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ATOM/1207: Interview - Ex-Atomaufseher Dieter Majer über die begrenzte Sicherheit von AKW (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 19 / Winter 2012/2013

"Eine Irreführung der Öffentlichkeit"

Interview: Armin Simon



Ex-Atomaufseher Dieter Majer über die begrenzte Sicherheit von AKW, falsche "Stresstests" und die Möglichkeit, Reaktoren mittels strenger Nachrüstungsauflagen stillzulegen


Herr Majer, Sie waren bis Mai 2011 so etwas wie der technische Leiter der Bundesatomaufsicht. Hat der Super-GAU von Fukushima Sie überrascht?

Dieter Majer: Mir war immer klar, dass ein solcher Unfall passieren kann - wenn auch die Wahrscheinlichkeit relativ gering war. Aber es können eben auch sehr geringe Eintrittswahrscheinlichkeiten Realität werden. Trotzdem wird seit Jahrzehnten immer wieder behauptet, AKW seien sicher. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß, dass ein Unfall mit schwerwiegenden Folgen stattfinden kann. Wenn man also von Sicherheit spricht, dann meint man damit eine Sicherheit, die allgemein akzeptiert wird - und weiß gleichzeitig, dass es auch noch einen Bereich der Unsicherheit gibt. Nur drücken sich die Politiker in der Regel sehr unpräzise aus - um es mal zurückhaltend zu sagen.

Was ist das große Sicherheitsproblem der AKW?

Dass es, selbst wenn alle Abschalteinrichtungen funktionieren, noch die sogenannte Nachzerfallswärme gibt. Die ist nicht abschaltbar. Und sie reicht aus, um einen Reaktorkern zum Schmelzen zu bringen und in der Folge dann zum Durchschmelzen des Reaktordruckbehälters, zu Dampfexplosionen, Wasserstoffexplosionen und Ähnlichem und dann zu großen Freisetzungen radioaktiver Stoffe. Um diese Unfallszenarien zu vermeiden, muss man den Reaktorkern kühlen, und dafür braucht man Pumpen, Ventile und so weiter, die alle Strom benötigen und mit Strom gesteuert werden. Wenn deren Stromversorgung oder Steuerung ausfällt, kommt es zur Kernschmelze.

Eben deswegen gibt es doch Notstromsysteme und mehr!

Auch mehrfache Stromversorgungen können alle ausfallen. Das ist immer nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Die ist sicher relativ gering - aber der Schaden, der bei einem solchen Unfall entsteht, der ist eben sehr, sehr groß. Deswegen ist das Risiko, das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadenshöhe, sehr groß.

Sie arbeiten derzeit im Auftrag von .ausgestrahlt an einer gutachterlichen Stellungnahme zur Gefährlichkeit des AKW Brokdorf. Was zeichnet dieses AKW in sicherheitstechnischer Hinsicht aus?

Es ist eine sogenannte "Vorkonvoi"-Anlage, wie die AKW Grafenrheinfeld, Grohnde und Philippsburg-2. Unter allen Druckwasserreaktoren, die in Deutschland noch laufen, sind das die älteren. Da sind zum Beispiel redundant vorhandene Systeme nicht so konsequent voneinander getrennt wie in den neueren "Konvoi"Modellen. Sie haben auch noch einige andere technische Defizite im Vergleich zu diesen.

Kein anderer Reaktor verzeichnet mehr meldepflichtige Ereignisse pro Betriebsjahr als Brokdorf. Meistens heißt es, diese hätten "keine sicherheitstechnische Bedeutung".

Das halte ich in der Regel für falsch. Jedes dieser Ereignisse kann ein Vorläufer sein für einen schweren Unfall. Die Analyse der Atomunfälle weltweit zeigt, dass es immer verschiedene Ereignisse sind, die für sich genommen relativ unbedeutsam wären. Aber das Zusammenwirken solcher Ereignisse hat dann gravierende Folgen.

Zum Beispiel?

Immer wieder mal fallen Elektronikbaugruppen wegen irgendwas aus. In der Regel heißt es dann: "sicherheitstechnisch unbedeutsam". Aber so ein Ausfall bedeutet ja, dass der ganze Strang des jeweiligen Systems ausfällt. Das reduziert die Redundanzen.

Wenn dann derselbe Fehler mehrfach auftritt, ...

... dann habe ich ein ernsthaftes sicherheitstechnisches Problem.

Im AKW Brokdorf gab es mal einen kleinen Brand, ...

... aufgrund dessen musste die Notkühleinrichtung teilweise abgeschaltet werden. Deshalb stand nur noch die im Falle eines Falles unbedingt nötige Anzahl von Notkühlsträngen zur Verfügung. Dann zu sagen, dieses Ereignis sei "sicherheitstechnisch nicht bedeutsam", halte ich wirklich für abwegig. Aber genau das hat Eon getan.

Der Reaktor dort steht direkt an der Elbe. Ergeben sich daraus besondere Gefahren?

Hochwasser! Gerade Fukushima hat ja gezeigt, dass wir das Zusammenwirken vieler Ereignisse betrachten müssen. Also etwa Elb-Hochwasser, starker Sturm, hohe Wellen, Erdbeben, große Niederschläge: Das kann dann zu einer Überflutung des Anlagengeländes führen und damit zum Ausfall sicherheitstechnisch wichtiger Einrichtungen aufgrund der bei einer Überflutung ausgefallenen Stromversorgung - und damit sind wir wieder beim großen Problem.

Eon verweist auf den Deich, der das AKW schütze.

Das Problem ist, dass man die Hochwasserstände, gegen die ein AKW ausgelegt wird, auf der Basis historischer Aufzeichnungen ermittelt: Man versucht herauszufinden, was der höchste Wasserstand in der Vergangenheit war. Aber im Mittelalter gab es ja keine Institution, die sowas zuverlässig aufgezeichnet hätte. Außerdem: Die Reaktoren in Fukushima waren auch ausgelegt gegen einen Tsunami, wie er bis dahin mal aufgetreten war. Dass irgendwann auch mal ein höherer auftreten kann, hat man nicht unterstellt. Es gibt Dinge, die man im Einzelnen nicht voraussehen kann. Einfach zu sagen, wie in Brokdorf und anderen Fällen geschehen, "das ist das Hochwasser, gegen das ich die Anlage auslegen muss, und darüber hinaus muss ich nichts machen", das ist schon mutig.

Beim Erdbebenschutz läuft das ähnlich, oder?

Ja. Auch da versucht man, historische Erdbebenstärken zu ermitteln und zieht daraus dann gewisse Schlüsse.

Norddeutschland gilt als erdbebenarmes Gebiet.

Deswegen sind die AKW dort auch nur gegen schwächere Erdbeben ausgelegt. Aber niemand kann ausschließen, dass es in Brokdorf nicht doch mal ein stärkeres Beben gibt.

Hat die EU-Kommission deshalb den Erdbebenschutz des AKW Brokdorf bemängelt?

Sie hat kritisiert, dass es noch nicht einmal die internationale Mindestanforderung erfüllt. Die IAEO sagt: Jedes AKW muss mindestens gegen eine Erdbeschleunigung von 0,1 g ausgelegt sein - unabhängig von den konkreten Standortgegebenheiten. Das entspricht einem ganz leichten Erdbeben. Wenn die EU Recht hat, dann liegt in Brokdorf ein gravierendes Erdbebendefizit vor.

Wenige Tage nach Fukushima tauchte ein Papier aus Ihrer Unterabteilung im Ministerium auf, das seitenlang Nachrüstungsforderungen für die deutschen AKW auflistete. Was ist daraus geworden?

Das waren sehr anspruchsvolle Forderungen, die Mitarbeiter von mir da zusammengestellt hatten. Teilweise hätten die zur Stilllegung aller AKW in Deutschland geführt, da die Forderungen technisch gar nicht umsetzbar waren. Nach Auffassung meiner Juristen hätte das allerdings milliardenschwere Schadensersatzforderungen der Betreiber gegenüber der Bundesregierung ausgelöst. Das Papier hat deshalb bei den weiteren Beratungen über die Konsequenzen von Fukushima keine entscheidende Rolle gespielt.

Was trat an seine Stelle?

Ich selbst hatte Monate zuvor, noch mit Blick auf die geplante Laufzeitverlängerung, für den Umweltminister mal eine Zusammenstellung angefertigt, wobei ich darin nur sowohl technisch als auch finanziell mögliche Nachrüstungsmaßnahmen auflisten sollte. Auf Basis dieses Papiers ist dann nach Fukushima - ich war inzwischen pensioniert - eine im Vergleich zur ersten Version sehr abgemagerte Liste entstanden. Deren Formulierungen sind allerdings weich: keine klaren Vorgaben für Nachrüstungen, sondern nur Themen, die man diskutieren will.

Ist die Atomaufsicht in Deutschland überhaupt stark genug, um teure Nachrüstungen durchzusetzen?

Eine schwierige Frage. Im Atombereich gibt es viele mächtige Player, es geht um eine Million Euro pro Tag und Reaktor. Wenn da ein Aufsichtsbeamter verfügen würde, eine Anlage für mehrere Wochen stillzulegen, wird der Druck gewaltig. Entscheidend ist, ob man politisch Rückendeckung hat.

Das ist nicht selbstverständlich?

In Grafenrheinfeld gab es den Verdacht, dass sich in der druckführenden Umschließung des Reaktors ein Riss gebildet hat. Ich als höchster technisch ausgebildeter und zuständiger Beamter im Bundesumweltministerium habe eine Weisung gegenüber der bayerischen Aufsichtsbehörde formuliert. Aber die wurde dann aufgehoben von meinen politischen Vorgesetzten: Hennenhöfer, Staatssekretär Becker, Röttgen. Da spielt die Politik schon eine große Rolle. Dabei ging es in diesem Fall um ein schweres Sicherheitsproblem, das meine politischen Vorgesetzten meines Erachtens in seiner Tragweite aufgrund ihrer fehlenden technischen Fachkunde nicht beurteilen konnten! Übrigens habe ich von dem Problem nur durch einen anonymen Hinweis erfahren - obwohl das bayerische Umweltministerium das Bundesumweltministerium hätte informieren müssen.

Wenn's um Nachrüstungen geht, spielen die Betreiber gerne auch auf Zeit.

Das ist ein Problem, ja. Als Aufsichtsbehörde kann ich immer nur das Ziel formulieren, zum Beispiel die Verbesserung einer Kühleinrichtung. Dann muss der Betreiber einen Vorschlag machen und eine Genehmigung beantragen. Bis zu einer Umsetzung vergehen häufig Jahre. Da stellt sich dann die Frage: Muss die Anlage so lange abgeschaltet werden oder nicht?

Nehmen wir mal die oben erwähnte abgemagerte Nachrüstungsliste von nach Fukushima: Könnte man da verlangen, dass die AKW stillliegen müssen, bis zumindest diese Maßnahmen umgesetzt sind?

Ich meine, an vielen Stellen ja. Denn die Defizite, die diesen Nachrüstungserfordernissen zugrunde liegen, dürften eigentlich gar nicht vorhanden sein. Das sind Dinge, die schon die Genehmigung des AKW fordert. Deshalb kommt hier aus meiner Sicht § 19 Atomgesetz zum Tragen ...

... in dem geregelt ist, dass die Aufsichtsbehörde eine Anlage einstweilig stilllegen kann, bis diese Defizite beseitigt sind.

Meines Erachtens könnte man das in diesen Fällen tun, um zu erreichen, dass diese Nachrüstungen zügig umgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist natürlich der entsprechende politische Wille.

Stehen in dieser Liste auch Dinge, die Brokdorf betreffen?

Da bin ich sicher.

Seit Fukushima ist statt von "Sicherheit" häufig von "Robustheit" der AKW die Rede. Was steckt dahinter?

Eine Irreführung der Öffentlichkeit. Sowohl die Reaktorsicherheitskommission als auch die EU-Kommission sind in ihren "Stresstests" einfach davon ausgegangen, dass die AKW allen Sicherheitsvorschriften genügen. Die haben sich überhaupt nicht darum gekümmert, wie sicher die Anlagen an sich sind und ob die Sicherheitssysteme so funktionieren, wie sie sollen. Sondern sie haben sich nur gefragt: Welche zusätzlichen Maßnahmen gibt es denn für den Fall, dass ein Unfall schon eingetreten ist? Etwa, ob man dann noch irgendwo einen Feuerwehrschlauch auftreiben kann, um die Anlage zu kühlen - solche Sachen. Das haben sie dann "Robustheit" genannt. Mit einer kompletten Sicherheitsüberprüfung hat das nichts zu tun.

Kann man die Sicherheitsrisiken des AKW Brokdorf und der anderen Reaktoren in Deutschland durch Nachrüstungen beheben?

Man kann nur die Eintrittswahrscheinlichkeit von schweren Unfällen reduzieren. Ausschließen kann man sie nicht.


Dipl.-Ing. Dieter Majer Ministerialdirigent a.D., war vor seiner Pensionierung im Mai 2011 Unterabteilungsleiter im Bundesumweltministerium für den Bereich Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen und damit der höchste technische Experte der Bundesatomaufsicht.

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Quelle:
Rundbrief 19, Winter 2012/2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2013