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TIERVERSUCH/698: Chefsache Masterplan (tierrechte)


tierrechte 3.16 - Nr. 76, August 2016
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Chefsache Masterplan

von Dr. Christiane Baumgartl-Simons


Untersuchungen, die ohne den Einsatz von lebenden Tieren, ihren Organen oder Zellen erfolgen, haben das Potenzial, Tierversuche zu verdrängen. Denn diese tierleidfreien Verfahren sind in der Lage Fragestellungen für den Menschen besser zu beantworten als das Tier*. Und sie haben noch einen ganz entscheidenden Vorteil: Sie sind ethisch sauber. Doch ohne einen umfassenden Masterplan kann dieser überfällige Systemwechsel nicht gelingen.


In den letzten Jahrzehnten wurden einerseits grandiose neue Verfahren entwickelt wie die Human-on-a-Chip-Technologie, mit der man zukünftig Giftigkeitstests ohne Tierversuche durchführen kann und mehr. Andererseits ist es noch immer nicht gelungen, den Augenreiztest am Kaninchen (Draize-Test) komplett abzuschaffen. Doch was muss passieren, damit tierversuchsfreie Verfahren schnellstmöglich entwickelt und angewendet werden? Wo genau befinden wir uns heute auf dem Weg zum Ziel - dem Ende der Tierversuche? Eine Standortbestimmung und das Erreichen des Ziels sind nur mit Hilfe eines Masterplans möglich. Der aber fehlt bis heute.


* Beispiel für humanspezifische Testergebnisse durch tierleidfreie Verfahren

Derzeit wird die Reizwirkung von Substanzen durch eine integrierte Teststrategie an Augenhornhäuten von geschlachteten Rindern, Kaninchen oder Schweinen in-vitro ermittelt. Früher fanden die Tests im Tierversuch (Draize-Test) am Auge lebender Kaninchen statt. Neue Forschungen zeigen: Biotechnologisch hergestellte humane Cornea (Hornhaut des Auges) liefert humanspezifische Ergebnisse. Die Testergebnisse entsprechen der in-vivo-Situation des Menschen besser als Testergebnisse an Augenhornhäuten von Rindern, Kaninchen oder Schweinen.

Die Ursache dafür ist: Augenhornhäute von Mensch und Tier reagieren auf Fremdstoffe unterschiedlich. Die Reaktionsunterschiede beruhen auf verschiedenen Enzymen und Transportmolekülen. Forscher empfehlen, die Ergebnisse aus den derzeit gängigen Tests mit Augenhornhäuten vom Tier vorsichtiger zu interpretieren.

Diese Ergebnisse sind für die Chemikalien- und Arzneimittelprüfung von großer Bedeutung. Eine Forschergruppe erhielt Fördergelder für die Entwicklung und Prävalidierung eines humanen Corneamodells.


Fehlt: Strategie für eine tierleidfreie Wissenschaft

Ein Masterplan muss den sehr komplexen Weg aufzeichnen, der von der tierexperimentellen Forschung zur tierleidfreien Wissenschaft führt. Jeder Projektmanager weiß, dass ein solcher Plan ein absolutes Muss ist, denn er enthält inhaltliche und zeitliche Strukturen, damit der Systemwechsel gelingt. Fehlt er, ist das Scheitern des Projekts vorprogrammiert. Die Politik sieht sich bisher nicht in der Pflicht. Spätestens 2013 mit Anwendung des neuen EU-Tierversuchsrechts in Deutschland hätten die Regierungen von Bund und Ländern die Projektplanung gemeinsam mit Vertretern von Wissenschaft, Industrie, Behörden und Tierschutz erarbeiten müssen. Zwar berichten die Medien inzwischen gerne über Erfolge tierleidfreier Verfahren, sie thematisieren aber ebenso häufig die Unverzichtbarkeit der Tierversuche. Aus dem Dschungel dieser Meinungsäußerungen führt nur eine objektive Standortbestimmung, die den Fortschritt analysiert. Daran haben scheinbar nur wir Tierversuchsgegner ein Interesse. Doch wir erinnern die Politik an ihre Aufgabe: Zur Bundestagswahl 2017 sollen die Parteien ihre Strategie für eine tierleidfreie Wissenschaft vorstellen.


Tierversuchsfreie Methoden explizit fördern

Grundvoraussetzung für eine ergiebige Forschung sind exzellente Wissenschaftler - je mehr, desto besser. Natürlich spielt Geld hierbei eine maßgebliche Rolle. In Deutschland stehen jährlich circa 84 Milliarden Euro Forschungsgelder zur Verfügung - eine gigantische Summe. Doch welche Beträge sind für die tierleidfreie Methodenentwicklung vorhanden? Das wird nirgendwo erfasst. Ebenso wird nicht darüber berichtet, dass die Kosten für die Entwicklung bis zur Praxiseinführung einer einzigen tierleidfreien Methode im Millionenbereich liegen können (siehe Infokasten).


Infokasten: Was kostet die Entwicklung eines tierversuchsfreien Verfahrens?

Die Höhe der zur Verfügung stehenden Forschungsgelder ist eine Sache, die tatsächlichen Kosten von der Entwicklung bis zur Umsetzung eines neuen Verfahrens eine andere. Dies zu berechnen ist schwierig, denn eine solche Rechnung muss unter anderem wissenschaftliches Personal, Labormaterial, Geräte, Ringstudien und die Kosten für die Anerkennung und Aufnahme in die Prüfvorschriften wie beispielsweise das Arzneibuch umfassen. Wir haben dazu ein Beispiel aus der Praxis: Eine neue Testmethode brauchte 15 Jahre bis zur Akzeptanz und kostete insgesamt etwa 6 Millionen Euro. Das entspricht circa 400000 Euro pro Jahr. Die Hälfte davon wurde durch die Anwender bezahlt, die andere durch öffentliche Förderung (u. a. BMBF, EU, ZEBET, DFG).


Die speziellen Fördertöpfe für Tierversuchsalternativen (z. B. von BMBF, set, ZEBET) berücksichtigen die einzelnen 3R-Verfahren gleichermaßen. Das heißt, die Förderung macht keinen Unter schied zwischen systemverändernden (tierleidfreien) Methoden und systemerhaltenden Tierversuchen, die mit weniger Tieren und weniger Tierleid auskommen. Solche Programme sind Bremsklötze für die Systemveränderung. Ein Masterplan, der die tierversuchsfreie Forschung zum Ziel hat, muss Förderprogramme explizit für tierleidfreie Verfahren in angemessener Höhe ausweisen.


Forschungsschwerpunkte setzen

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als größter Forschungsmittelgeber sollte zwei richtungsweisende Maßnahmen ergreifen: Als erstes sollte sie einen eigenen Etat zur Förderung tierversuchsfreier Verfahren einrichten. Zweitens sollte sie besonders dringliche Forschungsbereiche festlegen, für die vorrangig tierversuchsfreie Verfahren entwickelt werden müssen. Mehrere US-Behörden (z. B. die Umweltbehörde EPA) verfolgen dieses Prinzip seit 2010 in ihrem gemeinsamen Programm Tox 21. Für diese sogenannte 'Top down' Strategie kann die DFG ihre vorhandene Infrastruktur nutzen und Schwerpunktprogramme, Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster für bestimmte Fragestellungen einführen, so wie sie dies für andere Forschungsbereiche bereits tut. Weitere Forschungsmittelgeber könnten nach dem gleichen Prinzip verfahren.


Erfolgskonzept: Lehrstühle für tierversuchsfreie Verfahren

Die Doerenkamp-Zbinden-Stiftung wurde vor annähernd 30 Jahren von Hildegard Doerenkamp und dem Schweizer Toxikologen Gerhard Zbinden mit dem Ziel gegründet, unnötige Tierversuche durch moderne, klinisch relevante Testsysteme zu ersetzen. Mittlerweile fördert die Stiftung sechs Lehrstühle in Konstanz, Genf, Utrecht, Baltimore, Maryland und im indischen Tiruchirappalli. Bereits 1988 hatte Marcel Leist - damals noch Doktorand - das Absterben von Zellen durch den programmierten Zelltods in der Petrischale untersucht. Inzwischen ist Leist selbst Professor und renommierter Forscher auf dem Gebiet der Entwicklung von in-vitro-Modellen für die neurodegenerative Forschung in Konstanz und wurde mehrfach ausgezeichnet. Neben Prof. Marcel Leist ist Prof. Thomas Hartung einer der bekanntesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Ersatzverfahren zum Tierversuch. Er leitet das Johns Hopkins-Center for Alternatives to Animal Testing (CAAT) an der Bloomberg School of Public Health in Baltimore und ist Leiter des Doerenkamp-Zbinden Chair for Evidence-based Toxicology. Unter seiner Leitung wurden bei der europäischen Validierungsbehörde ECVAM 34 neue Verfahren validiert. Derzeit arbeiten CAAT und die Doerenkamp-Zbinden-Stiftung zusammen mit anderen Lehrstühlen im 'Transatlantic Think Tank for Toxicology', um Tierversuche im Bereich der Giftigkeitsforschung zu reduzieren.


Praxisrelevanz muss besonders gefördert werden

Bisher erfolgen die Projektförderungen von unten nach oben ('Bottom-up'-Prinzip). Hierbei entscheidet ausschließlich die wissenschaftliche Qualität über die Vergabe von Fördermitteln, nicht aber zusätzlich, ob die Fragestellung eine hohe Praxisrelevanz hat. Das birgt die Gefahr, dass die Fördermittel verpuffen und der Ausstieg aus dem Tierversuch verschleppt wird. Der 'Top-down'-Ansatz hingegen ist eine zielgerichtete Steuerung der Innovationsanforderungen. Als es ernst wurde mit dem Tierversuchsverbot für Kosmetik in der EU, tierversuchsfreie Tests aber kaum vorhanden waren, hat die Kosmetikindustrie die 'Top-down'-Strategie erfolgreich eingesetzt. Damals wurden neue Gremien eingerichtet wie die europäische Partnerschaft der Kosmetikindustrie zur Entwicklung tierversuchsfreier Methoden (EPAA). Gemeinsam mit der EU-Kommission haben die Kosmetikfirmen Gelder zur Entwicklung der fehlenden Tests bereitgestellt. Diese Maßnahme im Sinne einer Top-down-Strategie hat Schwung in die Entwicklung gebracht, auch wenn bisher nicht alle fehlenden Tests entwickelt werden konnten.


Fazit und Ausblick

Am Masterplan führt kein Weg vorbei. Er allein ist die verbindliche Grundlage für die Verwirklichung des Ziels, Tierversuche zu beenden. Gut wird er dann, wenn alle beteiligten Gruppen, also Politik, Wissenschaft, Industrie und Tierschutz, an seiner Erstellung mitarbeiten. Spezielle Förderprogramme und die Neueinführung von Forschungsschwerpunkten zur Entwicklung tierversuchsfreier Methoden sind wesentliche Maßnahmen der Planung. Die Verwirklichung dieses Masterplans ist unser Thema Nr. 1 für den Bundestagswahlkampf. Fakt ist: Deutschland ist hinsichtlich seiner Aktivitäten zur Förderung der 3R-Verfahren in der EU führend. Die Resultate dieser Anstrengungen sind allerdings zu mager. So konnten zum Beispiel nur elf von 44 Projekten, die eine BMBF-Förderung für 3R-Verfahren erhalten haben, Methoden entwickeln, die auch in der Praxis genutzt werden. Bundesforschungsministerin Johanna Wanka ist der Meinung, dass die neuen Tests schneller den Weg in die Praxis finden sollen, um zur Reduktion der Tierversuche beizutragen. Das sehen wir auch so. Sehr geehrte Frau Bundesministerin, nehmen Sie den Masterplan in die Hand. Machen Sie ihn zur Chefsache!

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Quelle:
tierrechte 3.16 - Nr. 76/August 2016, S. 12-13
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
eMail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
tierrechte erscheint viermal jährlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2016

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