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FORSCHUNG/1551: Projekt "Kinder - Umwelt - Gesundheit" (Umwelt Perspektiven)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ
Umwelt Perspektiven
Der UFZ-Newsletter - Mai 2019

Chemikalien in der Umwelt
Kinder - Umwelt - Gesundheit

von Benjamin Haerdle und Susanne Hufe


In Deutschland sind Millionen Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, von Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Atemwegserkrankungen und Übergewicht betroffen. Die Ursachen sind vielfältig, ihre Erforschung ist eine große Herausforderung. Doch klar ist: Es sind nicht nur die Gene, sondern auch Umwelt- und soziale Faktoren, die besonders in sensiblen Phasen der Schwangerschaft und den ersten Jahren der Kindheit für spätere chronische Erkrankungen verantwortlich sind. Um Auslöser und Mechanismen besser zu verstehen, geeignete Therapieansätze zu finden und Prävention betreiben zu können, ist interdisziplinäre Forschung notwendig. Deshalb hat das UFZ gemeinsam mit der Kinderklinik der Universität Leipzig und weiteren Partnern beschlossen, sich dem Thema "Kinder, Umwelt und Gesundheit" intensiver als bislang gemeinsam zu widmen.


Wurde der Fußbodenbelag neu verlegt? Gibt es Schimmelflecken an den Wänden? Wie stark belastet der Verkehrslärm? Wie viele Stunden am Tag läuft der Fernseher? Insgesamt 56 Fragen wie diese listet der von UFZ-Immunologen entwickelte Fragebogen für Schwangere auf, die an der epidemiologischen Mutter-Kind-Studie LiNA teilnehmen. LiNA untersucht als Langzeitstudie kindliche Entwicklungsphasen und berücksichtigt dabei vor allem Lebensstil, Umweltbelastungen sowie das Auftreten von Allergien, Atemwegserkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten und Übergewicht. Im Jahr 2006 begann die LiNA-Studie mit der Befragung und der Untersuchung von damals 622 schwangeren Frauen und deren Wohnumfeld. Der Anspruch: "Wir wollen mit der Studie herausfinden, wie Umweltbelastungen und insbesondere Chemikalien während der Schwangerschaft und nach der Geburt die Reifung des kindlichen Immunsystems beeinflussen und welche Folgen eine veränderte Immunregulation für spätere Erkrankungen hat", sagt die LiNA-Studienleiterin Dr. Gunda Herberth. Zudem müsse mehr Wert auf die Prävention gelegt werden.

In der LiNA-Studie werden Kinder und Jugendliche bis zu ihrem 20. Lebensjahr medizinisch betreut: Zuerst waren es Mediziner des Städtischen Klinikums St. Georg, die nahezu jedes Jahr Gewicht und Größe maßen sowie Blutund Urinproben nahmen. Seit dem vorigen Jahr hat diese Aufgabe das Leipziger Forschungszentrum für Zivilisationserkrankungen (LIFE) der Universität Leipzig übernommen. Am UFZ wird das Blut der Kinder auf relevante Immunparameter und Stoffwechselprodukte untersucht. Zudem erfassen die UFZ-Umweltimmunologen über Fragebögen regelmäßig Angaben der mittlerweile 11- bis 13-jährigen Kinder und ihrer Eltern zur deren Wohnbedingungen, Ernährungsgewohnheiten, Freizeitverhalten und Finanzsituation. "So können wir im Verlauf der Zeit sehr gut verfolgen, ob und wenn ja wie sich der Gesundheitszustand der Kinder verändert und welche Verbindungen es zu deren Lebensumfeld gibt", sagt Gunda Herberth.

Dass am UFZ Frauen während und nach der Schwangerschaft sowie deren Kinder im Fokus des Forschungsinteresses stehen, hat gute Gründe. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Häufigkeit von Allergien und anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Asthma sowie psychischen Auffälligkeiten wie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen gestiegen. So waren laut einer vom Robert-Koch-Institut im Jahr 2018 veröffentlichten Studie in Deutschland fast 24 Prozent der Kinder und Jugendlichen jemals an Allergien wie Heuschnupfen, Asthma und Neurodermitis erkrankt. Auch das Problem übergewichtiger Kinder hat sich verschärft: Rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen galten laut Studie als übergewichtig - im Vergleich zum Zeitraum 1985 bis 1999 ein Plus von 50 Prozent. Wer im frühen Kindesalter schon Übergewicht hat, wird dieses auch sehr wahrscheinlich im späteren Leben behalten. Fast 90 Prozent der Kinder, die im Alter zwischen zwei und sechs Jahren übergewichtig waren, waren es auch als Jugendliche, stellten Forscher der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Leipzig fest.

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Epigenetik - Wir sind mehr als die Summe unserer Gene

Die Epigenetik (altgr. epi 'dazu' und Genetik) ist ein relativ junges Fachgebiet der Biologie. In dessen Mittelpunkt stehen Änderungen von Genfunktionen, die nicht auf Mutation oder Rekombination beruhen und trotzdem vererbt werden können. Epigenetische Veränderungen basieren auf molekularen Mechanismen, die durch Umwelteinflüsse ausgelöst werden und mitbestimmen, unter welchen Umständen ein Gen an- oder abgeschaltet wird.
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Prof. Martin von Bergen, Leiter des UFZ-Departments Molekulare Systembiologie, sagt: "Das Auftreten dieser Zivilisationskrankheiten ist nur bis zu 60 Prozent auf genetische Faktoren zurückzuführen. Für die restlichen 40 Prozent sind Umweltfaktoren verantwortlich, zum Beispiel die Exposition mit Chemikalien oder soziale und andere Lebensstilfaktoren, deren Wirkung bislang völlig unzureichend untersucht ist." So können zum Beispiel epigenetische Mechanismen zu Fehlregulationen wichtiger Signalwege führen und damit zur Entstehung von Krankheiten beitragen. Diese Treiber gilt es zu identifizieren, zumal sie schon während der vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Entwicklungsphase wirken. "Das Immunsystem wird bis zum dritten Lebensjahr geprägt. In dieser Reifungsphase reagiert es besonders sensibel", ergänzt Immunologin Gunda Herberth. Genau deshalb rückt diese Phase nun in den Forschungsfokus der umweltbeeinflussten Krankheiten wie Allergien und Übergewicht.

Hormonell wirksame Substanzen

Es gibt circa 800 Industriechemikalien, die über die Interaktion mit spezifischen Rezeptoren das menschliche Hormonsystem beeinflussen. Weil im natürlichen Hormonsystem geringe Mengen von Hormonen zu weitreichenden Änderungen verstärkt werden, können auch niedrige Dosen von Chemikalien mit hormonähnlicher Struktur deutliche Effekte verursachen. Zu diesen Industriechemikalien zählt die weit verbreitete Stoffgruppe der Phthalate. Rund eine Million Tonnen davon produziert die Kunststoffindustrie pro Jahr in Europa, 90 Prozent davon werden als Weichmacher in PVC eingesetzt. Da sie chemisch nicht fest gebunden sind, können sie durch Auswaschung, Ausgasung oder Abrieb in die Umwelt gelangen. Durch ihre Verwendung in vielen Alltagsprodukten wie Bodenbelägen, Verpackungen oder Spielzeug sind die meisten Menschen einer ständigen Belastung mit Phthalaten ausgesetzt.

Das spiegelt sich auch in den Untersuchungsergebnissen der LiNA-Studie wider, denn im Urin aller Schwangeren fanden sich Stoffwechselprodukte der Phthalate. Außerdem konnten die Forscher nachweisen, dass hohe Konzentrationen eines der Abbauprodukte, nämlich Butylbenzylphthalat (BBP), im Urin der Mütter mit dem Auftreten von allergischem Asthma bei deren Nachwuchs zusammenhängen. Im folgenden Schritt ging es den Wissenschaftlern nun darum, diesen Befund experimentell zu bestätigen. Herberths Kollege am UFZ, der Umweltimmunologe Dr. Tobias Polte, nutzte dafür in Kooperation mit der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie am Universitätsklinikum Leipzig murine Krankheitsmodelle.

Dabei wurden die Mäuse Phthalaten ausgesetzt, die zu vergleichbaren Urin-Konzentrationen des BBP-Metaboliten führten, wie sie auch bei Müttern der LiNA-Kohorte beobachtet wurden. Auch die Maus-Nachkommen zeigten eine erhöhte Neigung zu allergischem Asthma. Und nicht nur das: Sogar die Enkelgeneration war davon betroffen. "Der Zeitpunkt entscheidet: Ist der Organismus während der frühen Entwicklungsphase durch Phthalate belastet, kann das Auswirkungen auf das Krankheitsrisiko bis in die übernächste Generation haben", erklärt Polte. Im dritten Schritt wollten die Forscher herausfinden, was konkret das Asthma auslöst. Dabei setzte Tobias Polte auf sogenannte ex vivo-Experimente, also Versuche außerhalb von Organismen, bei denen lebendes biologisches Material wie Zellen oder Gewebe über eine begrenzte Zeit kultiviert wird. Im konkreten Fall wurden aus der Milz der Tierversuchsmäuse Immunzellen isoliert und diese in Zellkulturen stimuliert. Ziel war es zu untersuchen, ob sich sogenannte T-Helfer-2-Zellen, die essenziell sind für das allergische Asthma, von Nachkommen belasteter Mütter auf eine Stimulation hin anders verhalten als die T-Zellen von Nachkommen unbelasteter Mütter. "Wir konnten im Zellversuch zeigen, dass sich aus Immunzellen von Nachkommen belasteter Muttermäuse verstärkt T-Helfer-2-Zellen bilden, was bei Nachkommen unbelasteter Tiere deutlich weniger der Fall ist", erklärt Polte.

Darüber hinaus gelang es bei Mäusen nachzuweisen, dass BBP-Metabolite zu einer Anlagerung von Methylgruppen an die DNA führten. Damit wird die Herstellung eines wichtigen Proteins verhindert, das die Entwicklung von Allergien unterbindet.

Mit diesem Wissen konnten die Forscher nun gezielt bei den LiNA-Kindern mit allergischem Asthma nach dem entsprechenden Gen suchen. Ergebnis: Das Repressor-Gen wird auch beim Menschen durch Methylgruppen blockiert und kann nicht abgelesen werden. Mit diesen Ergebnissen der LiNA-Studie schließt sich der Kreis. "Unser translationaler Studienansatz - vom Menschen über das Mausmodell und die Zellkultur wieder zurück zum Menschen - zeigt, dass offensichtlich epigenetische Veränderungen dafür verantwortlich sind, dass Kinder von Müttern mit starker Phthalat-Belastung während Schwangerschaft und Stillzeit ein erhöhtes Risiko haben, ein allergisches Asthma zu entwickeln", sagt Polte. Ziel aktueller Forschungsarbeiten sei es, zu untersuchen, ob in diesem sensiblen Zeitfenster auch andere hormonell wirksame Substanzen, wie zum Beispiel Parabene, einen Risikofaktor für die Krankheitsentstehung bei Kindern darstellen können.

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Analysemethoden von Parabenen

Prof. Thorsten Reemtsma, am UFZ Experte für organische Analytik, entwickelte mit seinem Team spezielle Analysemethoden, um in den Urinproben von Schwangeren verschiedene Parabene nachzuweisen. Parabene sind in vielen Kosmetikprodukten als Konservierungsmittel enthalten und stehen ebenso im Verdacht, Einfluss auf die Gewichtsentwicklung der Kinder zu haben. Diese Methoden sind notwendig, weil im Unterschied zu Umweltproben bei Humanproben die Probenmengen geringer sind und sehr viele Proben analysiert werden müssen, um zu signifikanten Ergebnissen zu kommen.
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Phthalate stehen zudem schon länger im Verdacht, beim Menschen die Entstehung und den Verlauf der Entwicklung von Übergewicht zu beeinflussen, doch die molekularen Schalter für die Regulation des veränderten Stoffwechsels waren lange Zeit unbekannt. Deswegen haben UFZ-Forscher aus der Gruppe von Martin von Bergen gemeinsam mit Kollegen des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) Adipositas-Erkrankungen der Universität Leipzig um Prof. Matthias Blüher diese Aspekte in Mäusen näher untersucht. Die Tiere erhielten Di-(2-Ethylhexyl)-Phthalat (DEHP) mit ihrem Trinkwasser. DEHP ist neben BBP ein weiterer Vertreter aus der Stoffklasse der Phthalate. Bereits niedrige Phthalatkonzentrationen führten bei den Weibchen zu einer deutlichen Gewichtszunahme, die begleitet war von der Umstellung des Fettstoffwechsels in den Mäusen. Konkret stellten die Forscher fest, dass sich der Anteil ungesättigter Fettsäuren im Blut bei Mäusen unter Phthalat-Einwirkung verändert. Diese Änderungen werden im Fettgewebe durch molekulare Schalter reguliert, deren Aktivität durch Phthalate beeinflusst wird. In weiterführenden Arbeiten am UFZ wurde die Interaktion von verschiedenen Phthalaten getestet und festgestellt, dass vor allem DEHP-Abbauprodukte die Regulatoren des Stoffwechsels steuern. "Einige Stoffwechselprodukte, die vom Fettgewebe gebildet werden, sind unter anderem auch als Botenstoffe aktiv und steuern Funktionen in anderen Organen", erläutert von Bergen. Gemeinsam mit seinen Kollegen der Universität und des Universitätsklinikums Leipzig wird von Bergen weiter erforschen, wie sich die unterschiedlichen Effekte von Phthalaten auf den Stoffwechsel untereinander beeinflussen und welche Prozesse letztlich konkret zu einer Gewichtszunahme führen. Ihre Wirkung auf die Entwicklung frühkindlicher Erkrankungen untersucht er darüber hinaus gemeinsam mit Umweltimmunologen des UFZ im Rahmen der Mutter-Kind-Studie LiNA. "Unser Ziel ist, solide Grundlagenforschung zu betreiben, damit unsere Ergebnisse den für die Risikobewertung von Chemikalien zuständigen Behörden auf deutscher und europäischer Ebene helfen können, ihre Bewertungen anzupassen", so von Bergen.

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Mikrobiom und Gesundheit

Der UFZ-Biologe Dr. Nico Jehmlich fokussiert die Forschung seines Teams vor allem auf die Analyse von mikrobiellen Gemeinschaften im Darm des Menschen und beleuchtet in Kooperation mit den Umweltimmunologen ihre Rolle bei der Entstehung von Allergien und Adipositas. Das Interesse gilt insbesondere der Frage, wie sich eine veränderte Ernährung oder Schadstoffe auf die funktionale Wechselwirkung zwischen der Mikrobiota und dem Wirt auswirken. Die Wissenschaftler betrachten hierzu nicht nur die taxonomische Zusammensetzung, sondern stellen insbesondere die funktionellen Änderungen im Stoffwechsel sowie die Auswirkungen chronisch entzündlicher Darmerkrankungen auf das Immunsystem in den Fokus.
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Mobile Sensorik zur Erfassung individueller Belastung

Phthalate und Parabene sind nur zwei Gruppen chemischer Substanzen unter vielen Umweltfaktoren, denen der Mensch ausgesetzt ist. Um die Exposition, die Studienprobanden in den Innenräumen belasten könnte, zu messen, kommen Passivsammler zum Einsatz. Mit denen lässt sich eine Vielzahl von flüchtigen organischen Verbindungen erfassen, die beispielsweise bei Renovierungsaktivitäten, aus Fußbodenbelägen sowie aus Materialien für Haus- und Möbelbau ausdünsten können. Im Außenbereich sind es eher stationäre Messstationen, um etwa an hochfrequentierten Straßen in Städten Stickoxide oder Feinstaub des Fahrzeugverkehrs zu messen. Allerdings sind diese Messmethoden relativ unspezifisch. Sie sagen kaum etwas darüber aus, welche Schadstoffe in welchen Konzentrationen direkt bei Menschen ankommen, die in einer Stadt zu Fuß oder mit dem Rad zur Arbeit, zum Einkaufen oder ins Kino unterwegs sind.

Um mehr über diese individuelle Belastung herauszufinden, rücken verstärkt mobile Sensorsysteme in das Interesse der UFZ-Forscherinnen und -Forscher. Diese entwickelt zum Beispiel Dr. Jan Bumberger in einem Projekt mit der Medizinerin Prof. Antje Körner von der Leipziger Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin. Um die Geräte zu testen, startet in diesem Jahr eine erste Versuchsreihe mit zehn Erwachsenen. Sie sollen mit Sensoren ausgestattet werden, die neben GPS-Daten umweltrelevante Daten wie Feinstaub und Stickoxide sowie biophysikalische Parameter wie die Herzfrequenz oder Hauttemperatur erfassen - ein Ansatz, der sich künftig auch mit Kindern und Jugendlichen umsetzen lassen könnte. "Das generelle langfristige Ziel ist, mobile Daten mit stationären und flächenhaften Datenströmen zu managen und mit geeigneten Verfahren zu verknüpfen", sagt Bumberger. "Daraus lassen sich Indizes ableiten, mit denen wir den Einfluss der Umgebung auf die Gesundheit der Menschen beschreiben können."

Der Datenwissenschaftler nutzt bei seinem Vorhaben auch Ergebnisse einer Pilotstudie, in der es vornehmlich um die individuelle Exposition durch urbane Luftschadstoffe, Lärm, Stadtklimafaktoren und umweltsoziologische Fragen geht. Ein Forscherteam um Prof. Uwe Schlink und Maximilian Ueberham hat dafür 66 Radfahrerinnen und Radfahrer in Leipzig mit tragbaren Sensoren, sogenannten 'Wearables', ausgestattet. Zuvor wurde dafür eine Smartphone-App entwickelt, die den Datenstrom steuert und alle Sensoren hinsichtlich ihrer Messgenauigkeit evaluiert. Die Pilotstudie zeigte bisher: Die Radler waren unterschiedlich stark durch Feinstaubpartikel, Hitze und Lärm belastet, weil die Fahrstrecken deutlich differierten. Noch interessanter aus soziologischer Sicht war aber, dass unter den Radlern die Wahrnehmung zwischen subjektiver und objektiver Belastung weit auseinanderging. 80 Prozent der Radfahrer unterschätzte die eigene Beeinträchtigung durch Feinstaubpartikel und Lärm; sie empfanden es also subjektiv nicht unbedingt als Belastung, obwohl Messungen das Gegenteil nahelegten. Ergebnisse wie diese verdeutlichen, wie wichtig es in der Diskussion um die Einflussfaktoren der Umwelt auf die Gesundheit ist, mehr über den Faktor Mensch zu erfahren. "Es reicht eben nicht aus, nur naturwissenschaftliche Messungen vorzunehmen und zu quantitativen Ergebnissen zu kommen. Wir müssen auch verstehen lernen, welche sozialen Einflussfaktoren auf das Gesundheitsverhalten der Menschen und insbesondere der Kinder wirken", betont Prof. Sigrun Kabisch, Leiterin des Departments Stadt- und Umweltsoziologie am UFZ. Genau das tut Doktorandin Juliane Schicketanz. Sie ist dabei, sozialräumliche Faktoren und das Risiko von Übergewicht für Kinder und Jugendliche in Leipzig näher zu beleuchten und nutzt dafür Informationen der LiNA-Studie, etwa zur Gewichtsentwicklung und zum aktiven Schulweg der Kinder. Ergänzend wird sie qualitative Erhebungen unter Grundschülern und deren Eltern durchführen. "Dass der sozioökonomische Status bezogen auf Bildung, Beruf und Einkommen der Eltern einen Einfluss auf das Körpergewicht hat, ist mittlerweile gut belegt", sagt sie. Allerdings fehlen tiefergehende Erkenntnisse darüber, wie etwa der Freundeskreis im Wohnumfeld oder das Sicherheitsempfinden entlang des Schulwegs die Entscheidung beeinflussen, wie die Kinder in die Schule kommen. Bewegungsfördernde Faktoren von Kindern zu analysieren, hilft Einflüsse auf die Kindergesundheit besser zu verstehen.

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Neues Verfahren für die Risikobewertung von Schadstoffen

Dr. Annika Jahnke hat vom Europäischen Forschungsrat (ERC) einen der renommierten Starting Grants eingeworben, um am UFZ ein neues Verfahren für die Risikobewertung von Umweltschadstoffen zu entwickeln. Es soll die Beurteilung der Exposition und der Wirkung einer breiten Palette von Chemikalien in einem einzigen Verfahren zusammenführen und Informationen, die für Ökosysteme und die menschliche Gesundheit relevant sind, bereitstellen. Innovativer Kern sind spezielle Probenehmer - sogenannte Chemometer -, mit deren Hilfe komplexe Chemikalienmischungen in verschiedensten Umweltmedien gesammelt und direkt ins Labor überführt werden können. Sie funktionieren analog zu Thermometern, generieren jedoch anstelle eines Maßes für die Temperatur ein Maß für die chemische Aktivität. Diese chemische Aktivität ermöglicht Rückschlüsse auf Verteilungsprozesse zwischen Umweltmedien wie Gewässern, Sedimenten und Lebewesen inklusive des Menschen.
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Langjährige Partnerschaft mit der Kinderklinik

Bei der Vielzahl und Komplexität der zu beantwortenden Fragen zur Kindergesundheit wird offensichtlich: Strategische Partnerschaften, die die Kompetenzen mehrerer exzellenter Partner vereinen und ihre Stärken bündeln, sind gefragt. In Leipzig ist man dabei, diese zu etablieren. Ende 2017 unterzeichneten das UFZ, die Medizinische Fakultät der Universität Leipzig sowie das Universitätsklinikum Leipzig mit der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin ein Memorandum of Understanding - mit der Absicht, gemeinsam ein "Kompetenzzentrum für Kinder-Umwelt-Gesundheit" zu gründen. "Eine intensive Zusammenarbeit der unterschiedlichen Fachgebiete ist dringend geboten, um die komplexen Einflussfaktoren auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern erforschen zu können", erklärte Sachsens Wissenschaftsministerin Dr. Eva-Maria Stange aus diesem Anlass.

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Weitere Herausforderungen für die Forschung

Interdisziplinäre Forschung - Annäherung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Erhebungsmethoden für ein Gesamtbild aus Sozial-, Gesundheits- und Umweltdaten.

Einsatz neuer Medien - Individuelle und alltagsnahe Erfassung von Daten durch die Nutzung von Smartphone und Co. in den Themengebieten Gesundheits- und Sozialverhalten.

Datenmanagement - Anpassung der Dateninfrastruktur, um leicht zugängliche, nachhaltige und vielfältig nutzbare Forschungsdaten zu generieren.

Citizen Science - Aktive Beteiligung von Freiwilligen an wissenschaftlichen Prozessen, zum Beispiel bei der Erhebung von Gesundheitsdaten oder Umwelt- und sozialen Faktoren.

Längsschnittstudien - Datenerhebung in Mutter-/Kind-Studien schon in der Schwangerschaft sowie Aufbau von Kohorten, in die kontinuierlich neue Probanden integriert werden.
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Das UFZ bringt nicht nur seine exzellente chemische und biochemische Analytik und sozialwissenschaftliche Kompetenz in die angestrebte Partnerschaft ein, sondern auch die Mutter-Kind-Studie LiNA. Die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Leipzig besticht als wichtigster Partner vor allem durch ihre langjährige Erfahrung im Bereich der pädiatrisch-klinischen Forschung und der Expertise einer etablierten Kinderkohorte im Rahmen der LIFE Child-Studie. Dieser Fundus sei ein einzigartiger Schatz, der für die Forschung zur Kindergesundheit und damit für die Zukunft unserer Gesellschaft gehoben werden sollte, betonte Prof. Wieland Kiess bei der Unterzeichnung des Memorandums. Er ist Leiter von Life Child und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Leipzig.

Bis dahin werden gemeinsame Publikationen und weitere neue Projekte die Zusammenarbeit vertiefen - zum Beispiel eine Messstation, die UFZ-Forscher Jan Bumberger gemeinsam mit der Uniklinik auf dem Gelände der geplanten Forschungskindertagesstätte der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig plant. Die Kita wird im Herbst 2019 als wissenschaftliche Einrichtung eröffnet und soll Längsschnittstudien zur kognitiven und sozialen Entwickung der Kinder ermöglichen. In deren Außenbereich sollen noch ab diesem Jahr Daten zur Gesundheitsgefährdung wie etwa Feinstaub, Stickstoffdioxid, Ozon, UV-Strahlung oder Lärm erhoben werden. Für Martin von Bergen ist dieses Projekt prototypisch und ein echter Glücksfall: "Das ist genau die Art der Vernetzung von räumlich aufgelösten Expositionsdaten mit Gesundheitsdaten, von der wir in Zukunft noch mehr brauchen."

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Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

UMWELTEINFLÜSSE

Besonders in diesen SENSIBLEN PHASEN der vorgeburtlichen Entwicklung und Kindheit werden die Grundlagen für spätere ERKRANKUNGEN wie Adipositas und Allergien gelegt.

Allergien - Bereits vor der Geburt können Umweltfaktoren das Risiko einer späteren Ausprägung erhöhen.

Immunsystem - Die Reifung des Immunsystems vervollständigt sich im dritten Lebensjahr. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Immunsystem besonders empfänglich für Umweltfaktoren.

Adipositas - Kinder, die im Alter von 0,5 bis sechs Jahren übergewichtig sind, neigen auch im Erwachsenenalter dazu, übergewichtig zu sein.

Mikrobiom des Darms - Die Entwicklung der mikrobiellen Gemeinschaft im Darm bis zu einem Alter von etwa zwei Jahren hat entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit im Erwachsenenalter.

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Allergien treten schon von Geburt an auf

Lebensmittelallergien sowie Allergien, die durch Innen- oder Außenraumallergene ausgelöst werden, treten schon bald nach Geburt auf. Allergische Reaktionen besonders auf Milch und Ei gibt es schon innerhalb des 1. Lebensjahres. Birken- und Gräser- sowie Katzen- und Hausstauballergien treten verstärkt ab dem 5. Lebensjahr auf.

Lebensmittelallergene
Allergene Innenbereich
Allergene Außenbereich

Quelle Wahn, U.: What drives the allergic march? Allergy, DOI: 10.1034/j.1398-9995.2000.00111.x

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Wie wirken sich soziale Faktoren auf die Gesundheit aus? Untersuchungen am Beispiel der Stadt Leipzig

Die Höhe der Nettokaltmieten und der Anteil der Grünflächen unterscheiden sich in den Bezirken der Stadt Leipzig sehr deutlich. Dies könnte sich möglicherweise auf die Gesundheit auswirken, wie die Verteilung adipöser und übergewichtiger Schulanfängerinnen und Schulanfänger zeigt. Ziel der Forschung ist, zu identifizieren, welche Faktoren schützend oder gefährdend auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wirken und welche Wechselwirkungen bestehen können. Dazu finden am UFZ Untersuchungen in Stadteilen statt, die sich durch stark divergierende Merkmale bestimmter sozialer Faktoren auszeichnen.

- Anteil adipöser und übergewichtiger Schulanfänger
- Mietpreise für Wohnungen nach Ortsteilen
- Vegetation

Datenquellen: Stadt Leipzig (l.o., Mietspiegel Leipzig / wohnungsboerse.net (r.o., Stadt Leipzig - Stand 2016 (l.u.; GIS und Kartographie: UFZ

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- Dass empfundener Stress der Mutter im ersten Lebensjahr des Kindes ein Risikofaktor für Übergewichtsentwicklung im Kleinkindalter ist, zeigt eine aktuelle Studie von Immunologen des UFZ und des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung. Daten der Mutter-Kind-Studie LiNA machen deutlich, dass insbesondere die Töchter gestresster Mütter ein größeres Risiko haben, übergewichtig zu werden. Söhne scheinen dagegen das Stressempfinden der Mütter besser kompensieren oder weniger intensiv wahrnehmen zu können. Das Forscherteam, darunter auch die UFZ-Ernährungswissenschaftlerin Dr. Kristin Junge, hatte für die Untersuchung den Body-Mass-Index der Kinder berechnet und den Stress der Mütter über einen Fragebogen ermittelt (z.B. Sorgen, Ängste, Anspannung, Zufriedenheit).

- In der Langzeitstudie LiNA werden sensible vorgeburtliche und kindliche Entwicklungsphasen umweltmedizinisch untersucht. Berücksichtigt werden dabei vor allem Lebensstil, Umweltbelastungen und das spätere Auftreten von Allergien, Atemwegserkrankungen und Übergewicht. Mehr als 600 Mutter-Kind-Paare nehmen daran seit 2006 teil.

- UFZ-Forscher setzen in einer Pilotstudie tragbare Messgeräte und Smartphone-basierte Sensoren ein, um Feinstaubpartikel, Lärm und Hitze zu messen. Sie wollen so mehr über individuelle Umweltbelastungen erfahren.

- Wollen gemeinsam mehr für die Gesundheit von Kindern tun: Prof. Wolfgang E. Fleig (ehemaliger Vorstand Uniklinikum Leipzig), Prof. Michael Schaefer (Unimedizin Leipzig), Prof. Wieland Kiess (Uniklinikum Leipzig/Leiter LIFE Child), Dr. Eva-Maria Stange (Wissenschaftsministerin Sachsen), Prof. Beate Schücking (Rektorin Universität Leipzig), Prof. Georg Teutsch (Wissenschaftlicher Geschäftsführer UFZ), Prof. Martin von Bergen (UFZ)

Prof. Dr. Martin von Bergen
Leiter des Departments Molekulare Systembiologie

PD Dr. Tobias Polte
Leiter (komm.) des Departments Umweltimmunologie

Dr. Gunda Herberth
LiNA-Studienleiterin

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Quelle:
Umwelt Perspektiven / Der UFZ-Newsletter - Mai 2019, Seite 4 - 13
Herausgeber:
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
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Tel.: 0341/235-1269, Fax: 0341/235-450819
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Internet: www.ufz.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2019

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