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ATOM/1218: Endlager-Kommission - Hohe individuelle Strahlendosen werden zugelassen, Kollektivdosen ausgeblendet (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
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Nr. 706-707 / 30. Jahrgang, 2. Juni 2016 - ISSN 0931-4288

Endlager-Kommission
Hohe individuelle Strahlendosen werden zugelassen und Kollektivdosen ausgeblendet

Von Werner Neumann[1]


Forderungen und Kommentar zur Frage der erforderlichen Sicherheit eines Lagers für hoch radioaktive und Wärme entwickelnde Atomabfälle


Die in der sogenannten Endlager-Kommission des Deutschen Bundestages bisher entwickelte Konzeption (Entwurf des Berichts Kapitel 6.5.1.- erste Lesung 24.3.2016)[2] setzt wesentlich auf dem Konzept des Bundesumweltministeriums (BMU) zu den "Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle" an. (BMU 30.10.2010; Kommissions-Material K-MAT 10).[3] Demnach wird einerseits ein hoher Schutzstandard eingefordert. Dieser wird jedoch über ein "schrittweises" Konzept operationalisiert. Kernpunkt ist dabei die Anforderung (also das Kriterium zur Prüfung von Lagerstandorten), dass "für wahrscheinliche Entwicklungen durch Freisetzung von Radionukliden (...) für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine zusätzliche jährliche effektive Dosis im Bereich von 10 µSv im Jahr auftreten kann". Für "weniger wahrscheinliche Entwicklungen" soll eine maximale Dosis von 100 Mikrosievert (µSv) im Jahr nicht überschritten werden.

Dieses Konzept folgt bezeichnenderweise dem Konzept der Freigabe umfangreicher Mengen radioaktiver Stoffe aus dem Abriss von Atomanlagen. Dieses Konzept lehnt der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) ab. Es beruht auf willkürlicher Festlegung von absoluten Risiken für die Bevölkerung durch die Internatiale Atomenergieagentur (IAEA). Es setzt eine unbegrenzte Zahl von Menschen einem Strahlenrisiko aus, vor dem sie sich nicht schützen können, da im Falle der Freigabe die radioaktiven Stoffe nicht als radioaktiv gekennzeichnet sind und ihr Verbleib nicht verfolgt wird.

Im Fall einer Lagerung hoch radioaktiver Abfälle ist davon auszugehen, dass es - wie es Wahrscheinlichkeiten von Störfällen oder Bruch von Barrieren mit sich bringen - eine Prüfung und Kontrolle nicht geben kann und eine mögliche Dosis weder vorhersehbar ist noch Betroffene sich dagegen schützen können. Umso mehr muss ein hoher Schutzstandard gesetzt werden. Dieser kann aber nicht aus einer zu akzeptierenden Strahlenbelastung, sondern muss aus den aus heutiger Sicht machbaren Rückhaltebarrieren (Behälter, weitere Ummantelungen, umschließende Gesteinsformation(en)) abgeleitet werden. Nur in diesem Sinne eines "best möglichen" Standortes kann Sicherheit definiert werden.

Als Bezugsbasis setzte das BMU 2010 die "natürliche" Strahlenbelastung, von der ausgehend eine zu akzeptierende Strahlenbelastung von 10 µSv pro Jahr als Bezugspunkt und Nachweis für die Genehmigung einer Lagerstätte definiert wird. Der Bezug auf eine ohnehin vorhandene Strahlenbelastung oder eine als "de minimis" titulierte zusätzliche Strahlendosis verkennt jedoch die Maxime des Strahlenschutzes, dass jede zusätzliche Strahlendosis vermieden werden sollte und eine Bezugnahme auf ein ohnehin vorhandenes Risiko durch natürliche Strahlenbelastung kein Kriterium ist, um zusätzliche Belastungen zu beurteilen und zu rechtfertigen. Das Konzept des BMU umgeht durch diese zu akzeptierende Schwellendosis die Pflicht zur Minimierung. Der alleinige Bezug auf eine zusätzlich zulässige Strahlenbelastung umgeht allerdings die Festlegung eines politisch, wissenschaftlich und vor allem gesellschaftlich zu definierenden zusätzlichen Risikos.

Die Strahlendosis von 10 µSv pro Jahr wird beim BMU als ein Wert beschrieben, der die aus der natürlichen Strahlenbelastung resultierenden Risiken nur "sehr wenig" erhöhen würde (Punkt 4.2). Allerdings kann dies kein Bezugspunkt sein, sondern im Grunde genommen nur ein zusätzliches Risiko als solches. Die Existenz natürlicher Strahlenbelastungen kann keine Legitimation für Grenzwerte für von Menschen gemachter und von Menschen beeinflussbarer Strahlenbelastung sein.

Umso mehr ist zu beachten, dass die Grenze von 10 µSv pro Jahr in Zeiten entwickelt wurde, als das Strahlenrisiko für Krebs noch bei 0,01 pro Sievert angenommen wurde. Inzwischen wurde der Risikofaktor durch die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) auf 0,05 pro Sievert erhöht. Neuere Studien (Osaza et al.[4], Schmitz-Feuerhake (IPPNW)) sowie das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung der Atomstrahlung (UNSCEAR) gehen von Risikofaktoren von 0,1-0,2 pro Sv aus. Demnach müsste allein innerhalb des Paradigmas von IAEA, ICRP und BMU der "Dosis-Grenzwert" von 10 auf 1 bis 2 µSv pro Jahr gesenkt werden, um bei inzwischen höheren Risikokoeffizienten das gleiche ursprünglich angesetzte Krebs-Todesrisiko einhalten zu können. Entsprechend bedeutet dies, dass bisher für die Beurteilung technischer und geologischer Barrieren deren Rückhaltefaktoren mindestens um den Faktor 10 erhöht werden müssen. Weitere Gesundheitsgefahren sind zudem einzubeziehen, wie sie sich aus den Erfahrungen von Tschernobyl und Fukushima ergeben.

Der Ansatz eines Strahlenschutzkonzeptes mit 10 µSv pro Jahr umgeht nicht nur eine explizite fachliche und politische Erörterung von Risiken. Durch den Bezug auf eine fiktive Person, die eine maximale Dosis erhalten kann, bleibt völlig unklar, ob 10 oder 10 Millionen andere Menschen diese Dosis (oder weniger als 90 Prozent davon) ebenfalls erhalten können. Bei Entwicklung des 10 µSv pro Jahr-Konzeptes war ursprünglich immer auch eine Diskussion über den notwendigen Ansatz einer maximalen Kollektivdosis gegeben. Diese weitere notwendige Begrenzung - wenn man dieses Konzept schon verfolgt - hat man aber mittlerweile wegfallen lassen.

Das 10 µSv-Konzept beruht darauf, eine bestimmte maximale Strahlenbelastung für eine fiktive Person für zulässig zu erklären. Damit geht einher, dass sämtliche Strahlenbelastung beliebig vieler Menschen unterhalb von 10 µSv/Jahr, sei es durch Freisetzungen aus dem Atommülllager oder durch aktuell geplante Freigaben aus dem Abriss von Atomanlagen für nicht gesundheitlich wirksam deklariert werden. Faktisch ist hier eine fachlich nicht begründete und in der Fachwelt auch nicht akzeptierte Schwellendosis eingeführt worden. Mit dem 10 µSv-Konzept umgeht man die Beurteilung von Gesamtbelastungen und die damit einhergehenden Gesundheits-und Todesrisiken, da Strahlendosen unterhalb dieser Schwelle als nicht gefährlich deklariert werden, ebenso wie messbar radioaktive Stoffe bei der Freigabe nicht als radioaktiv gekennzeichnet werden. Nun soll also auch ein Großteil der aus dem Atommülllager resultierenden Strahlenbelastung als nicht existent oder als hinnehmbar eingestuft, und dieses Konzept als Grundlage der Sicherheitskriterien verwendet werden.

Beim BMU-Konzept von 2010 wird zwar noch eine maximale Strahlendosis für die Bevölkerung von 0,1 Personen-Millisievert als Kollektivdosis angesetzt. Hierzu soll jedoch (gemäß Punkt 7.2.2 des BMU-Konzeptes) keine Modellierung der Ausbreitung von freigesetzten radioaktiven Stoffen erfolgen. Stattdessen soll ein Expositionsmodell angesetzt werden, bei dem unterstellt wird, dass 10 Personen die gesamte Freisetzung aus dem Atommülllager lebenslang über einen Brunnen aufnehmen. Das BMU sagt, eine Modellierung der Ausbreitung im Gestein könne entfallen, wenn unterstellt werde, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Umgekehrt kann aber die Einhaltung der Kollektivgrenzwerte nur durch eine Modellierung einerseits der Freisetzungen und Verteilungen von Radioaktivität aus dem Atommülllager und andererseits aus den möglichen Expositionen der Bevölkerung erfolgen. Damit werden letztlich schärfere und genauere Vorgaben an die Rückhaltung durch Behälter und Gebirge umgangen. Das sieht nach einem Zirkelschluss aus, weil einfach unterstellt wird, dass nur so viel freigesetzt wird, dass der gesetzte Grenzwert eingehalten wird.

Das Konzept des BMU aus dem Jahr 2010 differenziert die maximale Strahlendosis nach Wahrscheinlichkeiten von Einwirkungen. Diese Begrifflichkeit ist jedoch in keiner Weise belastbar, da nicht angegeben ist, durch welche Faktoren sich welche Wahrscheinlichkeiten von Freisetzungen und Einwirkungen ergeben. So geht das BMU-Konzept von 2010 davon aus, dass "für Entwicklungen mit geringeren Wahrscheinlichkeiten" höhere Strahlendosen zu akzeptieren seien. Es fehlt jedoch an jeglicher Beschreibung, welche Entwicklungen mit welchen Wahrscheinlichkeiten angesetzt werden. Umso mehr ist dies nur eine verbale, fachlich nicht belastbare Beschreibung, als für die Kollektivdosis explizit keine Modellierung der Ausbreitung von radioaktiven Stoffen unterstellt wird. Daher können auch keine Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden, die zur Abstufung (um den Faktor 10) von zu akzeptierenden Strahlendosen verwendet werden. Dies zeigt, dass das Konzept in keiner Weise belastbar ist, um Sicherheitsanforderungen aufzustellen, geschweige diese in Modellen oder der Realität prüfen zu können.

Es ist klar, dass eine höhere Einschätzung des Strahlenrisikos um mindestens den Faktor 10 eine völlig neue Bewertung des Lagerkonzeptes, des Behälterkonzeptes und des Konzeptes des "einschlusswirksamen Gebirgsbereichs" nach sich ziehen muss und sich deutlich schärfere Rückhalteund Einschlusskriterien in jeglichem Wirtsbereich ergeben.

Das Ergebnis der Vorgehensweise dieser Leitlinien ist, dass einerseits zu hohe Strahlendosen individuell zugelassen werden und dass zudem eine Kollektivdosis weder modelliert noch künftig kontrolliert werden kann. Die Leitlinien des BMU von 2010 für Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle können daher keine Grundlage für eine Empfehlung der Kommission sein.

Die Fragestellung wurde auch weitergehend im Rahmen des Projektes ENTRIA des Bundeswirtschaftsministeriums behandelt. Dort haben Hocke und Röhlig[5] gezeigt, dass es (früher) auch einen anderen Ansatz der Sicherheits- und Strahlenschutzerwägungen beim BMU gab. In diesem Fall wurden Risikowahrscheinlichkeiten angesetzt und die maximale Strahlendosis über Risikokoeffizienten berechnet, als sogenanntes bedingtes Risiko. Die Autoren weisen darauf hin, dass eine Veränderung hin zu einer Etablierung eines Konzeptes mit einem "einschlusswirksamen Bereich" und einem alleinigen Dosisgrenzwert nicht wissenschaftlich begründet wurde. Wesentlich ist bei den nun gültigen Sicherheitsanforderungen des BMU 2010, dass die Fragestellung, die auch in der Öffentlichkeit eine Rolle spielte, dass man bei ersterem Konzept sofort ausrechnete, wie viele Tote denn zu befürchten wären, beim zweiten Konzept außen vor blieb und für die Öffentlichkeit nicht transparent gemacht wurde.

Es bleibt also die wesentlichste Frage bei der Erstellung von Kriterien durch die Kommission noch offen, welche zu akzeptierenden Risiken bei der "Endlagerung" von Atommüll angesetzt werden, welche - nunmehr deutlich höheren - Risikofaktoren angesetzt werden und von welcher Modellierung ausgegangen wird und wie eine auf Modellen, Annahmen und Wahrscheinlichkeiten basierende Bewertung schließlich im Rahmen eines Suchverfahrens erörtert und kommuniziert werden kann.

Es ist zu bedauern, dass damit eine der grundlegendsten Fragen der Beurteilung von Risiken durch Freisetzung von Radioaktivität aus dem Atommüllendlager wenige Wochen vor Ende der zweijährigen (!) Arbeit der Kommission noch weitgehend offen und ungeklärt ist. Die Kommission zum Standortauswahlgesetz ist damit ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden, Kriterien für die Beurteilung der Sicherheit und des Strahlenschutzes der Bevölkerung zu erstellen, da die Beurteilung des Strahlenschutzes weitgehend ausgeblendet wurde.


[1] Dr. Werner Neumann, Mitglied in der BUND Atom- und Strahlenschutzkommission (BASK) und im Arbeitskreis Atom- und Strahlenschutz des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND)

[2] Bericht der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe, Entwurf, Kapitel 6.5.1,
http://www.bundestag.de/blob/422324/452f77e60887fa4b0275d94 07437e801/drs_202c-data.pdf

[3] BMU: Sicherheitsanforderungen an die Endlagerung wärmeentwickelnder radioaktiver Abfälle (Stand 30. Sept. 2010), Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe, K-MAT 10 v. 18. Sept. 2014,
http://www.bundestag.de/blob/329904/91e0daa80e9a895923c6f250f1071dca/kmat_10-data.pdf

[4] Ozasa, K., Shimizu, Y., Suyama, A. et al.: Studies of the mortality of atomic bomb survivors, Report 14, 1950-2003: an overview of cancer and noncancer diseases. Radiat Res. 177 (2012) 229-43

[5] Peter Hocke, Klaus-Jürgen Röhlig: Challenges of Communicating Safety Case Results to Different Audiences, Paper for the OECD Symposium, Safety Case for Deep Geological Disposal of Radioactive Waste 2013: State of the Art, Paris Okt. 2013,
https://www.entria.de/uploads/tx_tkpublikationen/Hocke_and_Roehlig_2013_Challenges_of_Communication_Paris_Oct13.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_706-707_S04-06.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Juni 2016, Seite 4 - 6
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2016

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