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ATOM/1255: Rechtsgutachten - Geplanter Atommüllexport aus Jülich in die USA wäre illegal (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 666-667 / 28. Jahrgang, 2. Oktober 2014

Rechtsgutachten: Geplanter Atommülltransport aus Jülich in die USA wäre illegal

Von Thomas Dersee



Der von der Bundesregierung und dem Land Nordrhein-Westfalen geplante Atommülltransport aus dem Forschungszentrum Jülich in die USA wäre illegal. Das belegen zwei Rechtsgutachten, eines im Auftrag von Greenpeace, das am 18. September 2014 in Berlin vorgestellt wurde und eines im Auftrag des BUND Landesverbandes Nordrhein-Westfalen (BUND NRW).

Demnach verstieße die Verschickung von 152 Castoren mit hochradioaktiven Brennelementekugeln in die US-Atomfabrik Savannah River Site (South Carolina) gegen das Verbot, Atommüll aus kommerzieller Nutzung zur Wiederaufarbeitung ins Ausland zu bringen (§ 9a Abs.1 Satz 2 Atomgesetz). Bundesforschungs- und Bundesumweltministerium machten sich daher einer Pflichtverletzung schuldig, als im April bereits eine offizielle Absichtserklärung ("Statement of Intent") der Bundesregierung an die USA ging. Dieser illegale Atomtransport zeige die Krise, in der die deutschen Behörden bei der Entsorgung hochradioaktiven Atommülls stecken, erklärte Heinz Smital, Kernphysiker und Atomexperte bei Greenpeace. "Die Castoren müssen in Deutschland bleiben. Land und Bund haben ihre Verantwortung für den Atomstandort Jülich fahrlässig verschleppt. Das Bundesumweltministerium muss jetzt Verantwortung übernehmen und die Spekulationen über einen Export beenden."

Zahlreiche weitere nordrheinwestfälische und bundesweite Anti-Atom-Initiativen und Umweltverbände haben sich ebenfalls gegen den geplanten Atommüllexport aus Jülich und Ahaus gewandt. Vor Pressevertretern in Düsseldorf erläuterten die Aktivisten am 22. September 2014 ihre Kritik und stellten ein weiteres Rechtsgutachten vor. Anlass ist der Deutschland-Besuch von Tom Clements, des Direktors der "Savannah River Site Watch", einer Umweltinitiative im Bereich des US-Atomwaffenzentrums im Bundesstaat South Carolina.

"Die Bemühungen um den illegalen Atommüllexport aus Jülich und Ahaus zum Standort 'Savannah River Site' (SRS) in South Carolina des US-Energieministeriums sind nicht akzeptabel, weil SRS kein Atommülllager ist oder gar eine Deponie für die Abfälle von kommerziell betriebenen Atomreaktoren. Deutschland muss sich schon zuhause um eine Atommülllagerung kümmern und die Probleme nicht auf uns abschieben", ist die zentrale Aussage von Tom Clements. Er verwies auf die breite Ablehnung in der Bevölkerung, die dortige Anlage in eine Langzeit-Atommülldeponie auf kommerzieller Basis zu verwandeln. Selbst nach US-amerikanischem Recht sei SRS als Atommülllager nicht geeignet.

Anläßlich der Vorstellung des Gutachtens des BUND NRW erklärte dessen Vorstandsmitglied Dr. Michael Harengerd: "Demnach ist eine Abschiebung des Kugelhaufen-Atommülls aus Jülich - und natürlich auch aus Ahaus - unabhängig von der Reaktoreigenschaft rechtlich nicht möglich." Eine solche Entsorgung stelle schon grundsätzlich keine schadlose Verwertung im Sinne des Atomgesetzes dar. Abgesehen von allen anderen Vorschriften aus dem Atomgesetz, der EURATOM-Richtlinie und der atomrechtlichen Abfallverbringungsverordnung verwies Harengerd auch darauf, dass schon "die umweltrechtlichen Grundsätze aus dem Vertrag über die Europäische Union vom 1. Dezember 2009 gegen eine Aufarbeitung der Brennelementekugeln im Ausland sprechen.

Rainer Moormann, früher selbst beim Forschungszentrum Jülich beschäftigter Kritiker der Kugelhaufen-Reaktortechnik, kritisierte die von schwerwiegenden Zwischenfällen und gezielten Desinformationen der Bevölkerung geprägte Vorgehensweise der Betreiber des "Atomversuchsreaktors Jülich" (AVR): "Die Atommüllprobleme sind seit 40 Jahren bekannt, aber in Jülich nie angemessen bearbeitet worden; denn sie waren hinderlich für die Vermarktung der Kugelhaufenreaktoren." Moormann stellte klar, dass sowohl der AVR Jülich als auch der Thorium-Hochtemperaturreaktor bei Hamm Leistungs- und keine Forschungsreaktoren gewesen seien. "In Forschungsreaktoren findet überwiegend eine Neutronenproduktion für medizinische und sonstige forschungsbezogene Zwecke statt. Das war in Jülich und Hamm nicht der Fall."

Scharfe Kritik an der Bundes- und der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen entstand vor allem an der Absichtserklärung ("Statement of Intent") zwischen den beiden Forschungsministerien und dem US-Energieministerium über die beabsichtigte Verschiebung des Atommülls in die USA: "Hier wurde das geltende Recht ganz bewusst mit Füßen getreten", so die Kritiker.

In dem "Statement of Intent" heißt es unter Punkt 4: "Das Department of Energy (DOE) plant eine chemische Aufarbeitung, um den Graphit abzutrennen und dann die Brennelemente nach dem H-Canyon Prozess aufzuarbeiten." Das Verfahren müßte für die Brennelementekugeln jedoch erst noch entwickelt werden.

Die Atomaufsicht Nordrhein-Westfalen, ansässig im dortigen Wirtschaftsministerium, verlangt die Räumung des Zwischenlagers im Forschungszentrum Jülich von den dort lagernden 152 Castoren. Seit der Stilllegung im Jahr 1988 hangelt sich Jülich von einer vorläufigen Übergangsregelung zur nächsten. Am 31. Juli 2014 lief die Frist erneut aus. Das Forschungszentrum hatte mit Duldung der Atomaufsicht befristete Genehmigungen immer wieder auslaufen lassen. Die Atomaufsicht will nun keine weitere Verlängerung zulassen. Sie hat das Forschungszentrum aufgefordert, bis Ende September 2014 ein detailliertes Entsorgungskonzept und die dafür erforderlichen Genehmigungen vorzulegen. Als Begründung nennt sie ein ausstehendes Gutachten über die Erdbebensicherheit des Standortes.

Beim sogenannten AVR-Reaktor handele es sich um einen Versuchsreaktor, der der Untersuchung der grundsätzlichen Machbarkeit eines Kugelhaufenreaktors dienen sollte, erklärte dagegen die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke (Bundestagsdrucksache 18/24 88 vom 5. September 2014). Der AVR habe zwar Elektrizität erzeugt, gleichwohl sei für den Betrieb der Anlage die Funktion als Forschungs- und Entwicklungsreaktor (Versuchsreaktor) prägend, schreibt die Bundesregierung.

Die US-amerikanische Wiederaufarbeitungsanlage Savannah River Site ist eine der problematischsten Atomanlagen der Welt. Savannah River Site stammt aus dem Jahr 1950 und diente hauptsächlich der Atomwaffenproduktion. Jetzt hat man dort für derzeit 150 Millionen Liter hochradioaktiven flüssigen Atommüll keine Lösung.

Bislang hat die Atomaufsicht keine Angaben dazu gemacht, bis wann das Lager in Jülich geräumt werden muss. Greenpeace fordert den Neubau eines Zwischenlagers am Standort, bei dem neueste Erkenntnisse berücksichtigt werden müssten.

Die Abschiebung in die USA würde Schätzungen zufolge etwa 1 Milliarde Dollar kosten. Im Gutachten des BUND NRW, das von Dr. Felix Ekardt, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Rostock, und dem Hamburger Rechtsanwalt Raphael Weyland erstellt wurde, wird erklärt:

Beim AVR Jülich handelte es sich um einen Kugelhaufen-Atomreaktor, bei dem sich der Kernbrennstoff in einzelnen mit Graphit umhüllten Kugeln befindet. Der AVR Jülich speiste erstmals im Jahr 1967 Elektrizität in das Elektrizitätsnetz ein. Ende 1988 wurde er aufgrund vorausgegangener Störfälle abgeschaltet. Derzeit werden in 152 Castor-Behältern knapp 300.000 Brennelemente-Kugeln auf dem Gelände des Forschungszentrums Jülich (FZJ) zwischengelagert. Diese enthalten unter anderem nicht vollständig verbrauchte Brennstoffpartikel aus spaltbarem Uran (U-235), nicht spaltbarem Uran (U-238) und Thorium (Th-232), sowie das hieraus entstandene Plutonium (Pu-239), Uran (U-239) und weitere Spaltprodukte. Nach einer am 01.04.2014 zwischen der amerikanischen Energiebehörde (DOE), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung Nordrhein-Westfalen (MIWF NRW) geschlossenen Absichtserklärung soll versucht werden, die Brennelemente-Kugeln zur Aufarbeitung so bald wie möglich in das amerikanische Atomwaffenzentrum Savannah River Site (SRS) in South Carolina zu exportieren.

Eine einfache Beförderungsgenehmigung nach § 4 Abs. 1 des Atomgesetzes (AtG) sei aber nicht ausreichend, um den geplanten Export der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich in die USA zu bewilligen. Diese Vorschrift beziehe sich alleine auf den Transportvorgang von Kernbrennstoffen. Für die Frage, ob ein Export der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich in die USA rechtmäßig wäre, sei vielmehr das Entsorgungsregime des Atomgesetzes maßgeblich. Eine etwaige Genehmigung nach der Atomrechtlichen Abfallverbringungsverordnung wäre aber ebenfalls rechtswidrig, denn die Verbringung verstoße gegen Vorgaben des Atomgesetzes.

Ein Export der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich zur Aufarbeitung im Atomwaffenzentrum SRS in den USA verstoße zudem gegen § 9a Abs. 1 S. 1 AtG. Eine solche Entsorgung der radioaktiven Reststoffe stelle unabhängig von der Frage, ob es sich beim AVR Jülich um einen Forschungsreaktor handelt, schon grundsätzlich keine schadlose Verwertung im Sinne des Atomgesetzes dar. Im Unterschied zu der bisher durchgeführten Wiederaufarbeitung von Atommüll konventioneller Druck- oder Siedewasserreaktoren sei beim Atommüll von Kugelhaufenreaktoren im Hinblick auf eine etwaige Aufarbeitung unter anderem besonders problematisch, dass der Kernbrennstoff mit Graphit gemischt ist und es bisher kein umsetzbares Verfahren zum Abtrennen des Graphits gibt. Auch die Absichtserklärung vom 01.04.2014 gehe nicht von einer unbedingten Machbarkeit der Aufarbeitung aus.

Außerdem führe die etwaige Aufarbeitung der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich auch nach der Feststellung der Bundesregierung zu zusätzlicher radioaktiver Strahlung und zu einem zusätzlichen Anfall des äußerst gefährlichen Plutoniums.

Unter Berücksichtigung der durch die Novellierung des Atomgesetzes im Jahr 2002 vorgenommenen gesetzgeberischen Wertung könne daher insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass eine Aufarbeitung der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich eine schadlose Verwertung darstellt.

Außerdem sei die Abgabe der Brennelemente-Kugeln zur Aufarbeitung nach § 9a Abs. 1 S. 2 AtG auch deshalb ausdrücklich unzulässig, weil der AVR Jülich eine Anlage zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität und nicht etwa ein Forschungsreaktor im Sinne des Atomgesetzes war. Nach dem Atomgesetz könne sich der Begriff des Forschungsreaktors nur auf solche Anlagen beziehen, die zur Forschung - aufgrund ihrer Funktion als Neutronenquelle - unter anderem für die Isotopenforschung für medizinische Zwecke, für biologische Maßnahmen sowie zur Erzeugung von Tracern eingesetzt werden. Einem solchen Zweck diente der AVR Jülich nicht. Bestellt wurde er vielmehr als Kernkraftwerk von einem Konsortium aus 15 kommunalen Energieversorgungsunternehmen.

Während seiner Betriebszeit lieferte der AVR Jülich insgesamt 1,51 Terawattstunden (1,51 Milliarden Kilowattstunden) Elektrizität. Ein entsprechender Stromliefervertrag lag vor. Dabei wurden nach Medienberichten Mitte der 1970er Jahre Einnahmen von etwa 3 Millionen DM erzielt. Auch die Bundesregierung und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) gehen in offiziellen Dokumenten davon aus, dass es sich beim AVR Jülich um ein Kernkraftwerk und nicht um einen Forschungsreaktor gehandelt hat. Unbedeutend für die atomrechtliche Unterscheidung sei im Übrigen auch, dass der AVR Jülich seinem vollen Namen nach als Versuchsreaktor bezeichnet wird.

Darüber hinaus könne eine Entsorgung der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich auch nicht als geordnete Beseitigung im Sinne des § 9a Abs. 1 S. 1 AtG gelten.

Eine unmittelbare Endlagerung im Ausland sei schon nicht angedacht und außerdem nach dem Entsorgungsregime des Atomgesetzes grundsätzlich unzulässig. Darüber hinaus bestehe gegenwärtig weder in Deutschland noch in den USA eine Anlage zur Endlagerung des in Rede stehenden Atommülls.

Dieses Verbot der Endlagerung im Ausland werde auch durch die Bestimmung in § 1 Abs. 1 S. 1 des Standortsuchgesetzes (StandAG) bestätigt, denn hiernach sei für die Endlagerung aller im Inland verursachten Abfälle eine Anlage (ausschließlich) im deutschen Staatsgebiet zu suchen. Ergänzend werde durch § 1 Abs. 1 S. 2 StandAG darüber hinaus klargestellt, dass ein zukünftiger Export radioaktiver Abfälle zum Zwecke der Endlagerung im Ausland aufgrund völkerrechtlicher Verträge nicht zulässig ist.

Ein Export der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich in das Atomwaffenzentrum SRS in den USA widerspreche auch Vorgaben des europäischen Rechts. Nach Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2011/70/EURATOM vermag es eine Verbringung der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich in die USA zur dortigen Aufarbeitung nicht, die Verantwortung Deutschlands für die Endlagerung abzuwälzen. Nach Art. 4 Abs. 4 S. 1 Hs. 1 Richtlinie 2011/70/EURATOM habe eine Endlagerung grundsätzlich im Inland zu erfolgen. Diese Vorgaben gelten für radioaktive Abfälle des AVR Jülich. Eine Privilegierung des AVR Jülich als Forschungsreaktor komme auch nach den Vorgaben der Europäischen Atomgemeinschaft nicht in Betracht.

Auch komme eine ausnahmsweise in Art. 4 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Richtlinie 2011/70/EURATOM vorgesehene Endlagerung im Ausland nicht in Betracht, da die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 4 S. 2 Richtlinie 2011/70/EURATOM bei der angedachten Behandlung der radioaktiven Abfälle in den USA nicht erfüllt sind.

Insgesamt werde dieses Ergebnis gestützt durch die auch im Bereich der Kernenergie grundsätzlich anwendbaren umweltrechtlichen Grundsätze des Unionsrechts. Insbesondere der Ursprungsgrundsatz und das Verursacherprinzips des Art. 191 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV sprächen nämlich gegen eine Aufarbeitung der Brennelemente-Kugeln des AVR Jülich im Ausland und für eine grundsätzliche Endlagerung der radioaktiven Abfälle im Inland. Gründe, warum für einen Export der radioaktiven Abfälle ins Ausland ausnahmsweise von diesen Grundsätzen abgewichen werden sollte, seien nicht ersichtlich.

Hintergrund

Der BUND Nordrhein-Westfalen und die Standortinitiativen führen dazu unter anderem aus:

Die aus 15 Energieversorgern bestehende Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor Jülich (AVR GmbH) ließ durch die Firmen BBC/Krupp ab 1960 den Atomversuchsreaktor (AVR) als sogenannten "Kugelhaufenreaktor" neben der "Kernforschungsanlage Jülich" (KFA) bauen. KFA-Gesellschafter sind heute zu 90 Prozent die Bundesrepublik Deutschland und zu 10 Prozent das Land Nordrhein-Westfalen (NRW). Die KFA betreute den AVR wissenschaftlich und glich die betrieblichen AVR-Verluste aus. 1988 wurde der AVR nach zahlreichen Pannen und zum Teil zunächst verheimlichten Störfällen abgeschaltet. 1990 "verlor" die KFA Jülich den Bezug zur Atomkraft im Namen durch Umbenennung in "Forschungszentrum Jülich" (FZJ).

Obwohl einerseits am Beispiel des AVR sowie andererseits auch am Beispiel des großen Nachfolgereaktors THTR bei Hamm eindrücklich nachgewiesen wurde, dass diese Hochtemperatur-Kugelhaufenreaktoren schlicht nicht funktionieren (und die Bedrohung durch Strahlenschäden noch weiter vergrößern), regte noch 2006 zum Beispiel die damalige NRW-Wirtschaftsministerin Thoben eine Neuauflage der Planungen zu dieser Reaktortechnik an und brachte sogar einen Neubau ins Gespräch.

Der Abbau des AVR nach der Stilllegung gestaltet sich bis heute deutlich schwieriger als die Atomlobby immer wieder prophezeit hatte. Erst 1999, als das Reaktorgebäude abgebaut und der Reaktor entsorgt werden sollte, wurde im Reaktorgebäude, unterhalb des Reaktorbehälters, kontaminiertes Wasser entdeckt. Das Wasser war hoch mit Strontium-90 belastet. Noch 2001 wurde die hohe Belastung vom Wirtschaftsministerium NRW auf eine schadhafte Charge von Brennelementen zurückgeführt. Nach neueren Erkenntnissen wurde inzwischen klar, dass die Radioaktivität von den Spaltprodukten herrührt, die durch den jahrelangen AVR-Betrieb bei viel zu hohen Temperaturen und einen Wassereinbruch 1978 freigeworden sind. 2001 schließlich ergab sich, dass auch das Wasser im umgebenden Erdreich stark kontaminiert war und immer wieder hochdrückte. 2003 musste schließlich die öffentliche Hand den Reaktor übernehmen, da die früheren Eigentümer den Rückbau nicht in den Griff bekamen. Das FZJ übernahm die Verantwortung für die Brennelemente. Vermutlich um dieses Debakel zu verschleiern, wurde die AVR-Entsorgung nicht im Umweltministerium sondern im Forschungsministerium unter "Entsorgung kerntechnischer Forschungseinrichtungen des Bundes" angesiedelt.

Somit kann das Reaktorgebäude nicht - wie ursprünglich geplant - für 60 Jahre hier stehen bleiben ("sicherer Einschluss"). Die mehrjährigen Versuche, den Reaktorbehälter von Brennelementen zu entleeren, brachten an den Tag, dass sich im Innern hoch radioaktiv strahlende Bruchstücke von Kugelbrennelementen in einem Riss der zerbrochenen Bodenkonstruktion befinden und dass diese nicht zu entfernen sind. Inzwischen wurde um den Reaktor eine 60 Meter hohe und 40 Meter lange Sicherheitshülle gebaut und der Reaktorbehälter wurde mit Porenleichtbeton gefüllt. Er hat die Aufgabe, die nichtentfernbaren hochradioaktiven Brennelementekugeln und den hochradioaktiven Staub zu fixieren. Der insgesamt 2.100 Tonnen schwere Reaktorbehälter soll nach einem gefährlichen Kippmanöver und einem Transport auf einem 80-Achsen-Fahrzeug ab 2015 mindestens 60 Jahre in einer Halle in der Nähe des ursprünglichen Standortes zwischengelagert werden.

Seit 1993 wird auf dem Gelände des Forschungszentrums Jülich (FZJ) ein Zwischenlager in Leichtbauweise für AVR-Brennelemente in Castoren betrieben, dessen Genehmigung nach 20 Jahren 2013 ausgelaufen ist. Beim Stresstest 2013 war das Jülicher Castorenlager als einziges deutsches Lager durchgefallen, insbesondere unzureichender Erdbebenschutz und fehlender Schutz gegen Flugzeugabsturz wurden bemängelt. Sein weiterer Betrieb wurde zweimal für 6 bzw. 7 Monate durch Duldungsanordnungen ermöglicht, nachdem der Plan, die dort lagernden 152 Castor-Behälter mit knapp 300.000 "verbrauchten" Brennelementkugeln aus dem AVR in das Brennelemente-Zwischenlager (BEZ) Ahaus zu transportieren, am Widerstand in der Bevölkerung gescheitert war. 2012 wurde bekannt, dass eine mögliche Genehmigung zur Einlagerung in Ahaus wegen qualitativ unzureichender Antragsunterlagen des FZJ nicht rechtzeitig erteilt werden kann. Das FZJ beschloss daher, einen Antrag auf Verlängerung des Jülicher Lagers bis 2016 zu stellen, dem aber nicht stattgegeben wurde. Außerdem wurden Vorplanungen zur Errichtung eines neuen Lagers in Jülich begonnen.

Parallel dazu entwickelten sich 2012 allerdings Pläne des FZJ, die 152 Castoren in den USA zu "entsorgen".

Da passte es dann ganz ausgezeichnet, dass im Frühsommer 2014 ein Gutachten auf die Möglichkeit von Bodenverflüssigung nach Erdbeben hinwies - 47 Jahre nach Inbetriebnahme des AVR. Daraufhin wurde am 2.7.2014 die FZJ GmbH vom NRW-Wirtschaftsministerium aufgefordert, "Konzepte zur Entfernung der Kernbrennstoffe aus dem AVR-Behälterlager" bis 30.09.2014 vorzulegen. Gleichzeitig legte das Wirtschaftsministerium dar, dass es dafür eigentlich nur zwei Möglichkeiten gebe, nämlich die (schon einmal gescheiterte) Überführung nach Ahaus und eben die "Rückführung der Brennelemente in die USA".

2010 hatte es schon einen ersten Versuch gegeben, Castoren aus Ahaus nach Majak in Russland zu verschieben. Nachdem sich aber auch dort massiver Widerstand formiert hatte, wurde dieses Unternehmen wieder abgeblasen.

Beide Vorhaben, Export nach Russland oder in die USA, stehen allerdings im Widerspruch zu diversen rechtlichen Bestimmungen, wie die vorstehend beschriebenen Gutachten zeigen.

Anscheinend völlig unbemerkt und auf den letzten Drücker im Bundestag am 28.6.2014 und am 5.7.2014 im Bundesrat wurde die von langer Hand vorbereitete "Lex AVR" hinter verschlossenen Türen in das Standortsuchgesetz (Stand AG) hineingedrückt, um die Graphit-Kugeln des AVR (und die des HTR-Hamm möglichst gleich mit) unter dem Label "Forschungsreaktor" nach den USA verbringen zu können. Diese "Lex AVR" besteht in folgendem (sicher nicht zufällig schwer verständlichem und auf den ersten Blick das Gegenteil aussagenden) Satz im § 1 (1) Stand AG: "Zur Erreichung dieses Ziels werden zwischen der Bundesrepublik Deutschland und anderen Staaten keine Abkommen geschlossen, mit denen nach den Bestimmungen der Richtlinie 2011/70/EURATOM des Rates vom 19. Juli 2011 über einen Gemeinschaftsrahmen für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle (ABl. L 199 vom 2.8.2011, S. 48) eine Verbringung radioaktiver Abfälle einschließlich abgebrannter Brennelemente zum Zweck der Endlagerung außerhalb Deutschlands ermöglicht würde."

Schaut man dann in die entsprechende EU-Richtlinie so findet man in der Tat in Artikel 4 (4) den Hinweis, dass der an sich ausgeschlossene Export von Atommüll für Forschungsreaktoren nicht gilt.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Vorgehensweise, die wahrheitswidrige Umdeklarierung sowohl des AVR als auch des THTR in Hamm zu Forschungsreaktoren, einer verwaltungsgerichtlichen Klage kaum standhalten wird.

Dem Vernehmen nach haben die USA ein nicht unerhebliches Interesse an den Kugeln aus Jülich und insbesondere Hamm/Ahaus (vom THTR), weil sie an diesen die Kugelwiederaufarbeitung mit deutschen Steuergeldern (circa 1.000 Millionen US-Dollar soll die ganze Aktion kosten) erproben können zugunsten ihrer eigenen Hochtemperaturreaktorpläne der 4. Generation (NGNP). "US-Option" heißt die favorisierte Variante in den aktuellen Haushaltsplänen der Bundesregierung - es ist zu befürchten, dass sie sich zu einem finanziellen Desaster entwickeln wird: Bis 2017 sollen 246 Millionen Euro nur für die Vertrags- und Transportkosten bereitgestellt werden (10 Millionen Euro im Haushalt 2014, 65,37 Millionen für 2015 und 170,865 Millionen für 2016). Außerdem besitzen die USA noch ähnlichen Atommüll, der seit Jahrzehnten in Idaho und in Colorado gelagert wird. Die gelegentlich zu hörenden Aussagen zur Nichtweiterverbreitung von atomwaffenfähigem Uran (Gefahr der Proliferation) sind hinsichtlich der AVR-Kugeln demgegenüber reiner Etikettenschwindel - sie würden nur beim THTR-Müll greifen, da dessen Brennelemente nur wenig "verbraucht" sind.

Im Juni/Juli 2014 haben die ForschungsministerInnen (warum wohl ausgerechnet diese und nicht der eigentlich zuständige Umweltminister im Bund bzw. Wirtschaftsminister im Land?) mit dem "Departement of Energy" der USA (also dem Energieministerium, und nicht mit einer Forschungsabteilung) ein "Statement of Intent" abgeschlossen, in dem der Export des Kugelhaufenmülls von AVR und augenscheinlich auch vom THTR in die USA verabredet worden ist.

In den USA selbst wächst der Widerstand, nicht nur direkt vor Ort, sondern auch in den Bundesstaaten Georgia und South Carolina und umfasst sogar die konservative Gouverneurin von South Carolina.

Die Klimmzüge der NRW-Regierungspartei Grüne sind vor dem Hintergrund all dieser zum großen Teil von früheren Landesregierungen selbst gemachten Probleme bemerkenswert: Im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2012 heißt es: "Wir wollen, dass die Castoren, vor allem die in Jülich lagernden, nur noch einmal transportiert werden - nämlich zu einem Endlager, wenn hierfür ein Standort gefunden ist." Dies ist eigentlich eine klare Aussage und bedeutet schlicht den Verbleib in Jülich.

Ganz gleich, welche PolitikerInnen den Koalitionsvertrag wie auch immer zu ihren Gunsten interpretieren: Die Verantwortung für den sicherstmöglichen Umgang mit den radioaktiven Graphitkugeln liegt bei der Landesregierung und der Ministerpräsidentin, davon kann sie niemand entbinden. "Die Ministerpräsidentin bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung", steht auf den Seiten des Landesportals NRW.


Sie auch ausführlich: Rainer Moormann, Jürgen Streich: Kugelhaufenreaktoren - Status nach Erscheinen einer unabhängigen Expertenstudie zum AVR Jülich, Strahlentelex 664-665 v. 4.9.2014, S. 1-6,
www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S01-07.pdf


Literatur

Dr. Ulrich Wollenteit, RA: Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Verbringung von abgebrannten Kernbrennstoffen aus dem stillgelegten Kernkraftwerk AVR Jülich in die Wiederaufbereitungsnlage Savannah River Site (USA), erstellt im Auftrag von Greenpeace e.V., Hamburg 03.09.2014
https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/rechtsgutachten-juelich20140917.pdf

Felix Ekardt, Raphael Weyland: Rechtmäßigkeit des Exports radioaktiver Abfälle des AVR Jülich in die USA, Rechtsgutachten im Auftrag des BUND NRW e.V., Leipzig, 21.09.2014
http://www.bundnrw.de/fileadmin/bundgruppen/bcmslvnrw/PDF_Dateien/Themen_und_Projekte/Energie_und_Klima/Atom/2014_09_22_LPK_Juelich/AVR_LPK_22.9.14_Rechtsgut_achten_fuer_BUND-NRW.pdf

Bundestagsdrucksache 18/2488, 05.09.2014: Möglicher Export hochradioaktiver Brennelemente aus Jülich und Ahaus per Castor-Transporten in die USA
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/024/1802488.pdf

Rainer Moormann, Jürgen Streich: Kugelhaufenreaktoren - Status nach Erscheinen einer unabhängigen Expertenstudie zum AVR Jülich, Strahlentelex 664-665 v. 4.9.2014, S. 1-6,
www.strahlentelex.de/Stx_14_664-665_S01-07.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter:
www.strahlentelex.de/Stx_14_666-667_S06-10.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Oktober 2014, Seite 6 - 10
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2014