstellungen sei und wie Rückstellungen in der Bilanz funktionieren würden, kritisierte Professor Heinz Bontrup von der Westfälischen Hochschule. Er geht davon aus, daß die Kraftwerksbetreiber ein Geschäft gemacht haben. Die Politik habe ihnen einen Festpreis gemacht, "und da hätte ich als Kraftwerksbetreiber sofort zugeschlagen". Dabei sei niemand in der Lage, die Kostenentwicklung abzuschätzen. Es fehle ihm "jedes Verständnis", wie man da einen Festpreis machen könne. Bontrup bezeichnete den Entwurf als "hundertprozentiges Politikversagen".

In einem vom Ausschuss beschlossenen Entschließungsantrag der drei Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen wird die Bundesregierung aufgefordert, sich im Zusammenhang mit den Verhandlungen über einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit den Kraftwerksbetreibern dafür einzusetzen, dass alle im Atombereich anhängigen Klagen und Rechtsbehelfe zurückgenommen werden.

Die großen Atom-Klagen laufen weiter

Die Stromkonzerne haben erklärt, einige ihrer Klagen im Gegenzug zur "Neuregelung der kerntechnischen Entsorgung" fallen zu lassen. Dabei handelt es sich um 20 Klagen mit einem Volumen von insgesamt 600 bis 800 Millionen Euro. Dagegen umfassen die beiden Klagen, die die Stromkonzerne weiter aufrechterhalten, ein Volumen von 11 bis 12 Milliarden Euro. Zurückgezogen wird also lediglich ein Anteil von fünf bis sieben Prozent. Darauf macht Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt, aufmerksam. Die 20 Klagen, die jetzt aufgegeben werden, seien teilweise juristisch aussichtslos. Manche hatten die AKW-Betreiber bereits in ersten Instanzen verloren. Bei anderen sei klar, dass die geforderten Summen nicht zu halten sind.

Das Verfahren von Vattenfall vor einem internationalen Schiedsgericht umfasst 4,7 Milliarden Euro. Bei der noch nicht entschiedenen Verfassungsklage gegen die Brennelementesteuer geht es um 6,3 Milliarden Euro Schadenersatz. Beide Verfahren werden weitergeführt. Und auch die durch das Bundesverfassungsgericht zugesprochenen Teil-Kompensationen für die Atomkraftwerke Krümmel und Mülheim-Kärlich in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrags geben die Stromkonzerne nicht her. Wenn nun öffentlich kolportiert wird, die Konzerne würden auf Schadenersatz in Sachen Atomausstieg verzichten, so Stay, dann bezieht sich dies nur auf die Klagen gegen das Moratorium von März bis Juni 2011, von denen die meisten bereits in erster Instanz abgelehnt worden sind.


Anmerkungen

[1] https://www.ausgestrahlt.de/blog/2016/12/07/der-staat-darf-atomkraftwerke-abschalten-und-es-ko/

[2] Bundestagsdrucksache 18/10469 vom 29.11.2016, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung,
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/104/1810469.pdf

[3] Strahlentelex 718-719/12.2016, S. 17/18, Der Bund übernimmt die Zwischen- und Endlagerung,
www.strahlentelex.de/Stx_16_718-719_S17-18.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_17_720-721_S02-04.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2017, Seite 2 - 4
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang