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INITIATIVE/491: Igel und Apfelblüten - Citizen-Science-Aktionen (Naturschutz heute)


NATURSCHUTZ heute - Heft 2/16
Mitgliedermagazin des Naturschutzbundes (NABU) e.V.

Igel und Apfelblüten
Citizen-Science-Aktionen machen Spaß und schaffen Wissen

von Helge May


Wieder hat es einer nicht geschafft. Auch für diesen Igel war der Autoverkehr zu schnell, tot liegt er jetzt am Straßenrand. Wie ihm geht es jährlich Zehntausenden, vielleicht sogar Hunderttausenden. Wie viele Verkehrsopfer es sind, vor allem aber wo Igel denn überhaupt noch vorkommen, will der bayerische NABU-Partner LBV wissen. Deshalb hat er zusammen mit dem Bayerischen Rundfunk eine Mitmachaktion gestartet. Bürgerforscher sind aufgerufen, jeden gesichteten Igel zu melden.

Mit 28.500 Tieren wurden die Erwartungen bereits in der ersten Saison weit übertroffen - und immerhin wurden zwei Drittel aller erfassten Igel lebendig beobachtet. Die Mehrzahl der toten Igel wiederum wurde in der Nähe von Siedlungsbereichen überfahren. "So liegt die Vermutung nahe, dass sich der Igel als Kulturfolger tatsächlich weitgehend aus den Waldrändern und der Feldflur zurückgezogen hat und nun hauptsächlich in unseren Gärten wohnt", meint Igel-Expertin Martina Gehret. Dies unterstreicht wiederum die Wichtigkeit des bisher stark unterschätzen Lebensraums Garten, vor allem wenn er naturnah angelegt ist und so dem Igel Nahrung und Unterschlupf bietet.

Möglichst niedrige Hürden
Auf mehrere Jahre angelegt, will das Projekt herausfinden, wie es dem Igel in Bayern und seinem Lebensraum geht, um so konkrete Schutzmaßnahmen für ihn zu entwickeln. Unter der Fragestellung "Wo werden Igel gefunden?" werden alle Meldedaten mit den bayerischen Landnutzungsdaten abgeglichen und in einer Modellierung auf den gesamten Freistaat hochgerechnet.

"Igel in Bayern" ist typisch für viele Citizen-Science-Aktionen. Die Hürde für die Teilnahme ist bewusst niedrig, einen Igel erkennt jeder durchschnittliche Naturfreund. Sozusagen "Citizen Science light". Der Vorteil: Je einfacher die Methode, desto mehr Menschen machen mit, desto höher ist die Datendichte. Der Nachteil: Allzu komplex darf die Fragestellung bei solchen Aktionen nicht sein, sie darf auch nicht zu viel Zeit kosten.

Je höher die Ansprüche, desto kleiner wird folglich der Teilnehmerkreis. An der Stunde der Gartenvögel und der Stunde der Wintervögel etwa - beide sehr einfach - beteiligen sich bis zu 90.000 Menschen, die Meldeplattform www.Ornitho.de hat rund 10.000 Nutzer, für den arbeitsintensiven Brutvogelatlas ADEBAR gelang es 4.000 Mitarbeiter zu gewinnen und die Daueraufgabe "Monitoring häufiger Brutvögel" stützt sich auf gut tausend Kartierer.

Die Klugheit der Masse
Lange mussten Citizen-Science-Aktionen mit Vorurteilen kämpfen, was Methoden und Zuverlässigkeit von Daten betrifft - nicht nur seitens der Wissenschaft. Niedrigschwellige Aktionen wie die Stunde der Gartenvögel standen unter dem Verdacht, sie seien bloße Wohlfühlveranstaltungen, der Klugheit der Masse wollte man nicht vertrauen. "Gerade die Masse macht es aber", betont NABU-Vogelexperte Lars Lachmann. "Einzelne Fehler unerfahrener Beobachter werden durch die Menge der Beobachtungen ausgeglichen und führen nicht zu einer Verfälschung der Ergebnisse. Das ist statistisch erwiesen."

Einzelne Fehler unerfahrener Beobachter werden durch die Menge der Beobachtungen ausgeglichen.

Bei der Interpretation muss unter anderem berücksichtigt werden, dass "Wiederholungstäter" von Jahr zu Jahr hinzulernen und daher auch immer mehr seltenere Arten identifizieren. Das ist mühsam, der Effekt ist jedoch hochwillkommen, denn natürlich soll Citizen Science auch bilden. Wer heute bei der Stunde der Gartenvögel teilnimmt, hat daran hoffentlich so viel Freude, dass er künftig auch für "höhere" Aufgaben bereit ist.

Triebfeder Neugier
Wissenschaft begann schon immer dort, wo sich Menschen aus reiner Neugier Wissen und Fähigkeiten aneigneten. Immer wieder waren es auch Laien, die die Gesellschaft mit ihrem Forscherdrang voranbrachten - darunter spätere Berühmtheiten wie Leonardo da Vinci, Gregor Mendel oder Charles Darwin.

Ganz so hoch müssen angehende Bürgerwissenschaftler ihre Ziele nicht stecken. "Aber auch heute ist es noch so, dass die regionalen Artenspezialisten zumeist keine professionellen Wissenschaftler sind, sondern als Bürgerforscher in ihrer Freizeit tätig sind", betont Stefan Munzinger, Mitgründer des Meldeportals "Naturgucker". "Sicher findet die naturwissenschaftliche Spitzenforschung überwiegend im akademischen Rahmen statt, denn dort ist die Finanzierung sichergestellt. Deshalb aber die breit aufgestellte Basisarbeit zu vergessen, wäre ein grundlegender Fehler." Dies umso mehr, als die "grüne Biologie" an den Universitäten immer mehr in die Defensive gerät. "Lehrstühle werden abgebaut und feldbiologisches Basiswissen wird immer weniger vermittelt", stellt Munzinger fest. "Wir können davon ausgehen, dass in punkto Artenkenntnis an den Hochschulen eine Brache der Ahnungslosigkeit die früher vielfältig blühende Landschaft des Wissens ersetzt."

Frühling im Apfelblütenland
Citizen-Science-Projekte gibt es inzwischen zu Dutzenden. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, findet auf www.buergerschaffenwissen.de viele Beispiele. Fast schon zu den Klassikern gehört das 2005 ins Leben gerufene "Apfelblütenland" des SWR, bei dem anhand des Erblühen der Apfelbäume der Beginn des Vollfrühlings und dessen Zug durch Deutschland abgebildet wird. Der früheste im Rahmen der Aktion gemeldete Blühbeginn war bisher der 23. März. Dieser Rekord konnte in diesem Frühling bei weitem nicht erreicht werden. Der Winter 2015/16 war zwar kurz, aber der Vorfrühling zog sich fast endlos. Erst am 11. April begannen sich am Bodensee und im Breisgau die ersten Blüten zu öffnen, bei Drucklegung dieses Heftes war die Blüte immerhin bereits entlang des gesamten Rheins, der Donau und sämtlicher Nebenflüsse vorangekommen, im Osten bildeten die Lausitz und Berlin Blühinseln.

Bei manchen Projekten liegt es in der Natur der Sache, dass die Bürgerwissenschaftler lediglich Zuträger sind. Beim "Mückenatlas" etwa sammeln und verschicken sie Mücken, die von Spezialisten für die wissenschaftliche Auswertung aufgearbeitet werden und zur Weiterentwicklung von Forschungsthemen beitragen. Die Bearbeitung des Untersuchungsmaterials liegt ausschließlich in den Händen der Profi-Wissenschaftler.

Selbstorganisierte Meldeportale
Ein ganz anderes Modell verfolgen selbstorganisierte Meldeportale wie www.ornitho.de und www.naturgucker.de. Hier erfolgt die Verifizierung von Daten durch eigene Experten, beim Naturgucker prüfen sich auch die Nutzer gegenseitig. Der Naturgucker fährt einen besonders umfassenden Ansatz: Beobachtungen und Meldungen jederzeit, ohne geografische oder Artenbeschränkung für Pflanzen, Pilze und Tiere weltweit. Das Portal, an dem mehrere NABU-Landesverbände als Gesellschafter und der NABU-Bundesverband als Partner beteiligt sind, hat derzeit 26.000 registrierte Nutzerinnen und Nutzer, die bereits mehr als 6,7 Millionen Beobachtungen beigetragen haben - gestützt unter anderem auf 320.000 Bilder. Für den NABU haben die Daten einen enormen praktischen Wert, denn wissenschaftliche Fakten und Erkenntnisse sind für erfolgreichen Naturschutz unerlässlich.

Dank der technischen Möglichkeiten des Internets lassen sich Daten heute einfacher sammeln und teilen.

Realisierbar ist dies nur - neben der Naturverbundenheit der Nutzer - durch die technischen Möglichkeiten des Internets. Dazu gehören auch Apps zum Einsatz im Feld, wie sie der Naturgucker gerade herausgebracht hat. Die App enthält ein umfassendes Feldbuch mit über 60.000 Arten. Natürlich ist Bildupload Standard, zur Verortung können Naturgucker-Beobachtungsgebiete ebenso wie exakte GPS-Koordinaten genutzt werden. Schöne neue Citizen-Science-Welt ...


Wie alles anfing

Ob römische Stadtgründungen, Passionsspiele oder Oktoberfest: Wenn es um alte Traditionen geht, schaut die "Neue Welt" oft neidisch nach Europa. Im Naturschutz jedoch gingen die USA der Alten Welt voraus. Zur Bewahrung von Wildnis Nationalparke einzurichten, ist wohl die bekannteste und erfolgreichste US-Naturschutzidee, aber auch naturkundliche Mitmachaktionen sind eine nordamerikanische Erfindung. Im Jahr 1900 rief der Vogelkundler Frank Chapman erstmals zu einem "Christmas Bird Count" auf, inzwischen fand die Aktion der National Audubon Society - US-Partner des NABU - bereits zum 117. Mal statt.

Blutige Vorgänger des Christmas Bird Count waren "Side Hunts", bei denen Jagdgesellschaften miteinander wetteiferten, wer die meisten Vögel und anderen Tiere erlegt. Chapman schlug vor, statt mit der Flinte mit Fernglas und Notizblock jagen zu gehen, und seine Idee setzte sich durch. Inzwischen findet die Vogelzählung nicht nur in allen 50 US-Staaten statt und sämtlichen Provinzen Kanadas, sondern auch in den karibischen Staaten und einigen Ländern Südamerikas. Die gewonnenen Daten fließen unter anderem in den jährlichen Bericht zur Lage der Vogelwelt des US-Innenministeriums ein. Audubon selbst konnte dank der enorm langen Zeitreihen zudem Analysen zu den Folgen des Klimawandels sowie eine "Watch List" der Arten mit besonderem Schutzbedarf erstellen.

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Quelle:
Naturschutz heute - Heft 2/16, Seite 8 - 12
Verlag: Naturschutz heute, 10108 Berlin
Tel.: 030/284984-1530, Fax: 030/284984-2500
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"Naturschutz heute" ist das Mitgliedermagazin
des Naturschutzbundes Deutschland (NABU) e.V.
und erscheint vierteljährlich. Für Mitglieder
ist der Bezug im Jahresbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2016

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