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SÄUGETIERE/312: Die Haselmaus - Wildtier des Jahres 2017 (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 197 - April/Mai 2017
Die Berliner Umweltzeitung

Scheu und schwanzautonom
Die Haselmaus, Wildtier des Jahres 2017, klettert wie ein Affe und baut Kugelnester

von Jörg Parsiegla


Mit der Wahl der Haselmaus zum Wildtier 2017 haben die Schutzgemeinschaft Deutsches Wild und die Deutsche Wildtier-Stiftung die Naturliebhaber etwas verunsichert. Denn die Haselmaus ist eigentlich keine Maus, sondern ein Bilch. Noch nie gehört? Um die Verwirrung perfekt zu machen: Die namensgebende Nuss ist im Herbst zwar eine wichtige Nahrungsquelle für Haselmäuse, der Kleinnager kommt aber auch in Lebensräumen vor, wo es diesen Großstrauch gar nicht gibt.

Zum Bilch. Offenbar ein Wort, das sich aus der deutschen Sprache bereits verabschiedet hat und bestenfalls Fachleuten ein Begriff ist. Die Bilche teilen ihren Stammbaum bis zur Unterordnung "Hörnchenähnliche" mit den Hörnchen - sind also genetisch eher mit Eichhörnchen und Co. verwandt als mit Mäusen.

Mit der Wahl der Haselmaus zum Wildtier des Jahres möchten die kürenden Organisationen auf den zunehmenden Verlust geeigneter Lebensräume für Muscardinus avellanarius aufmerksam machen. Artenreiche Waldrand- und andere Saumstrukturen, die die Maus zum Überleben dringend braucht, haben in der ertragsorientierten Forst- und Landwirtschaft einen eher geringen Stellenwert und verschwinden zunehmend. In Deutschland ist die Haselmaus besonders in Sachsen-Anhalt bedroht.

Große Knopfaugen, langer Schwanz

Äußere Kennzeichen der Bilche sind sehr große Knopfaugen, kleine runde Ohren und ein auffällig langer Schwanz. Mit 15 bis 40 Gramm Gewicht und nur knapp 15 Zentimetern Länge (davon entfällt fast die Hälfte auf den Schwanz) ist die Haselmaus der kleinste Vertreter der Bilche.

Das Fell des kleinen Säugers ist hell-ockerfarben grundiert mit weißen Partien an Kehle und Bauch. Während die jungen Haselmäuse im ersten Lebensjahr etwas dunkler gefärbt sind, erscheinen die älteren Haselmäuse leuchtend gelb-orange. Auch der Schwanz ist etwas dunkler gefärbt, gelegentlich endet er in einer weißen Spitze. Er ist übrigens, anders als bei Mäusen, dicht behaart und dient bei der Fortbewegung nicht nur als Balancierhilfe. Zum Schutz vor Fressfeinden (Fuchs, Marder, Iltis, nacht- und tagaktive Greifvögel) besitzt die Haselmaus wie alle Bilche die Fähigkeit zur falschen Schwanzautotomie: Wird sie beim Schwanz gepackt, reißt die Schwanzhaut und sie kann fliehen. Wieder in Sicherheit nagt sie den nackten Schwanzteil ab, welcher vertrocknet und abfällt. An der Bruchstelle wachsen schwarze oder weiße Haare nach.

Ein äußerst putziges Bild bietet der Winzling, wenn er sich bei kalten Temperaturen im sogenannten Torpor, also im Energiesparmodus, befindet: Im Nest liegend oder sitzend rollt die Maus dann ihren Schwanz auf der Bauchseite bis über den Kopf hinweg.

Nächtliche Hangelei an dünnen Zweigen

Bevorzugter Lebensraum der Haselmaus sind Mischwälder in Mittel-, Nord- und Osteuropa. Voraussetzung ist ein reicher Bestand an Büschen und Sträuchern, die ein abwechslungsreiches Nahrungsangebot bereithalten. Die Haselmaus lebt etwa an durchsonnten Waldrändern, wo sie ein Revier von rund 300 bis 400 Metern Durchmesser markiert.

Der kleine Nager gilt als extrem scheu. Er ist nachtaktiv und geht erst im Schutz der Dunkelheit auf die Suche nach Früchten, Samen, Knospen, Insekten und auch Vogeleiern.

Dabei ist die Haselmaus ein hervorragender Kletterer, der sich auch auf den dünnsten Zweigen wohl fühlt. Das Balancieren und Hangeln gelingt ihr zum einen durch den Einsatz ihres Schwanzes, zum anderen gestatten ihre Pfoten eine Art Hangeltechnik ähnlich der der Affen. Hierzu verfügen Haselmäuse über eine Fähigkeit, die nur wenige Tiere haben: Durch das Gegenüberstellen einzelner Finger und der Möglichkeit, diese zu krümmen oder abzuspreizen, sind sie in der Lage, fest zuzupacken und Äste oder ähnliches zu umgreifen - obwohl sie keinen Daumen haben. Die Vorderpfoten sind zudem um 30 Grad nach außen gerichtet - das ermöglicht zusätzlich ein sicheres Greifen und Klettern. Den Erdboden meiden sie, da er ihnen vergleichsweise wenig Schutz vor Feinden bietet.

Tagsüber schlafen Haselmäuse in einem etwa faustgroßen, kugelförmigen Nest (auch Kobel genannt), das sie meist aus Grasspreiten, Laubblättern und anderem geeigneten Material zusammenbauen und in Büschen oder Bäumen bis zu drei Meter hoch aufhängen. Als Besonderheit gilt der regelmäßige Bau gleich mehrerer frei stehender Kugelnester in der Nähe von ergiebigen Nahrungsquellen.

Das Haselmaus-Weibchen ist mit einem Jahr geschlechtsreif und wirft in der Folge ein- bis zweimal jährlich zwei bis fünf Junge, die in einem etwas größeren Nest bis zu 40 Tage nach dem Wurf bei der Mutter bleiben. Zum Säugen besitzt das Weibchen vier Paar Zitzen, an denen die Jungen etwa einen Monat lang saugen. Die Tragzeit beträgt etwa 22 bis 24 Tage. Der Kleinsäuger wird in freier Wildbahn drei bis vier Jahre alt.

Phänomen Winterschlaf

Spätestens bei den ersten Anzeichen des Herbstes beginnt die Haselmaus, ihre Kost auf fettreiche Nahrung umzustellen. Dabei bevorzugt sie, wie kann es anders sein, Haselnüsse, deren Schale sie kunstvoll auffräst. Sie braucht das Fett, um sich genügend Speck für den langen Winterschlaf anzufressen - eine typische Eigenschaft der Bilche, die sich bei den größeren Verwandten Siebenschläfer, Gartenschläfer und Baumschläfer folgerichtig im Namen wiederfindet.

Nahezu die Hälfte eines Jahres verbringt die Haselmaus nun in einem frostsicheren Nest in einer Erdhöhle oder einem Baumstumpf. Eingerollt wie eine Kugel und bewegungsunfähig zehrt sie bei stark eingeschränkten Körperfunktionen über Monate von den Fettreserven, die sie sich im Sommer angefressen hat. Herzschlag und Atmung sind extrem verlangsamt - zwischen zwei Atemzügen können bis zu zehn Minuten liegen! Bei Außentemperaturen weit unter null liegt die Körpertemperatur der Haselmaus nur noch knapp über dem Gefrierpunkt. Strenge und lang anhaltende Winter überlebt der Kleinsäuger oft nicht.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es die Haselmaus bis in die englische und russische Literatur geschafft hat (Alice im Wunderland, Das Tierhäuschen). Kulinarische Dekadenz: Im alten Rom wurde der Winzling, gestopft und mit Honigsoße, als Delikatesse gereicht.


Weitere Informationen:
www.kleinsaeuger.at - Bilche

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Quelle:
DER RABE RALF
27. Jahrgang, Nr. 197 - April/Mai 2017, Seite 14
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2017

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