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MASSNAHMEN/109: Die Vielfalt soll wieder aufblühen (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 4/2010

Die Vielfalt soll wieder aufblühen

Von Peter Berthold


Das weltweite Artensterben beschleunigt sich immer mehr. Noch besteht die Chance, es zu stoppen, zumindest in Deutschland. Aber Eile tut not. Ein einfaches Konzept nach dem Vorbild des Biotopverbunds Bodensee zeigt einen Weg aus der Biodiversitätskrise. Bund und Länder müssen nun die politischen Weichen stellen.


In den vergangenen Jahrzehnten ist auf unserer Erde ein galoppierendes Artensterben von wildlebenden Pflanzen und Tieren in Gang gekommen, das es in diesem Ausmaß und mit dieser Schnelligkeit wohl niemals zuvor gegeben hat. Hiobsbotschaften darüber erreichen uns täglich über alle Medien: Heute werden wir aufgefordert, auf Thunfisch und Kabeljau zu verzichten. Morgen wird gefragt, wer unsere Obstbäume bestäuben soll, wenn weltweit die Bienen sterben. Woraus bauen wir zukünftig unsere Möbel, wenn die Klimaerwärmung alle unsere Fichten dahinrafft? Und wo können wir demnächst noch erholsam schnorcheln, wenn sich ganze Korallenriffe in tote Geisterburgen verwandeln?

Dieses Artensterben ist keine Naturkatastrophe, sondern hausgemacht - bewirkt durch eine einzige, ungeheuer dominante Säugetierart: den Menschen. Mehr als zehn Millionen Pflanzen- und Tierarten besiedeln gegenwärtig unseren Planeten. Davon verschwinden zurzeit jährlich Tausende, noch bevor Biologen sie benennen können. Die globalen Ursachen für dieses Massensterben sind unter anderem das Abholzen großer Regenwaldgebiete, die Verschmutzung oder Erwärmung von Meeresbereichen. Nach dem Living Planet Index 2008 des World Wide Fund for Nature (WWF), der auf der Untersuchung von 4000 Populationen 1500 bekannter Arten beruht, nahm die biologische Vielfalt der Erde von 1970 bis 2005 um 27 Prozent ab, besonders im asiatisch-pazifischen Raum.

Die genaueste Auskunft über den weltweiten Artenrückgang geben die Roten Listen der Weltnaturschutzunion (IUCN). Die alarmierende Bilanz der aktuellen Liste aus dem Jahr 2009: 17.291 - mehr als ein Drittel der insgesamt 47.677 untersuchten Arten - sind vom Aussterben bedroht. Bei den Wirbeltieren etwa erwies sich jede achte Vogel-, jede fünfte Säugetier- und jede dritte Amphibienart als gefährdet; 277 der bekannten Arten (ohne Fische) sind in den vergangenen Jahrhunderten bereits verschwunden, aber keine einzige ist neu entstanden.

Bei den Pflanzen sind sogar 70 Prozent gefährdet. Besonders gravierend: Die Anzahl bedrohter Arten hat seit der IUCN-Auflistung aus dem Jahr 2002 um fast 55 Prozent zugenommen. Angesichts dieser "galoppierenden Schwindsucht" prognostizieren Biologen, dass bis 2030 jede fünfte bekannte Art aussterben könnte, bis 2050 sogar jede dritte.

Beim gegenwärtigen Artenrückgang sind zwei Formen zu unterscheiden: das endgültige Aussterben vor allem seltener Arten mit meist kleineren Verbreitungsgebieten und das Zusammenschrumpfen selbst häufiger Arten mit zum Teil riesigen Verbreitungsgebieten. Letzteren sind in erster Linie die Roten Listen gewidmet, die auf bedrohte Arten aufmerksam machen, Gefährdungsursachen benennen und Schutzmaßnahmen bewirken sollen.

Obwohl in Deutschland erst Anfang der 1970er-Jahre entstanden, existiert inzwischen eine Flut von mehr als 350 veröffentlichten Roten Listen, die kaum jemand zu überblicken vermag. Sie geben für Bund und Länder Auskunft über 25.000 Arten aus rund 30 systematischen Gruppen, die von Algen, Pilzen und Flechten bis hin zu Blütenpflanzen und von Schnecken über Spinnen und Insektengruppen bis zu den Wirbeltieren reichen. Mit durchschnittlich 50 Prozent gefährdeter Arten aller Pflanzen- und Tiergruppen liegt Deutschland in Europa an der Spitze. Das zeigt: Artensterben findet nicht nur an fernen, exotischen Orten statt, sondern gerade auch bei uns als einem Land mit langer Naturschutzpraxis.

Dazu noch zwei Beispiele aus dem geografischen Umfeld. Für die besonders gut untersuchten Vögel zeigt "Birdlife International" für 35 Länder Europas: Von mehr als 100 untersuchten Arten haben allein von 1980 bis 2005 nicht weniger als 56 im Bestand ab-, aber nur 29 zugenommen; 27 sind stabil geblieben. Kulturlandarten gingen am stärksten zurück. Die neuen EU-Länder hatten zunächst geringere Verluste, glichen sich aber immer mehr den alten EU-Ländern an.

Eine der ornithologisch am besten untersuchten Gemeinden Deutschlands ist Möggingen am Bodensee, Sitz der Vogelwarte Radolfzell. Dort werden die Vogelbestände seit der Institutsneugründung 1946 auf vier Quadratkilometern lückenlos erfasst, und die Bilanz für reichlich 50 Jahre von 1947 bis 2002 fällt deprimierend aus: Von ehemals 110 Brutvogelarten sind 35 Prozent ganz verschwunden oder nisten nur noch sporadisch, 20 Prozent schrumpfen im Bestand; zehn Prozent nehmen zu oder sind neu hinzugekommen, 35 Prozent dürfen als stabil gelten. Damit ging auch die Anzahl der Individuen stark zurück, von ursprünglich 3300 auf derzeit etwa 2100. Und ebenso nahm die Biomasse ab, von früher 240 Kilogramm auf heute 150 Kilogramm. Ganz ähnliche Szenarien existieren für Gebiete in Bayern, Schleswig-Holstein, England und der Schweiz.

Unter den für unseren Raum pauschal aufgelisteten Arten befinden sich beileibe nicht nur seltene, sondern inzwischen auch häufige Allerweltsarten wie Haus- und Feldsperling, Star oder Feldlerche. Die Bestände der erstgenannten drei "Schädlinge", deren Schlafplätze in Deutschland noch bis in die 1960er-Jahre mit Dynamit in die Luft gesprengt wurden, sind - wie die der Feldlerche - bei uns von ehedem gut zehn Millionen Brutpaaren auf weniger als die Hälfte gesunken. "Völkermord" wäre die Bezeichnung, hätte man unsere Artgenossen dermaßen reduziert.

Das zweite Beispiel betrifft Insekten. Auch bei ihnen liegen die Arten unserer Roten Listen im Schnitt bei mehr als 50 Prozent. Die Älteren unter uns können das leicht nachvollziehen: Wer in den 1950er-Jahren Auto fuhr, musste trotz des damals geringen Tempos oft mehrmals die Windschutzscheibe putzen, weil Myriaden toter Insekten die Sicht behinderten. Heute hingegen haben wir fast freie Fahrt - die meisten Insekten sind inzwischen verschwunden.

Dennoch hört man immer wieder ein Biodiversitäts-Paradoxon, dessen sich besonders Politiker gelegentlich irreführend und zynisch bedienen und auf das man nicht hereinfallen sollte. Es lautet: Obwohl Pflanzen- und Tierbestände auch bei uns laufend schrumpfen, werden Artenlisten für große Gebiete wie ganz Deutschland dennoch länger. Wie das? Ganz einfach: Sterben von einer Art zwar die allermeisten Individuen aus, aber nicht alle, verbleibt die Art in der Bundesliste - auch wenn sie aus vielen Regionallisten verschwindet.

Siedeln sich etwa in Köln oder Stuttgart ausgebüxte Papageien an oder in Mecklenburg entlaufene Nandus, verlängern diese Neozoen unsere Listen, auch wenn sie als "Farbtupfer" nur einen Bruchteil der bei uns seit dem Jahr 1800 schätzungsweise rund 75 Millionen verloren gegangenen Vogelindividuen ersetzen. Also Vorsicht, wenn Listen zwar länger werden, die Lebensräume der sie füllenden Arten aber leerer.

Wenn man sieht, wie dilettantisch bis hilflos versucht wird, das Artensterben aufzuhalten - gerade auch bei uns als einem Land mit langer Naturschutz-Kultur -, könnte man meinen, es sei plötzlich wie eine Seuche über Unvorbereitete hereingebrochen. Weit gefehlt! Die Ornithologen mit ihrer am besten untersuchten Artengruppe haben schon vor 150 Jahren davor gewarnt. Beleuchtung der Klage: über Verminderung der Vögel in der Mitte von Deutschland lautet etwa der Titel einer 1849 veröffentlichten Arbeit von Johann Friedrich Naumann, dem Begründer der Vogelkunde in Mitteleuropa.

Naumanns Arbeit machte deutlich: Der Gipfel der Vogelbestände, die sich in der an Lebensräumen und Nahrung reichen Mosaik-Kulturlandschaft des Mittelalters prächtig entwickeln konnten, war überschritten. Die immer intensivere Landnutzung bewirkte, dass Tiere und Pflanzen zurückgedrängt wurden. Eigentlich folgerichtig traf man im Jahr 1888 die erste Maßnahme und erließ das "Reichsgesetz zum Schutze von Vögeln". Gleichzeitig kam der Begriff "Naturschutz" auf. Aber für den eigentlichen Zweck - Vogelbestände nachhaltig zu stabilisieren - blieb dieses Gesetz wirkungslos.

Und das ist symptomatisch für die schier endlose Kette nachfolgender Maßnahmen, von denen hier nur ein Bruchteil genannt werden soll: Gründung privater Naturschutzverbände (ab 1899); Einrichtung einer Vogelwarte (Rossitten) mit Vogelschutzprogrammen (1901); Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege (1906); Reichsnaturschutzgesetz mit Ausweisung von Naturschutzgebieten (1935); Bundesnaturschutzgesetz (1976); EU-Vogelschutzrichtlinie (1979); EU-Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-Richtlinie, 1992).

Mit den Verordnungen kam es zu fieberhaften Aktivitäten, die allein in Deutschland zur Einrichtung von 21.402 Schutzgebieten in 13 verschiedenen, sich teils mehrfach überlappenden Kategorien führte. Dieses gigantische Maßnahmenbündel entpuppt sich letztendlich ebenfalls als Papiertiger: Lebensraumzerstörung und Artenschwund halten nach wie vor an, die Roten Listen werden immer noch länger - wenn nicht gerade geschönt wird, etwa durch Änderung der Bewertungskriterien! Und Analysen zeigen, dass trotz der vielen Schutzgebiete nur wenige Prozent der Landesfläche den angedachten Schutzzweck wirklich erfüllen.

Die Ursachen des Artensterbens sind gut erforscht: menschliche Überbevölkerung und in deren Folge Lebensraumvernichtung durch immer intensivere Landwirtschaft, verbunden mit Zersiedelung und Verunruhigung von Naturräumen sowie Übernutzung von Ressourcen. Dennoch betreiben wir kaum präventiven Artenschutz. Vielmehr herrscht das Feuerwehrprinzip vor: Schadensbegrenzung durch Löschen, wenn's bereits brennt. Und abwarten, wenn's nicht brennt.

Eine neue Dimension grotesken Naturschutzes eröffnete sich 1992. Im Hinblick auf das "Internationale Jahr der Biodiversität 2010" setzte die UNO im Rahmen der Konvention über den Erhalt der biologischen Vielfalt das Ziel, den Verlust der Arten deutlich zu senken - was keineswegs gelang. Für Deutschland wurde dabei ein Nachhaltigkeitsindikator für Artenvielfalt entwickelt, dessen Wert bis 2015 auf den von 1975 angehoben werden soll. Er lag 2007 bestenfalls stagnierend bei 69 Prozent des Zielwerts. In den acht verbleibenden Jahren eine Verbesserung von 31 Prozent erreichen zu wollen, ist mit den derzeit praktizierten Maßnahmen etwa so aussichtsreich, wie bis dahin die Rückseite des Mondes zu beleuchten - utopisch und erschreckend naiv.

Eines hat der Artenrückgang bei uns immerhin bewirkt: Die Vorgaben der EU sind deutlich härter geworden. Als die Bundesrepublik die oben genannte FFH-Richtlinie nicht zügig umsetzte, wurden ihr im Jahr 1998 pro Tag 1,5 Millionen Mark Bußgeld angedroht. Daraufhin erfolgte eine Nachbesserung, die Androhung ist heute vom Tisch. Geblieben aber ist vor allem bei Genehmigungen erteilenden Behörden die Angst vor Strafen bei Verstößen gegen die inzwischen strengen Artenschutzauflagen. Und die Naturschutzverbände haben erstmals Werkzeuge in der Hand, mit denen sie erfolgreich arbeiten können: verzögern, genau nachprüfen, Schutzmaßnahmen durchboxen, notfalls Projekte zu Fall bringen. Politiker andererseits versuchen nach wie vor, Projekte möglichst durchzupeitschen, bevor "gefährliche" Arten entdeckt werden. Aus diesem Artenschutz-Hickhack resultiert der kürzlich im Wirtschaftsteil der FAZ erschienene Artikel mit dem Aufschrei "Millionen für Molche - der Artenschutz wird absurd". Dass Naturschützer bei diesen Machtkämpfen, bislang immer mit dem Rücken zur Wand, auch Arten ins Feld führen, bei denen Maßnahmen teils sinnlos oder unsinnig teuer sind, kann man verstehen. Dagegen würde nur ein verlässliches Arten- und Naturschutzkonzept helfen - doch darauf warten wir auch in Deutschland seit 150 Jahren vergeblich.

Da auf der Erde inzwischen mehr als sechs Milliarden Menschen leben, wir weder die Bevölkerungsexplosion stoppen noch die Ernährung der Menschenmassen befriedigend sichern konnten und somit auf jede Ressource angewiesen sind, müssen wir natürlich ganz ernsthaft fragen: Wie viel Artenvielfalt brauchen wir überhaupt? Sind neben Nutzpflanzen und -tieren weitere Arten notwendig oder sind sie nur Mitesser, Konkurrenten und somit sogar Schädlinge?

Viele Agrar-Technokraten steuern offenbar immer mehr ganz einfache, reduzierte Ökosysteme an - im Osten etwa Mensch-Reis-Geflügel-Süßwasserfische, dazu etwas Gemüse und Früchte; bei uns Mensch-Weizen-Mais-Schwein-Rind und einige Zusatz- und Luxusprodukte. Inzwischen wissen wir: Solche Minisysteme lassen sich auf Dauer nicht stabil halten. Geflügelpest (Vogelgrippe), ein gegenüber Pestiziden resistenter Maiswurzelbohrer oder eine Art Getreide-Aids könnten ein Glied der kurzen Kette herausbrechen und damit schlagartig Millionen Menschen dahinraffen. Dabei sollten wir aus der Geschichte lernen: Als ab 1845 ein Pilz lebenswichtige Kartoffelsorten vernichtete, starben in Irland eine Million Menschen an Hunger. Weiter wissen wir: Ökosysteme sind umso stabiler, je arten- (oder auch sorten-)reicher sie sind. Allein daher sollten wir möglichst viele Arten erhalten. Dazu kommen noch weitere Gründe. So nutzen wir bisher nur einen Bruchteil der oben genannten zehn Millionen Arten. Aber schon dabei erweisen sich für fast jeden Fortschritt bestimmte Arten als Schrittmacher. Praktisch jede Art könnte also irgendwann eine Schlüsselrolle für wesentliche Bereiche unseres Lebens spielen. Daher sollten wir vorsorglich so viele Arten erhalten wie möglich.

Je stärker sich unsere Umwelt verändert, desto mehr müssen sich auch darin lebende Arten laufend anpassen - durch Selektion und Mikroevolution. Voraussetzung dafür ist eine ausreichende genetische Vielfalt, die große stabile Populationen kennzeichnet. Wieder ein Grund, nicht nur Arten, sondern auch große Populationen mit hohem Evolutionspotenzial zu sichern. Eine Folge genetischer Verarmung (durch Züchtung) ist wahrscheinlich das derzeitige weltweite Bienensterben.

Große Fortschritte verspricht die Gentechnik für viele Lebensbereiche, von der Ernährung, Krankheits- und Schädlingsbekämpfung bis zur Lebensverlängerung. Dabei wird es mehr und mehr darauf ankommen, die richtigen Gene und Genkombinationen zu finden. Quellen dafür sind die vielen verschiedenen Arten - jede ein Erfolgsmodell der Evolution. Ein wichtiges Ziel wäre es also, möglichst ihren gesamten Genpool zu erhalten.

Schließlich sei noch ein ästhetischer und ethischer Aspekt betont. Viele Menschen tun sich schwer, ohne schöne Wildarten zu leben oder an deren Ausrottung Mitschuld zu tragen. (Wenn man jedoch sieht, wie Millionen Menschen, etwa in China, in verödeten Ökosystemen zufrieden leben, verliert dieses Argument leider an Gewicht.)

Nachdem die Fülle von Maßnahmen der vergangenen gut 100 Jahre den Artenrückgang in unserem Land sicher mancherorts verlangsamt, aber nicht gestoppt hat, haben meine Mitarbeiter und ich 1988 ein neues, nachhaltig wirkendes Naturschutzkonzept gefordert und auch formuliert: eine Renaturierung von zehn bis 15 Prozent der Landesfläche, die wir uns leisten können, mit wiederhergestellten "Wohnzimmern" für Pflanzen und Tiere, eingerichtet in jeder politischen Gemeinde. Auf diese Weise entstünde ein dichtes Netzwerk hochwertiger Lebensräume, die alle Arten durch natürliche Verbreitung erreichen könnten.

Mit meiner Emeritierung wurde es von 2004 an möglich, ein derartiges Renaturierungsprojekt mit Unterstützung der Heinz Sielmann Stiftung als "Biotopverbund Bodensee" in einem Großversuch mit mehr als 100 Bausteinen auf reichlich 500 Quadratkilometern zu starten. Inzwischen sind mit 3,5 Millionen Euro die ersten elf Vorhaben fertiggestellt und die nächsten 15 in Bearbeitung. Im Vordergrund stehen Feuchtgebiete, die - in die ausgeräumte Kulturlandschaft platziert - die größte Artenvielfalt produzieren.

Die Ergebnisse sind verblüffend - und positiv. Der Pionierbaustein, der "Heinz-Sielmann-Weiher" mit angrenzendem Feuchtbiotop-Mosaik (rund zehn Hektar), wurde in einem Tal mit intensiver Landwirtschaft angelegt, in dem die Vogelbestände seit drei Jahrzehnten registriert wurden und ähnlich zurückgingen wie eingangs für Möggingen dargestellt. Nach Einrichtung des Feuchtgebiets stieg innerhalb von nur fünf Jahren die Zahl der beobachteten Vogelarten von früher 115 auf 165, also um 43 Prozent; zehn Arten siedelten sich als neue Brutvögel an. Von 75 in Deutschland lebenden Libellenarten wanderten 33 ein, 215 Blütenpflanzenarten entwickeln üppige Bestände und beherbergen Myriaden von Insekten; fünf Amphibienarten setzen im Frühjahr mehrere Zentner Laich ab.

Die wichtigste Erkenntnis: Unser Land ist in Bezug auf Artenvielfalt noch hochgradig regenerationsfähig! Und überrascht hat uns die geradezu euphorische Akzeptanz in der Bevölkerung, werden doch mehr Gebiete angeboten, als wir renaturieren können. Außerdem wurde das Projekt durch Spenden großartig unterstützt.

Unser Vorschlag lautet daher: Jede Gemeinde in Deutschland soll ihren Weiher oder ihr Biotop durch Renaturierung bekommen. Alle zehn Kilometer ein neues Feuchtbiotop würde für unser Land rund 3000 Bausteine à 350.000 Euro bedeuten. Dieser ganze neue Biotopverbund käme auf lediglich eine Milliarde Euro, umgerechnet etwa 65.000 Euro pro Gemeinde. Das erscheint als durchaus machbar.

In einem zweiten Schritt legten dann Expertengruppen mit den Ortsverwaltungen fest, was genau in jeder Gemeinde renaturiert würde. Die erforderlichen Mittel könnten über Stiftungen aus Privatvermögen eingeworben werden. Die rund zwei Billionen vererbbarer Euro auf Konten wohlhabender Deutscher sind dafür eine ausreichende Quelle; sie wird sprudeln, wenn sich erste Erfolge zeigen. Und einem derart guten Vorbild würden auch andere Länder folgen.

Daneben wäre eine mäßige Ökologisierung der gesamten Landwirtschaftsfläche erforderlich, insbesondere die Erhöhung der Arten- und Sortenvielfalt von Nutzpflanzen sowie die Duldung von etwa fünf Prozent Wildkräutern. Und ein Ende der Vernichtung möglichst aller "Ungräser" und "Unkräuter", wie die Unworte der Pflanzen-"Schutz"-Dienste lauten. Dann gäbe es auch wieder Insekten, Vögel, Fledermäuse - und Freude beim Wandern durch Feldfluren.


Peter Berthold, Jahrgang 1939, studierte Biologie, Chemie und Geografie. Im Jahr 1972 habilitierte er sich an der Universität Konstanz. 1998 wurde er als Direktor an das Max-Planck-Institut für Ornithologie berufen und war bis zu seiner Emeritierung 2004 Leiter der Vogelwarte Radolfzell. Im Jahr 2005 wurde er in den Stiftungsrat der Heinz Sielmann Stiftung aufgenommen. Berthold engagiert sich für den Naturschutz und zählt zu den führenden Wissenschaftlern der Vogelzugforschung.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 4/2010, Seite 12-17
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2011