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DEBATTE/015: Revolutionär mit Achillesferse. Michael Braungarts Thesen in der Kritik (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 155 - April/Mai 2010
Die Berliner Umweltzeitung

Revolutionär mit Achillesferse

Michael Braungarts Thesen begeistern viele - doch bei genauem Hinsehen werden Zweifel wach

Von Ernst Schmitter


Basel 1986: Der promovierte Chemiker und Greenpeace-Aktivist Michael Braungart hatte nach einer zweitägigen Schornsteinbesetzung bei Ciba-Geigy (heute ein Teil von Novartis) wieder festen Boden unter den Füßen. Nicht der Sicherheitsdienst der Firma oder die Polizei empfing ihn, sondern der Werksleiter, der ihn und seine Gruppe zum Frühstück einlud. Aus diesem ersten Kontakt mit dem Gegner ergab sich eine enge Zusammenarbeit des Umweltaktivisten mit der Industrie. 1987 gründete Braungart in Hamburg das Forschungs- und Beratungsinstitut EPEA, dessen Dienstleistungen heute von vielen Firmen und Behörden in Anspruch genommen werden. Braungarts heutige Arbeitsweise war im Kern schon in der Basler Episode angelegt: Er schockiert, geht auf Konfrontationskurs - und zeigt der Wirtschaft, welchen Nutzen sie aus seinen revolutionären Ideen ziehen kann.

Unser Umgang mit der Umwelt ist nach Braungarts Meinung grundsätzlich falsch: Wir versuchen, die Schäden, die wir der Natur zufügen, möglichst klein zu halten, statt die Natur als unseren Partner anzusehen, dem wir Gutes tun können, wenn wir es nur richtig anstellen. Könnten wir es schaffen, uns mit unserem Wirtschaften in die Kreisläufe der Natur einzufügen, würden Umweltschäden der Geschichte angehören. Zumindest gilt das für alle Verbrauchsgüter. Kompostierbare Bezugsstoffe für Flugzeugsitze sind Braungarts Vorzeigebeispiel für solche naturfreundlichen Verbrauchsgüter.

Wo es aber nicht um Verbrauchs-, sondern um Gebrauchsgüter geht, müssen wir geschlossene technische Kreisläufe schaffen, in welchen die verwendeten Materialien zu "technischen Nährstoffen" werden. Komplexe technische Produkte, die oft giftige Bestandteile enthalten, müssen nicht auf der Müllhalde landen. Sie können die Baustoffe für neue Produkte liefern. Braungarts bekanntestes Beispiel dafür ist ein Bürostuhl. Er besteht aus Bestandteilen, die später als Komponenten für neue Bürostühle oder als Baumaterialien für andere Geräte dienen können. Braungart nennt diesen Weg der Baustoffe "Cradle to Cradle" (C2C) - von der Wiege zur Wiege, im Unterschied zum Weg "von der Wiege zur Bahre", der unsere heutigen Materialflüsse charakterisiert.

Diesen Überlegungen kann man ohne Vorbehalt zustimmen. Braungart wirbt für eine ökologisch verantwortbare Produktionsweise und arbeitet an deren Verwirklichung. Schön, dass endlich einer das tut, was grüne Bewegungen seit Jahrzehnten fordern! Kein Zweifel, dass Braungarts Hauptmotivation die Sorge um unsere Zukunft ist. Er weist immer wieder darauf hin, dass uns für einen Richtungswechsel nur wenige Jahre bleiben. Wer wollte dem widersprechen!


Der blinde Fleck

Eine Enttäuschung erlebt man allerdings, wenn man Braungarts Texte und Interviews genau liest und sich seine Vorträge auf dem Internet ansieht. Da zeigt sich, dass der Umweltrevolutionär vor allem ein neoliberaler Entertainer ist. Der Weg der heutigen Grünen ist ihm so zuwider, dass er sich unermüdlich lustig macht über Energiesparmaßnahmen, über Umweltbehörden, über sämtliche Bemühungen, Umwelt- und Klimaschäden möglichst gering zu halten. Er attestiert allen, die das versuchen, protestantisches Schuldbewusstsein und Lustfeindlichkeit. Er überrascht, irritiert, provoziert und stellt Behauptungen auf, die so pauschal sind, dass sie sich weder bestätigen noch widerlegen lassen. Ist etwa der folgende Satz wahr oder falsch? "Wir können verschwenderisch sein, wenn wir von Anfang an nur ungiftige Substanzen verwenden." Oder was soll man halten von Braungarts stets wiederholter Behauptung, die Deutschen romantisierten die Natur und seien deswegen in Umweltfragen auf dem falschen Weg?

In Braungarts Texten und Vorträgen fehlt der Konjunktiv, die grammatikalische Form der Unsicherheit und des Zweifels. Umso stärker sind die Zweifel, die einen beim Zuhören oder Lesen befallen: Warum stellt er unsere sämtlichen Bemühungen in Bezug auf die Umwelt in Frage, mit keinem Wort aber die wichtigste Ursache unserer Umweltprobleme, nämlich unsere zerstörerische Art des Wirtschaftens? Das Rätsel findet seine Auflösung im Wort von Norbert Bolz, wonach der Glaube, der uns hat, der blinde Fleck unseres Denkens ist. Braungarts blinder Fleck ist sein ungebrochener Glaube an das Wirtschaftswachstum. Dabei ist völlig ungewiss, ob sich C2C weltweit so kurzfristig durchsetzen ließe, dass damit trotz Wirtschaftswachstum die drohende Umwelt- und Klimakatastrophe abgewendet werden könnte. Das ist Braungarts Achillesferse. So äußert er sich verständlicherweise nur ausweichend zum Klimawandel. Die Begeisterung, die er gerade deswegen bei vielen Unternehmern und Medienschaffenden auslöst, zeigt nur, wie tief die Krise ist, in der wir stecken.


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Wo Argumente fehlen, hilft der Charme

Michael Braungart ist immer in Eile. Die Dringlichkeit seines Anliegens lässt ihm keine andere Wahl. Bei aller Skepsis gegenüber seinen Ideen kann man das verstehen. Die Skepsis wächst indes, wenn man von ihm nicht bloß Unterhaltung, sondern Aufklärung und Information erwartet. Je genauer man ihn zu verstehen sucht, desto bestimmter wird der Eindruck, seine Öffentlichkeitsarbeit sei eigentlich nur eine groß angelegte Werbekampagne und Diskussionen seien unerwünscht. Wie wäre sonst zu erklären, dass er dauernd zwei Grundregeln des Diskutierens verletzt?


Klarheit der Begriffe

Erste Grundregel: Man soll sich in einer Diskussion um Klarheit der Begriffe bemühen. Braungarts Umgang mit dieser Regel ist hemdsärmelig. Beispielsweise gebraucht er den Begriff der "intelligenten Verschwendung" und stellt uns den Kirschbaum im Frühling als Vorbild hin, der sich in seiner verschwenderischen Blütenpracht weder einschränke noch Verzicht übe. Einspruch! Verschwendung in der Natur und Verschwendung durch den Menschen haben fast nur den Namen gemeinsam. Der Kirschbaum, wie die meisten Pflanzen, trägt Blüten und Früchte in verschwenderischer Fülle, weil dies dem Überleben der Art dient. Verschwendung beim Menschen ist im Kern ein ökonomischer Begriff und benennt im Wesentlichen die unsachgemäße Nutzung von Ressourcen, also gerade etwas, was unser Überleben gefährdet. Nehmen wir an, "Cradle to Cradle" sei mit den komplexen Vorgängen in der Natur so leicht zu kombinieren, wie Braungart es darstellt: Solange das Prinzip nicht weltweit Standard ist, bleibt dennoch die Aufforderung verwirrend und irreführend, wir sollten es der verschwenderischen Natur gleichtun; verwirrend, weil natürliche und menschliche Verschwendung nicht das Gleiche sind; irreführend, weil so in uns die Vorstellung geweckt wird, C2C sei nicht eine Utopie, sondern fast schon Wirklichkeit. "Intelligente Verschwendung" ist ein Beispiel für ein Oxymoron, eine Stilfigur, die unvereinbar e Gegensätze als versöhnt erscheinen lässt. Man bedient sich ihrer mit Vorteil, wenn man seine Interessen nicht offenlegen will.

Braungart treibt sein Verwirrspiel sehr weit. Sein zweites Beispiel für intelligente Verschwendung sind die Ameisen, deren Kalorienverbrauch Braungart zufolge demjenigen von 30 Milliarden Menschen entspricht. Er begründet etwa seine Ablehnung des Vegetarismus mit dem Vorbild der Ameisen, die 80-prozentige Fleischfresser seien. Dabei verliert er kein Wort über die Zusammenhänge zwischen unserem Fleischkonsum und dem Klimawandel, wie sie zum Beispiel in Dokumenten der Welternährungsorganisation FAO aufgezeigt werden. Wenn wir Fleisch "nach Ameisenart" konsumieren wollten, würde das eine kurzfristige Umstellung der Fleischproduktion (Tierfarmen, Futtermittelproduktion, Schlachthäuser, Kühlketten, Transporte, Zwischenhandel) auf C2C bedingen - ein unlösbares Problem! Eine Einschränkung unseres Fleischkonsums wäre hingegen jederzeit leicht möglich. Sie würde die riesigen Infrastrukturen für Fleischproduktion und -handel größtenteils überflüssig machen. Für Braungart sind aber Einschränkung und Verzicht nicht Zeichen ökologischer Vernunft. Er deutet sie als Zeichen unverarbeiteter Schuldgefühle gegenüber der Natur und lehnt sie deshalb radikal ab.

Mit einem Begriff geht Braungart geradezu fahrlässig um. Es ist der Begriff des ökologischen Fußabdrucks. Zur Erinnerung: Als ökologischen Fußabdruck einer Person bezeichnet man die Fläche Produktivland, die nötig ist, um deren Lebensstil und Lebensstandard dauerhaft zu gewährleisten. Je nach Lebensstil und Lebensstandard ist unser ökologischer Fußabdruck klein oder groß. Wenn der Fußabdruck aller Erdbewohner zusammengenommen größer ist als die verfügbare Gesamtfläche an Produktivland, lebt das System Erde über seine Verhältnisse und gefährdet seine Zukunft. Das ist gegenwärtig der Fall. Wir haben also ein Interesse daran, unseren Fußabdruck so rasch wie möglich zu verringern. Das könnte zwar durchaus in Kombination mit C2C geschehen. Aber Braungart lehnt herkömmliches Umweltdenken so heftig ab, dass er auch für den ökologischen Fußabdruck nur Verachtung übrig hat. Wenn er den Begriff überhaupt verwendet, verdreht er ihn bis zur Unkenntlichkeit und behauptet zum Beispiel, ein großer ökologischer Fußabdruck könne gut sein, wenn es sich um ein Feuchtgebiet handle. Was er damit meint, erklärt er nicht. Das muss er auch nicht. Ist es Verblüffung oder Bewunderung? Tatsache ist jedenfalls, dass seine Zuhörer und Interviewer ihn kaum je um Verständnishilfe bitten. Sein unwidersprochenes Daherreden nimmt zuweilen groteske Züge an, wie etwa eine Videoaufnahme seines Vortrags an der Utopia-Konferenz 2008 in Berlin zeigt.[1]


Ernstnehmen von Kritik

Zweite Grundregel: Man soll seinen Gesprächspartner ernst nehmen und auf seine Einwände eingehen. Auch diese Regel kümmert Braungart wenig. Ein Journalist der FAZ hatte im Januar 2009 den Mut, ihn zu fragen, ob ihm Schuldgefühle auch in Bezug auf den Klimawandel unberechtigt schienen. Nun ist der Klimawandel, wie erwähnt, nicht Braungarts Lieblingsthema. Die von ihm gepriesene Verschwendung verschärft ja das Problem, da er uns zur Verschwendung nicht erst nach der Verwirklichung seiner Vision ermuntert. Er möchte nicht wahrhaben, dass das C2C-Prinzip sehr weit von seiner weltweiten Durchsetzung entfernt ist und dass folglich Verschwendung bis auf Weiteres umwelt- und klimaschädigend ist. Dem FAZ-Journalisten hielt er dann einen kleinen Vortrag über die Chemikalien, die man in der Muttermilch findet. Niemand hatte danach gefragt. Aber der Zeitungsmann notierte fleißig und hakte nicht nach.

Da Braungart selten vor einer kritischen Zuhörerschaft spricht, kann er sich solche Methoden leisten. Seine Auftritte sind zumeist Heimspiele vor günstig gestimmtem Publikum. Immer gut angezogen, immer locker, charmant, redegewandt und schlagfertig, spart er nicht mit Witzen. Es sind übrigens seit Jahren die gleichen Witze.

[1] www.youtube.com/watch?v=Oo87MMJc6Fg


Michael Braungart

Geboren 1958 in Schwäbisch Gmünd. Chemiestudium, Promotion 1985. 1985-1987 Leiter des Bereichs Chemie von Greenpeace Deutschland. 1987 gründet Braungart in Hamburg die EPEA Internationale Umweltforschung GmbH. Zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten und Designer William McDonough ist er zudem Gründer der Design- und Entwicklungsfirma McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville (Virginia). 1989 ist er Mitbegründer des Hamburger Umwelt-Instituts (HUI). Michael Braungart ist Professor an verschiedenen Universitäten (Lüneburg, Rotterdam, Charlottesville).

Bücher:
Michael Braungart, William McDonough, Einfach intelligent produzieren. Bvt Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2005
Michael Braungart, William McDonough (Hrsg.), Die nächste industrielle Revolution: Die Cradle to Cradle-Community, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2008


Ein Schlagwort wird zum Bumerang

Ein Lieblingssatz von Michael Braungart ist das Einstein-Zitat, wonach wir Probleme nicht mit der Denkweise lösen können, die zu ihrer Entstehung geführt haben. Mit diesem Schlagwort wird Braungart unfreiwilllig zu seinem eigenen Kritiker. Die Hauptursache unserer Umwelt- und Klimaprobleme liegt nämlich nicht in einem falsch angelegten Umweltmanagement, wie er unablässig behauptet. Sie liegt in unserer Wachstumswirtschaft, die längst ihre ökologisch verantwortbaren Grenzen überschritten hat. Wer so überzeugt wie Braungart am Wachstumsdenken festhält, sollte sich also nicht neuer Denkweisen rühmen.

Braungart kommt das Verdienst zu, unerschrocken für umweltfreundliche Produktionsmethoden zu kämpfen. Leider sieht er nicht - kann oder will er nicht sehen -, dass unserer Gesellschaftskrise nicht einfach mit neuen Produktionsmethoden beizukommen ist. Dafür ist die Krise zu komplex. Lösungsansätze, die mit Begriffen wie "besser", "größer", "schneller" operieren, greifen ohnehin zu kurz und lassen keine neue Denkweise erkennen. Der Kultur- und Wertewandel, den wir nötig haben, um aus dem Schlamassel herauszufinden, kündigt sich hingegen an im rasch wachsenden Zweifel gegenüber dem Wachstumsdenken. Ein solcher Wandel wird vielleicht aus der Erkenntnis heraus möglich, dass "mehr" nicht immer "besser" bedeutet, oder - wie es Ivan Illich formuliert hat - "dass die Ausrichtung der gesamten Ökonomie auf das 'bessere' Leben das gute Leben unmöglich gemacht hat".


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Bürostuhl nach Cradle-to-Cradle-Konzept (Foto: obs/WSA Office Project)
Intelligente Verschwendung (Foto: fabi_k/flickr.com)


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Quelle:
DER RABE RALF - 21. Jahrgang, Nr. 155, April/Mai 2010, Seite 18-19
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010